by Bendix Fesefeldt
published on 27. September 2023

Bendix Fesefeldt: Die Schweiz wird häufig als das Wasserschloss Europas bezeichnet. Und das Bild stimmt: Selbst hoch oben in den Bergen lassen sich Quellen finden. Es sprudelt überall, sogar in heissen Sommern. Doch wie kommt das Wasser da hoch? Und können die Quellen versiegen?

Georg Klingler: Das Quellwasser der Alpen entsteht durch Niederschlag und Schmelzwasser, deshalb ist es gut möglich, dass Quellen versiegen und zu wenig Wasser bringen, um die Flüsse zu füllen. In der Schweiz betrifft es unter anderem den Rhein, die Rhone und den Inn. Durch die Klimakrise ist es möglich, dass auch diese Flüsse zeitweise versiegen werden. Der Verlust der Gletscher ist nicht nur für Skifahrer*innen schlimm, sondern wir alle verlieren ein riesiges Wasserreservoir. Für das Himalaya-Gebirge bedeutet der Gletscherschwund, dass bis zu 1 Milliarde Menschen im Sommer kein Wasser mehr aus den Gletschern beziehen können. Die Gletscher sind Trinkwasserspeicher, auch in der Schweiz. Deshalb sind die Gletscher-Initiative und das Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit wichtig. Das Gesetz sieht vor, die in der Schweiz anfallenden von Menschen verursachten Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 auf null zu reduzieren. Aus meiner Sicht ist das zu spät. Aber das Gesetz hat ein Sofortprogramm für den Ersatz von fossilen Heizungen, also von Erdöl, Erdgas. Technologien, die helfen, das Problem zu meistern, werden extra gefördert. Das ist wichtig, weil wir jetzt Emissionen reduzieren müssen. Derzeit wird jedoch von der SVP ein Referendum gegen das Gesetz lanciert. [Anm.d.Red. Das Klimaschutzgesetz, gegen das die SVP als das Referendum ergriffen hatte, wurde am 18. Juni 2023 mit 59.1% angenommen.]

BF: Die Emissionen haben mit fossilen Brennstoffen zu tun, aber auch mit der Landwirtschaft. Kannst du beschreiben, wie die Schweizer Landwirtschaft mit dem Klimawandel umgeht und welche Regelungen und Subventionen der Staat einsetzt?

GK: Das ist richtig, in der Schweiz stammen etwa 15 Prozent der Treibhausgasemissionen aus der Landwirtschaft, vor allem von Kühen, die Methan emittieren. Doch das ist nicht das ganze Bild. Die Schweizer Landwirtschaft importiert zudem jedes Jahr etwa 1 Million Tonnen Futtermittel, bei deren Anbau weitere Emissionen entstehen, z.B. wenn für die Flächen Wälder abgeholzt wurden. Der indirekte Fussabdruck der Schweizer Landwirtschaft ist also wesentlich grösser, etwa 25% der pro Kopf Emissionen sind auf die Ernährung zurückzuführen. Den Ausstoss von Methan zu reduzieren kann kurzfristig entscheidend sein, um die Erderwärmung zu bremsen, weil das Methan eine viel stärkere Klimawirkung hat als CO2. Das CO2 bleibt aber das wichtigste Klimagas, da es tausende Jahre in der Atmosphäre bleibt und so kontinuierlich zur Erhitzung beiträgt. Wenn wir es durch die Umstellung des Ernährungssystems schaffen, auf die Massentierhaltung zu verzichten, können wir nicht nur den Methan-Ausstoss reduzieren, sondern schaffen wiederum Flächen, um Moore und Wälder der Natur zurückzugeben. Das hätte einen schnellen positiven Effekt auf den Temperaturanstieg, der bald Kipppunkte erreichen kann. Und diese Kipppunkte im Klimawandel sind gefährlich, weil es sich um selbstverstärkende Effekte handelt, die nicht mehr gestoppt werden können. Ein Beispiel: Wenn die Temperatur zu hoch wird, schmilzt das arktische Eis, Boden wird frei. Dieser ist dunkler als reflektierendes Eis und absorbiert entsprechend mehr Wärme. Das Eis schmilzt noch schneller, und so entsteht ein selbstverstärkender Effekt. Deswegen ist die Landwirtschaft heute Teil des Problems, aber auch Teil einer riesigen Chance. Wenn wir es schaffen, Ökosysteme zu restaurieren, weil wir die Landwirtschaft anders gestalten und so Methan-Emissionen verringern, dann haben wir direkten Einfluss auf den Schutz unserer Lebensgrundlage.

