by Moritz Frischkorn
published on 10. March 2023

Moritz Frischkorn: Wann ist Euch die Autorin Sarah Kane zum ersten Mal begegnet und was verbindet Ihr mit dieser Autorin?

Wiebke Mollenhauer: Sarah Kane habe ich im Studium kennengelernt, aber sie war nicht sehr prägend für mich. Ich hatte nicht viele Berührungspunkte mit ihr, sondern eher das Ge­fühl, ein wenig Sicherheitsabstand wäre gut. Es hat da eine Furcht mitgeschwungen: Was begegnet mir in diesen Texten? Was für einen Abgrund könnte sich auftun, wenn ich mit Sarah Kanes Texten in Berührung komme?

Sasha Melroch: Ich habe Kane im Jahr 2012 entdeckt. Es war einer der ersten Theatertexte, die ich gelesen habe. Das war Zerbombt, und das Stück ist förmlich in meinem Gesicht explo­diert. Es war das erste Mal, dass ich etwas gelesen habe, bei dem die Worte etwas Körperli­ches, vielleicht sogar Physiologisches in mir ausgelöst haben. Diese Lektüreerfahrung habe ich später nicht mehr gemacht.

Christopher Rüping: Bei mir ist es ähnlich wie bei Sasha. Es war sozusagen der Initiationsritus fürs Theater. Ich hatte davor nie etwas Dramatisches gelesen, dass mich erreicht hätte. Und dann bin ich über das Buch mit ihrem Gesamtwerk gestolpert. Damals war ich 17 oder 18 Jahre alt, also noch bevor ich mich dafür entschieden hatte, professionell Theater zu ma­chen. Ich habe diese Texte gelesen habe – ich weiss nicht mehr, welchen Text zuerst – und dachte: Wenn so Theatertexte sind, dann will ich mit Theatertexten arbeiten...

Christoph Hart: Ehrlich gesagt hatte ich vor dieser Arbeitsphase keine Berührungspunkte mit Sarah Kane. Deshalb mache ich die Entwicklung, die viele Leute über Jahren machen, jetzt im Schnelldurchlauf. Am Anfang war ich abgeschreckt von Gier. Aber durch die intensive Auseinandersetzung finde ich immer mehr Dinge in ihrem Text.

MF: Sarah Kanes Stücke verarbeiten extreme Gewalterfahrungen. Sie operieren mit expliziten Bildern und drastischer Sprache. Nicht umsonst wird Kane als wichtigste Vertreterin des soge­nannten «In-Yer-Face-Theater» verstanden. Wie hat sich Euer Bezug zu ihren Texten, und im Be­sonderen zu Gier, seit Eurer ersten Begegnung mit Kane verändert? Lesen wir diese Texte heute anders als zum Zeitpunkt ihres Entstehens?

SM: Gier ist besonders, aber alle ihre Texte sind besonders. Jedes Mal, wenn ich das Stück lese, öffnet sich ein anderes Leseraster. Für mich ist dieser Text in konstanter Evolution, d.h. für mich gibt es nicht nur einen Weg, ihn zu lesen und empfangen. Aber, wenn wir über die Gewalt selbst sprechen... Sprechen wir über Gewalt?

MF: Ja, auch…

SM: Ich weiss nicht, für mich ist das nicht der erste Anhaltspunkt, wenn ich mich mit Kanes Arbeit befasse. Wir setzten uns heute so viel Gewalt und Horror aus, und wir scheinen das irgendwie zu mögen. Bei Kane, denke ich, ist es nicht einfach Gewalt um ihrer selbst wil­len. Für mich jedenfalls ist es nicht das zentrale Thema bei der Lektüre.

MF: Wie ist das bei Dir, hat sich in Deiner Lektüre von Kane etwas verändert, Wiebke?

WM: Ja, ich denke schon. Damals, im Studium, hätte ich ihre grossen Gefühle einfach un­terschrieben und als Wirklichkeit angenommen, als meine eigene Wirklichkeit. Mittlerweile weiss ich, dass es nur Gefühle sind, Gefühle also, die vergehen, die vielschichtig sind und die genauso viel mit mir zu tun haben, wie mit dem Text, dem ich begegne. Ich weiss also, dass Gefühle nicht unbedingt die Wahrheit sind. Ich glaube, ich bin deshalb heute den Texten gegenüber nicht mehr so ehrfürchtig wie damals.

