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Gestern

von Agota Kristof

Schiffbau/Box

Premiere am 7. Mai 2010


Sandor kehrt aus dem Krankenhaus zurück, wo er nach einem vermeintlichen Selbstmordversuch in Behandlung war. Er lebt im Exil, vor zehn Jahren war er aus einem armen, unfreien Land in ein reiches, freies Land geflüchtet. (Ortsnamen fallen auch in diesem Text von Agota Kristof nicht.) Sandor arbeitet in einer Uhrenfabrik am Fliessband und begreift sich, obwohl er noch nichts veröffentlicht hat, als Schriftsteller. Seine Samstage verbringt er mit Yolande, einer attraktiven Einheimischen, die in ihm ihren zukünftigen Ehemann sieht. Nach der Arbeit geht Sandor in die „Flüchtlingskneipe“ oder zieht sich in seine armselige Wohnung zurück. Seine sozialen Kontakte beschränken sich auf andere Ausländer aus seiner Heimat, Leute wie Jean, der seiner Familie Geld nach Hause schicken würde, wenn er denn Arbeit hätte.


Im Kopf lebt Sandor – der in seinem früheren Leben Tobias hiess – im Gestern. Seine grosse Liebe ist eine Abwesende, eine in der Heimat Zurückgebliebene: Sie heisst Line und hat Sandor zum letzten Mal vor fünfzehn Jahren gesehen, als sie ein junges Mädchen war und die beiden in der Klasse, die ihr Vater unterrichtete, gemeinsam die Schulbank drückten. Line und die mit ihrem Namen verknüpfte Vergangenheit wird zu Sandors Obsession.


„Gestern…“, so fangen die meisten von Sandors literarischen Versuchen an, es sind Anfänge wie „Gestern habe ich unerwartet und ohne Grund einen Augenblick des Glücks erlebt. … Es war das Glück aus einer sehr fernen Zeit, als das Kind und ich noch eins waren.“ Doch eben diese Vergangenheit ist bei näherer Betrachtung dunkler und abgründiger, als sich ahnen lässt. „Gestern“ ist ebenso Melodram wie Parabel über das Schreiben. Die Theaterfassung des tschechischen Regisseurs Dušan David Pařizek ist die Uraufführung dieses Stoffs.

„Der aus Brünn stammende, zwischen West und Ost pendelnde Regisseur Dusan David Parízek erzählt die Geschichte im Zürcher Schiffbau mit reduziertem, Witz und Tragik ausbalancierendem Realismus. Auf seiner Bühne, einer nüchternen Spielfläche samt Hintergrund aus Klebeparkett, setzt sich die Lakonik des Textes stimmig fort. Bewusste Lethargie und Gefühlsausbrüche der Schauspieler wechseln einander abrupt ab. Frank Seppelers Sándor gelingt das nicht minder überzeugend als der aus Heidiland entsprungenen Line von Julia Kreusch und Lilith Stangenberg in der Rolle der Yolande. Wie sie Sándors Zurückweisungen jeweils demütig mit einem gegicksten „gut“ beantwortet, rührt ans Herz, desgleichen ihr todtraurig vergeblicher Striptanz vor dem, der sie nie lieben und begehren wird. „Gestern war alles schöner“, lautet die erste Zeile eines Agota Kristofs Roman als Motto vorangestellten Gedichts. Parízek hat Schwieriges bewältigt: eine starke epische Vorlage in Theater zu verwandeln, das uns nahe geht, ohne das Original zu verraten.“ Die Welt


„Eigene Erfahrungen mit dem Fremdsein mögen den tschechischen Regisseur Dusan David Parízek bewogen haben, sich mit dieser Geschichte einer Lebenslüge, eines in die Vergangenheit projizierten Glücks auseinanderzusetzen. Mit Gewinn: zusammen mit fünf phantastischen jungen Menschendarstellern ist ihm der Balanceakt gelungen, das Pathetische der unfrohen Vorlage virtuos-banal zu umspielen und Agota Kristofs ohnehin doppelbödigem Text einen zusätzlichen doppelten Boden zu verleihen: in einer Mischung aus Erstarrung und künstlicher Lebendigkeit ist ein Kammerspiel zwischen verdämmernder Avantgarde und entgrätetem Schicksalsdrama entstanden.“ Deutschlandfunk


„Pařizek trifft den kargen Ton, wenn er die Geschichten von Sandor, seinem Kumpel Jean und der Wochenende-Freundin Yolande erzählt, in deren erdrückende Perspektivelosigkeit besagte Line tritt – allerdings samt Gatte Koloman und Baby. Dass der Regisseur dem verschlossenen Sandor Gesprächspartner – besser: Zuhörer – gegenüberstellt, ist der Theaterdramaturgie geschuldet; das In-sich-Gekehrte holt sich Seppeler aber zurück durch sein feines, zwischen aufflackernder Freude und endgültiger Abstumpfung sekundenschnell wechselndes Spiel. An den Wänden spielt sein Schatten mit, riesig, stumm und ausdrucksstark.“ NZZ


„Sean McDonagh Auftritte in der ersten Hälfte verleihen dem Spiel eine vitale Mischung aus unbezwingbarer Lebenslust und abgrundtiefer Traurigkeit,. Mit seinem Witz bringt er Wärme und Freundlichkeit auf die Bühne. Er ist der einzige, der die naive, aber treuherzige Yolande (Lilith Stangenberg) versteht. „Die Geschichte einer großen, unmöglichen Liebe“, wie Line im Unernst einmal spricht, wird richtig erst vom Schluss her verständlich. Sándor offenbart Line, dass sie Geschwister sind. Damit entsteht nochmals eine atmosphärische Verdichtung, in der die große Poesie dieses Stoffes spürbar wird.“ Nachtkritik.de


„Mit sparsamen Mitteln und sorgfältig ausbalancierter Dynamik – gestaute Gefühle entladen sich plötzlich, danach herrscht wieder Ruhe – bringt Pařizek das Buch auf die Bühne, bis dessen Deckel zusammenklappen.“ NZZ

Mit Lilith Stangenberg, Julia Kreusch, Aurel Manthei, Sean McDonagh, Frank Seppeler
Regie
Dušan David Pařízek
Bühne
Dušan David Pařízek
Kostüme
Kamila Polívková
Licht
Ginster Eheberg
Dramaturgie
Roland Koberg
Regieassistenz
Hannes Weiler
Bühnenbildassistenz
Nadia Schrader
Kostümassistenz
Agnes Raganowicz
Kostümhospitanz
Nicole Nolze
Soufflage
János Stefan Buchwardt
Inspizienz
Hansruedi Herrmann

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