BF: Wäre es denkbar, dass die Schweiz hier Vorreiterin wird, auch wenn die Welt drumherum wie gewohnt weitermacht?

GK: Das ist eine grosse politische Herausforderung. Das System müsste geändert werden. Wir können das Problem auch nicht bloss auf Seite der Produzierenden lösen, das ist auch das Argument der Landwirtschafts-Lobby. Der Bund müsste eine verbindliche Klimapolitik für die Landwirtschaft verabschieden. Aktuell gibt es nur einen Aktionsplan und widersprüchliche Subventionsgelder. Zum Beispiel fliessen jährlich 42 Millionen Franken in die Absatzförderung von einheimischen tierischen Produkten. Eine komische Situation: Die öffentliche Hand hängt Plakate auf, die dem Klima zuliebe zum Gemüseessen, anregen sollen und gleichzeitig wird mit Bundesgeldern für Fleisch Werbung gemacht. Diese Inkonsistenzen zu beheben, wird schwierig, aber es würde sich lohnen, dieses Problem endlich gesamtgesellschaftlich anzugehen.

BF: Du hast bereits von Kipppunkten gesprochen, den negativen Rückkopplungseffekten. Davon wird immer wieder im Zusammenhang mit dem Auftauen des Permafrostbodens in Sibirien oder dem Abschmelzen der reflektierenden Eisschilde an den Polen gesprochen. Gibt es solche Momente auch in den Schweizer Alpen?

GK: Die Auswirkungen durch das Wegschmelzen der Gletscher sind meines Wissens zugering, als dass sie als eigener globaler Kipppunkt ausgewiesen würden. Auch das Eis im Himalaya-Gebirge ist kein solcher Kipppunkt. Was zu ihnen zählt, sind die Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes, die Abschwächung der atlantischen Zirkulation, das Schmelzen des antarktischen und des arktischen Eises und das Auftauen des Permafrostbodens in Sibirien. Doch auch das Schmelzen des Permafrostbodens in den Alpen wird für grosse Veränderungen sorgen. In der Temperaturentwicklung gibt es immer Kurven. Seit 2000 Jahren ist sie fast stabil. Teilweise wurde die Temperatur sogar ein bisschen tiefer und seit dem 20. Jahrhundert geht die Kurve massiv nach oben. Das ist so ein Fakt, den man oft vergisst: Wir sind auf dem «Worst-Case-Pfad». Bei den Gletschern haben wir 2022 über sechs Prozent der Masse verloren. Eine Menge, die zuvor in 30 Jahren schmolz.

BF: Ein klassisches Argument, das den negativen Folgen des Klimawandels entgegengebracht wird, ist, dass der Mensch sich anpassen kann. Glaubst du, dass wir das können?

GK: Diese Art von Ansicht, diese «Ja, wir werden das schon schaffen!»-Einstellung, ist menschlich. Wenn man sich dem Ausmass der Krise wirklich stellt, dann ist das schockierend. Wir sind nicht dafür gemacht, Gefahren dieser Art zu antizipieren. Doch wenn wir erst handeln, wenn das Haus weggespült ist und die Hitze uns stark einschränkt, dann ist es zu spät, dann ist der Kipppunkt bereits eingetreten und wir können die Entwicklung nicht zurückdrehen. Der Schutzmechanismus der Verdrängung in der Bevölkerung ist gross und ein Problem in der Debatte. Die öffentliche Hand tut meines Erachtens zu wenig, um die Bürger*innen aufzuklären. In der Energiekrise wird aktuell ganz anders gehandelt. Sie wird klar als Krise erkannt, und die Bevölkerung wird zum Sparen sensibilisiert: Duscht kürzer! Macht den Deckel auf die Pfanne! Und es wurde ein Notfallplan für einen Energieengpass erstellt. Und obwohl die Krise beim Klima deutlich verheerender ist, aber erst in mittelbarer Zeit und nicht unmittelbar zu spüren ist, passiert nichts dergleichen. Die Akzeptanz der Tatsache, dass wir in einer Krise sind. Diese Akzeptanz würde dafür sorgen, dass wir nicht mehr inkonsequent handeln. Häufig sind die Menschen uninformiert. Sie lesen keine Studien, sondern sehen es als Glaubensfrage, die wahrscheinlich aus dieser Verdrängung des sekundären Wissens kommt. Seitdem ich mich informiere und mich mit den Themen rund um das Klima auseinandersetze – ich mache das auch nicht, seit ich klein bin, habe ich gemerkt: Das ist ja viel verrückter, als ich je gedacht habe. Die Forscher*innengemeinde ist sich einig, wir befinden uns auf einem extrem gefährlichen Kurs. Zugleich wissen wir, was zu tun ist, um die Klimakrise zu stoppen. Warum passiert dennoch so wenig? Da entsteht bei mir wirklich Verzweiflung.

