«ICH EMPFINDE DEN GEDANKEN AN DEN ÜBERMENSCHEN ALS EINEN ZÄRTLICHEN GEDANKEN»
Regisseur SEBASTIAN HARTMANN im Gespräch mit dem Dramaturgen VICTOR SCHLOTHAUER über ALSO SPRACH ZARATHUSTRA. Ein Auszug aus dem Programmheft.

Zu Beginn der Proben haben wir herausgefunden, dass viele an dieser Inszenierung Beteiligte eine persönliche Vorgeschichte mit Friedrich Nietzsche haben und mit seinem Namen emotional intensive Erinnerungen verbinden, die gar nicht unbedingt an eine Lektüreerfahrung geknüpft sind. Erinnerst du dich an deine erste Begegnung mit diesem Philosophen?
Meine erste Begegnung mit Nietzsche war ein pädagogisch und liebevoll gemeinter Vorwurf meines Vaters, als ich fünfzehn oder sechzehn war und mich eher mit Sport und mit Mädchen beschäftigte, als mit Freunden zusammenzusitzen und mit glühenden Gehirnen Nietzsche zu diskutieren, wie er das im selben Alter wohl gemacht hatte – was ich bezweifle. Ich ging also heimlich zum Bücherschrank und griff bestimmte Werke heraus. In ALSO SPRACH ZARATHUSTRA habe ich einen Blick geworfen und rote Ohren gekriegt: Das war mir zu anstrengend. Als ob ich ein Bild sehe, das ich nicht verarbeiten kann. Später hatte ich zwei Kumpels, mit denen ich hier und da, während wir eine Orient-Zigarette rauchten, filterlos, das eine oder andere zitierte. Nietzsche ist uns eher als Wort begegnet, als dass wir intellektuell darin eingetaucht wären. Zu einer wirklichen Auseinandersetzung kam es erst später.
Der Vorwurf deines Vaters hat damit zu tun, dass Nietzsche eine berüchtigte Anziehungskraft auf junge Menschen ausübt, zumindest gilt das als Cliché.
Ich kann mir vorstellen, dass man von der Poesie betört ist, wenn man jung ist und ZARATHUSTRA liest, und dass sich einem viel darin auftut, wenn man Durchhaltevermögen hat. Ob es Nietzsches Philosophie ist, die sich erschliesst, würde ich hinterfragen, eher ist es das Unbegreifliche, was betört. Ich bin dankbar, ihn jetzt anders zu lesen, mit meinen sechsundfünfzig Jahren, wo ich ihn bereits um ein Jahr überlebt habe und weiss, wie es sich anfühlt, im Lebenssturm zu sein – so viele Erfahrungen gemacht zu haben, mit denen ich diesem Text gegenübertrete. Als ich jünger war, hat die Lektüre mich in meinen Grundfesten erschüttert, von denen ich zugeben muss, ich hätte gar nicht gewusst, dass sie da sind – definiere «Grundfeste», zumal als jemand, der zu meiner Zeit in Ostdeutschland sozialisiert wurde. Ich war zwanzig, als die Wende kam. Damals tobte alles, die Welt war mit einer grossen Wut belegt und die war prägend für meine Nietzsche-Lektüren. Wut, Ohnmacht und Einsamkeit. Inzwischen kann ich den ZARATHUSTRA als Manifest des Lebens lesen. Das gefällt mir besser als ein Herausposaunen und Schreien, ein Proklamieren: So muss es sein.
Man kann bestimmte Härten in diesem Werk wahrnehmen und Aggressionen, ein ständiges Kreisen um Macht oder das Bild des Einsamen, der sich über die Herde erhebt, oder die Idee des Übermenschen …
Ich empfinde den Gedanken an den Übermenschen als einen zärtlichen Gedanken. Grundsätzlich ist etwas in Nietzsche, das ich lese wie den erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys, wenn er von «Antikunst» spricht. Nietzsche ist ein Philosoph, der verneint, um zu bejahen. Sein Freiheitsbegriff geht durch Antifreiheit hindurch, weil selbst die Worte «Freiheit» oder «Unendlichkeit» von uns besetzt und determiniert sind. Zarathustra muss durch die Begriffe hindurchgehen wie durch Etappen der Verneinung: Er muss den Staat beschreiben, er muss den Markt beschreiben, er muss das Verhältnis von Männern und Frauen beschreiben, er beschreibt das ganze Universum, um sich von jedem Begriff auch wieder zu lösen, ihn zu zerstören, und nach und nach seinen Freiheitsbegriff aufzubauen. Ich weiss nicht, ob ich das als eine Härte empfinde, oder andersherum: Ich kann mir vorstellen, dass zu der Zeit, in der er lebte, der Staat und die Gesellschaft um ihn herum ungleich härter gewesen sind. Die Prüderie dieser Zeit, die unterentwickelte Psychologie: Niemand konnte in Beziehungen treten, die lustvoll waren, die erotisch waren, Freiheit war höchstens in der Literatur vorhanden. Da ist naheliegend, dass man unglaublich kompensieren muss, und eine Wut bekommt über die Umstände und Zustände, in denen man lebt. Ich spüre heute etwas Vergleichbares: Mich bewegt die Um- weltkatastrophe oder die unstillbare Kriegslust, die um uns herum entsteht, und ich merke, wie etwas in mir aufsteigt, wie ich über meine Ratlosigkeit hinaus etwas sagen möchte, das lauter ist als liberale Grundgedanken. Ich merke, dass ich anfange, mich wieder gegen etwas zu stellen, was ich lange Zeit nicht getan habe. Das spüre ich auch bei Nietzsche, der in ungleich repressiveren Zeiten lebte. Aber dass er im besten Sinne ein Ja-Sager war, ein vom Leben und für das Leben Begeisterter, atmet man ununterbrochen beim Lesen seiner Sprache. Im ZARATHUSTRA geht es um Lust, sich der Unendlichkeit zu stellen, sie als Menschen-Gedanken mitzuerleben und nicht als eine Pein. Es geht darum, dass ich nicht Nichts bin angesichts der Unendlichkeit, sondern, dass ich sie tragen kann, dass ich die Unendlichkeit mit mir ertragen kann, dass ich mit ihr schwanger gehen kann,
Mutter sein kann, Vater sein kann, Kind sein kann und mich in all diesen Rollen wiederfinden kann. Das zeigt er mir in seiner Sprache.
Nietzsche ist der unterentwickelten Psychologie seiner Zeit gewissermassen zum Opfer gefallen und wurde wahnsinnig. Das hat schon frühzeitig seine Rezeption beeinflusst, und die Verknüpfung von «Genie» und «Wahnsinn» hat sich als förderlich für seinen Ruhm erwiesen. Ist das ein Themenfeld, mit dem du etwas anfangen kannst?
Überhaupt nicht. Das sind Begriffe, die wir uns geschaffen haben, um bestimmte vermeintliche Zustände auf einen Namen zu bannen. Für mich gibt es da keine Verbindung. Ich halte grosse Stücke auf den menschlichen Geist und glaube, dass jede Individualität in sich das Vermögen hat, die Gedanken aufzunehmen, die Nietzsche formuliert hat. Jedes menschliche Wesen, dazu muss man kein Genie sein und kein Wahnsinniger, hat dazu die Veranlagung. Furchtbar ist, wenn Menschen nicht in ihre Schöpferkraft kommen, weil soziale Zwänge und sozialpsychologische Vorgänge sie derart einengen, dass sie ihre Potentiale der Liebe und Freiheit nicht realisieren können. So kann man Nietzsches Biografie sehr wohl lesen. Aber nein, «Genie und Wahnsinn» interessiert mich nicht.
Hat sich deine Nietzsche-Lektüre durch die Probenarbeit nochmal verändert?