BF: Was macht die ständige Auseinandersetzung mit der Zukunft und dem «Worst-Case-Szenario» mit dir als Klimaaktivist, der das nicht nur in der Freizeit macht, sondern dem die Faktenlage auch tagtäglich bei der Arbeit begegnet?

GK: Ja, das ist eine grosse Frage (lacht). Ich habe selbst Kinder. Das heisst, ich habe auch Hoffnung, sonst würde ich nicht bewusst Kinder in eine Welt lassen, wenn ich erwarte, dass diese in 20 Jahren nicht mehr existieren wird. Das heisst, ich habe in gewisser Art auch die Hoffnung, dass wir das schaffen. Aber wir müssen echt anpacken. Wir müssen von unseren Gewohnheiten wegkommen und die Welt wirklich neu denken und unsere Fantasie dafür nutzen, geniale neue Wirklichkeiten zu schaffen. An dieser Fantasie mangelt es uns am meisten. Anstatt zu fantasieren, halten wir am Status quo fest. Und der Status quo beinhaltet Machtstrukturen, die aufgebrochen werden müssen, um Neues zuzulassen. Machtstrukturen rund um die fossilen Energiequellen, durch die ganz viel Geld in Lobbying gesteckt wird, oder Machtstrukturen in der Landwirtschaft für die Massentierhaltung, aber auch die Macht der Infrastruktur, des Strassenbaus und vieles mehr. Und ich glaube daran: Wenn wir uns zusammenschliessen, können wir sehr viel verändern und mit den faktenbasierten Erkenntnissen darauf hinarbeiten, dass wir eine neue Realität schaffen, die besser sein wird, als diejenige die wir heute haben. Wir wissen, dass dieser ganze Materialismus uns nicht glücklich macht. Man muss genug haben, um sich sicher zu fühlen. Aber darüber hinaus steigt das Glück nicht. Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich in den letzten zehn Jahren der Konsum von Antidepressiva verdoppelt hat und der Drogenkonsum stetig zunimmt. Wir vergleichen uns mit anderen und sind unglücklich, weil die anderen mehr haben, anstatt dass wir unsere zwischenmenschlichen Beziehungen leben, uns gegenseitig helfen und mit diesem Frieden ein Leitbild finden würden, um die Gesellschaft neu zu gestalten. Schon in der Vergangenheit fanden Bewegungen statt, die aufgrund von Zuspitzungen von bestimmten Situationen, in denen das Alte nicht mehr möglich erschien, einen massiven Wandel bewirkt haben. Ich hoffe, dass wir diesen Punkt in Bezug auf die Klimakrise bald erreicht haben.

BF: Diese neue Gesellschaft, die du zeichnest, die sich von einem materialistischen Weltbild wegbewegt, hin zu einem Denken, das neben der Erfüllung der Grundbedürfnisse das Glück in Beziehungen und Zwischenmenschlichkeit begründet. Wie kann ich mir so einen gesellschaftlichen Wandel vorstellen? Auf individueller und gesellschaftlicher Ebene? Was braucht es dafür?

GK: Dazu gibt es spannende Forschung. Ich war kürzlich in einem Seminar von Erica Chenoweth und habe gelernt, dass die Bewegung, die zur Änderung führt, gar nicht 51 Prozent der Menschen erreichen muss. Es reicht in gewissen politischen Kontexten, wenn nur 3 bis 5 Prozent der Menschen sich gemeinsam für Veränderung einsetzen. Für die Klimabewegung, die einen wirklich grossen Wandel einfordert, schätzt Erica Chenoweth, dass sich etwa 25 Prozent der Bevölkerung engagieren müssen. Und da hat Greta Thunberg einen riesigen Effekt. Sie hat Millionen Menschen weltweit auf die Strasse gebracht und zum Engagement ermutigt. Ich denke, es benötigt eine Vielfalt von Taktiken, um möglichst viele verschiedene Menschen zu erreichen. Um bei sich persönlich anzufangen, hilft es, den Wandel zu leben, vor allem dort, wo gemeinsame Entscheidungen gefällt werden, und sich überall für den Wandel einsetzen – in der Schule, in der Familie, in der Wohngemeinschaft, aber auch in der Gemeinde, im Kanton, in der Schweiz und auf internationaler Ebene. Das ist für mich Politik! Es benötigt aber auch Neugier, um neue Wege zu denken, um von dem bisher normalen Weg abzukommen.