Meine Herangehensweise wurde untersuchender, tastender. Ich habe versucht, wahrzunehmen, was «hinter» der Sprache ist oder über sie hinausgeht, um für die Bühne eine andere Sinnlichkeit zu finden. Das schönste Erlebnis war, zu Anfang der Proben diesen Text durch die Münder der Schauspieler*innen zu hören. Wenn der Sturm im Kopf sich gelegt hat, wenn man für sich zu einem Verständnis gelangt ist und die Texte dann durch jemand anderen wieder hört, das ist, wie in den Spiegel zu schauen und da ist kein Teufel mehr, sondern etwas Wunderbares, das dich anlächelt und sagt: Du kannst verstehen, wenn du willst. Du musst es nur nicht rein intellektuell verstehen.

Eine grosse Liebe Nietzsches war die Musik: Nietzsche hat selbst komponiert und über sein Werk DIE GEBURT DER TRAGÖDIE beispielsweise gesagt, er hätte dieses Werk lieber in Töne gesetzt als in Worte. Welche Rolle spielen Musik und Klang in deiner Arbeit?
Ein Musiker, mit dem ich zusammengearbeitet habe, sagte einmal, dass für ihn die Sprache Trägerin der Musik ist. Dass er mit Texten so arbeitet, dass nicht wichtig ist, welche Sprache gesprochen wird und ob sie verständlich ist: Das Wort gehorcht der Musik. Das beschreibt auch meine Art, im Theater mit Worten umzugehen. Zwar würde ich nicht sagen, ich ordne das Wort der Musik unter, ich hierarchisiere das nicht. Aber ich glaube daran, dass Sprache Trägerin einer Musik sein kann, einer Seelenmusik. Unser Geist ist in der Lage, sprachlich dem einen Ausdruck zu verleihen, was wir gerade empfinden. Dafür haben wir einen Reichtum an Grammatik, an Synonymen, Wortneuschöpfungen. Aber ob das tatsächlich die jeweilige Seelen-Ebene widerspiegeln kann? Ich habe dafür ein Gleichnis: Stell dir einen riesengrossen Meereshorizont vor, mit einem Sonnenaufgang oder -untergang, und auf dem Horizont liegt ein Streichholz. Das Streichholz ist die Sprache. Der Horizont ist das, was du empfindest. Hochbegabte Menschen, die mit Sprache virtuos umgehen können, haben vielleicht drei Streichhölzer statt einem. Und höchste sprachliche Virtuosität – wie bei Nietzsche – kann die Musik der Seele vielleicht anklingen lassen. Das liegt in Nietzsches Fall aber auch daran, dass er um die Unzulänglichkeit von Sprache weiss und sie anders verwendet, als wir es gewohnt sind. «Nietzsche hat alles gesagt und das Gegenteil von allem» hat der Nietzsche-Herausgeber Giorgio Colli gesagt, und ich begreife das nicht als Beliebigkeit, sondern empfinde es als programmatisch, dass es zu jedem Satz auch den gegenläufigen Satz gibt, zu jedem Wort, zu jeder Silbe, zu jedem Buchstaben. Die Unzulänglichkeit von Sprache sprachlich zu verarbeiten, Sprache als Grenze zu überwinden und ZU DIR zu sprechen, hat eine Nähe zur Musik. Damit versuche ich zu arbeiten. Mit Musik und Rhythmen so zu verfahren, dass wir nicht Botschafter*innen und Proklamateur*innen der Philosophie Friedrich Nietzsches werden, sondern uns selbst eigenmächtig in seinen Sprach-Raum hineinbegeben, unsere eigene theatrale Sprache entwickeln, unser eigenes Jenseits von Gut und Böse.
Wie und wann hast du angefangen, Live-Malerei in deinen Inszenierungen einzusetzen?