BF: Gerade reden alle über Kartoffelstock und Monet. Was hältst du von solchen Aktionen?

GK: Grundsätzlich begrüsse ich all diese Aktivitäten. Es ist gut, dass mehr Leute aktiv sind als früher. Ich erinnere mich noch, 2015 haben wir für eine grosse Klimademo in Zürich mobilisiert, und es kamen 900 Personen. Unglaublich im Vergleich zu dem, was nachher mit dem Klimastreik in der Schweiz passiert ist. Strassenblockaden oder Ähnliches sind für mich persönlich nicht das Mittel mit dem grössten Hebel. Aber das sehe ich auf diese Weise, weil ich in anderen Kontexten schon aktiv bin. Anderen Leuten würde ich eine derartige Aktion nicht ausreden wollen, wenn das Resultat des Ausredens wäre, dass sie dann gar nicht klimaaktiv würden.

BF: Im Zusammenhang mit der Produktion haben wir häufig über das Dilemma Theater und Klimakrise gesprochen. Theater ist ganz oft eine Form von Verschwendung und gleichzeitig ein Ort der Verhandlung, der Sichtbarmachung. Häufig stellen wir uns die Frage: Was erreichen wir gesellschaftlich mit dem Theater? Und inwieweit müssen die Produktionsbedingungen radikal verändert werden?

GK: Das ist das grosse Dilemma, in dem wir in dieser Gesellschaft leben. Wir sind Teil dieser Normalität, die wir verändern wollen. Da müssen wir auch mit uns nachlässig sein, insofern, als wir akzeptieren müssen, dass wir uns dieser Normalität nicht ganz entziehen können. Wenn ich als Einsiedler in den Wald ziehe, dann ändert das nichts in der Gesellschaft. Das ist ein Balanceakt, den ich bei Greenpeace, aber auch auf meinem Hof erlebe. Immer wieder stellt sich die Frage danach, wie weit wir uns in den Kampagnen und unserer Arbeit von der Normalität entfernen können, wie stark wir das Neue denken können, ohne dadurch das Risiko einzugehen, dass wir die Gesellschaft nicht mehr erreichen. Ich gehe gern mit einem spielerischen Ansatz heran, es einfach zu testen, es ernst zu nehmen, um für den Sieg zu kämpfen, aber fair miteinander zu bleiben. Wichtig ist auch, nicht beim kleinsten Detail zu beginnen, sondern grössere Hebel zu finden. In einer Theaterproduktion auf Papier zu verzichten und dafür Tablets einzusetzen, wäre ein kleiner Schritt. Eine grössere Hebelwirkung ergäbe sich aber, wenn ihr beispielsweise während der Probenzeit vegan leben würdet. Das wäre für viele neu und hätte sicherlich eine nachhaltigere Wirkung.

BF: Du hast viel über Fantasie gesprochen, darüber, Dinge neu zu denken. Kannst du eine ganz konkrete Vision skizzieren, wie Zürich in Zukunft aussehen könnte?

GK: Strassen gehören für mich in diese Fantasie. Wie wäre es, wenn wir Strassen zum Spielen, zum Sein, zum Essen mit vielen Menschen an grossen Tafeln nutzen könnten? Wir könnten die Strassen als öffentlichen Raum zurückgewinnen. Was mich inspiriert, sind deshalb die «Reclaim the Public Space»-Aktivitäten. In Zürich gibt es diesen Malven-Pflanzer. Er wurde berühmt, weil er überall Malven gepflanzt hat, die mittlerweile von der Grün Stadt Zürich geschützt werden. Wir wissen, dass Grün ganz entscheidend sein wird, um in der kommenden Hitze in den Städten weiterhin leben zu können. Und wenn die Stadt das nicht schafft, dem Grün mehr Platz zu geben, finden wir vielleicht Mittel und Wege, wie wir dieses Grün verstärken – vielleicht auch mit zivilem Ungehorsam.