Als ich noch Schauspielintendant in Leipzig war, lernte ich dort den Bildenden Künstler Tilo Baumgärtel kennen, mit dem mich seitdem eine Freundschaft und Arbeitsbeziehung verbindet. Wir schätzen jeweils die Arbeit des anderen und haben erforscht, wie Bildende Kunst und Theater sich zusammenbringen lassen. Der Versuch, Bühnenbilder zu malen, war für ihn ein Drama: Als Bühnenbildner musst du ein Gefühl für den Rahmen haben. Das Spiel steht im Zentrum. Wenn du ins Zentrum der Bühne die Fantasie eines Bildes stellst, muss darum herumgespielt werden. Irgendwann fing Tilo an, mir animierte Bilder und Filme zu schicken, die ich auf die Bühne projizieren konnte – damit konnten wir arbeiten. Und als ich am Staatsschauspiel Dresden ERNIEDRIGTE UND BELEIDIGTE von Dostojewskij inszenierte, hatte ich den Traum, live auf der Bühne mit den Schauspieler*innen zu malen, ein Bild, das in mehreren Etappen entsteht. Das entsprach der Struktur des Romans, der als Fortsetzungsroman in der Zeitung erschienen ist und sich daher im Tonfall verändert. Wir stellten eine Leinwand auf die Bühne, die wir mit einem Videoprojektor so anstrahlten, dass Inhalte, die Tilo vorgezeichnet hatte, von den Schauspieler*innen mit Schablonen und einstudierten Maltechniken übertragen werden konnten. Die Entscheidung, bei ALSO SPRACH ZARATHUSTRA zu malen, wo wir eine andere Technik anwenden, hat mit der Sinnlichkeit zu tun, nach der wir suchen. Wie kann man mit Sprache musizieren, wie kann man sich ausdrücken, wenn Worte nicht ausreichen? Dem Intellektuellen, in sich Abgeschlossenen möchte ich etwas zur Seite stellen, das den Themen erlaubt, auszufransen, den Melodien, ineinanderzufliessen und symphonisch werden, solistisch zu werden, die unerschütterliche emotionale Wahrheit eines «Ich liebe dich» zu vermitteln, eines «Bist du gerade gestorben?», eines «Ich hasse dich» oder «Ich kann dich nicht mehr lieben». All das empfindet man sofort durch Musik, ohne, dass Informationen ausgetauscht werden müssen. Musik spricht anders. Malerei spricht anders. Deswegen spielen sie eine Rolle an diesem Abend.
Du arbeitest in einem eingespielten Team und mit einem Ensemble, in dem dir mehrere Schauspieler*innen aus anderen Arbeiten bereits vertraut sind. Welche Rolle spielt Kollektivität für dich, was suchst du in künstlerischer Zusammenarbeit?
An den Menschen, die mich seit Jahren begleiten, durfte ich meine Autonomie kennenlernen. Ich durfte kennenlernen, dass ich für mich frei denken darf und dann in einen Dialog treten, und ich habe an der Autonomie dieser Menschen kennengelernt, wie es ist, wenn man sich nicht gegenseitig manipuliert, sich keine Konzeptionen aufzwingt; wenn man nicht sagt: «Erfülle meine Vision», sondern die unterschiedlichsten Kräfte so nebeneinanderspielen, dass sie ein komplexes Bild von individuellen Aussagen abgeben und nicht nur von einem Geschmack. Wenn man nicht verschlungene und angstvolle Wege geht, kann über den Probenzeitraum einer Inszenierung eine besondere zwischenmenschliche Kraft entstehen. Man beginnt, einander von unterschiedlichen Seiten zu sehen und neu sichtbar zu machen. Und zu jeder Zeile eines ZARATHUSTRA von Nietzsche hat jeder, nicht böswillig, sondern intuitiv, eine andere Haltung.
Sebastian Hartmann geboren 1968 in Leipzig, ist Regisseur und Bühnenbildner. Nach einem Schauspielstudium an der Leipziger Theaterhochschule «Hans Otto» arbeitete er als Schauspieler, ab Mitte der neunziger Jahre folgten eigene Regiearbeiten. 1999 – 2003 war er Hausregisseur an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Er inszenierte am Deutschen SchauSpielHaus Hamburg, am Burgtheater Wien, am Deutschen Theater Berlin sowie an den Theatern in Basel, Köln, Magdeburg, Frankfurt, in Tallinn und am Nationaltheater Oslo. Von 2008 bis 2013 leitete er das Schauspiel Leipzig, das er in Centraltheater umbenannte. Seine Inszenierungen KRIEG UND FRIEDEN, ERNIEDRIGTE UND BELEIDIGTE, DER ZAUBERBERG und DER EINZIGE UND SEIN EIGENTUM waren eingeladen zum Berliner Theatertreffen.