CR: Als ich Sarah Kane zum ersten Mal gelesen habe, war ich deutlich jünger, als sie es war, als sie ihre Stücke geschrieben hat. Und ich muss sagen, mein Verhältnis zu den Texten hat sich inzwischen sehr gewandelt. Früher waren sie für mich das Nonplusultra, mittlerweile habe ich eine grössere Distanz zu ihnen, fühle mich anders von ihnen herausgefordert. Das hat nicht nur etwas mit meiner persönlichen Entwicklung zu tun: Die ganze Kunstrichtung des «In-Yer-Face-Theatre» lebt ja von Provokation im Sinne der expliziten Darstellung von Extremen, die dann eine möglichst starke Reaktion beim Publikum hervorrufen. Diese Provokation, die zu Sarah Kanes Zeiten eindeutig ein Programm der künstlerischen Linken war, ist mittlerweile Stilmittel der Rechten geworden, also von Leuten wie Trump, die Sätze aussprechen, die angeblich nicht aussprechbar sind, um damit eine möglichst grosse Reaktion zu erzeugen, die sich in Klicks und letzten Endes in Reichweite und Stimmen auf dem Wahlzettel niederschlägt. Und deswegen hat sich mein Gefühl nicht nur zu Kanes Texten, sondern auch zu dem damit verbundenen künstlerischen Programm verändert. Ich glaube nicht mehr an Provokation als künstlerisches Stilmittel.

MF: Gier ist getrieben von dem extremen Wunsch nach Nähe. Zugleich verweist der Text auf Kind­heitstraumata und sexualisierte Gewalt. Was bedeutet das für die Probenarbeit?

WM: Ich glaube, dass wir immer wieder ziemlich sensibel ansprechen, wie es uns geht mit der Arbeit und dabei um Offenheit bemüht sind. Und dass wir jederzeit, wenn es zu viel wäre, sagen könnten, ich brauche eine Pause. Um eben die nötige Distanz zu gewährleis­ten.

CR: Ich hoffe auch, dass es in unserem Abend nicht nur Momente geben wird, in denen man von den Abgründen des Textes verschluckt zu werden droht. Kane hat eben auch Humor, sie hat eine Zartheit. Wir versuchen, diese unterschiedlichen Pole auszuloten – im Probenprozess und in der Inszenierung. Die Figuren in Gier sprechen immer wieder davon, dass sie sich einen Zustand der Ausgeglichenheit wünschen, aber immer wieder vom einen ins andere Extrem gerissen werden. Ich glaube, es geht darum, diese Balance immer wieder zu finden, zumindest in den Proben. Man merkt dem Raum einfach an, wenn man bestimmte Passagen des Stückes nicht mehr proben kann. Und dann nehmen wir uns die leichteren, humorvolleren, irgendwie auch beknackteren Szenen vor. Trotzdem kann ich nach fünfeinhalb Wochen Arbeit sagen, dass die Arbeit am Text eine enorme Herausforderung darstellt. So erschöpft war ich selten.

SM: Für mich ist es gut, dass wir einen sicheren Raum haben, in dem unsere Grenzen respek­tiert werden und wir die Grenzen der Anderen respektieren. Und dass die Proben ein Ort sind, an dem wir einander zuhören und uns umeinander kümmern. Ich denke, es ist notwendig für dieses Werk. Ich würde ungern mit einem tyrannischen Team an diesem Text arbeiten. Das hat auch mit Erschöpfung zu tun. In den ersten Probewochen, als ich sehr erschöpft war, ist es manchmal sehr schwer gewesen, die Worte zu sagen. Wenn man müde ist, resoniert der Text anders in einem. Er kann eine unglaubliche Verletzlichkeit hervorholen. Aber wir haben auch viel Spass. Und es ist kein Sakrileg, Spass zu haben, weil Kanes Texte Spass machen. Ich denke, sie sind keine heilige Sache. Oder heilig nur insofern, als man auch lachen darf.

CH: Ich finde, man merkt richtig, wie ein Vertrauen zwischen allen Beteiligten herrscht, dass Grenzüberschreitungen nicht stattfinden. Und ich glaube, dass uns der gemeinsame Wille verbindet, diesen krassen Abgründen etwas entgegenzusetzen, so dass man als Zuschauer nicht völlig zerpflückt aus dem Theater rauskommt. Das ist etwas, was uns allen am Herzen liegt.

MF: Wieso ist es heute wichtig, Gier zu spielen und zu inszenieren?

SM: Für mich ist Sarah Kane ein Monument. Sie ist ein Monument, und sie muss gespielt wer­den, als Teil des Kulturerbes. Es ist wahrscheinlich konservativ, das zu sagen. Aber es ist meine Überzeugung. Ich bin froh, Stücke des Kanons zu sehen. Mein Gefühl ist, dass Kane nicht viel gespielt wird, zumindest in der Schweiz. Seit ich mich mit Theater beschäftige, habe eine einzige Aufführung von ihr in der Schweiz gesehen. Ich denke, das liegt daran, dass es braucht viel Mut braucht, sie zu spielen. Es ist nicht einfach ist, bestimmte Fallstricke zu vermeiden. Ich würde gerne mehr von Sarah Kane sehen.

WM: Ich denke, es ist gut, Kane in der Schweiz zu spielen, wo Vieles nett und glatt und so gelöst erscheint. An bestimmte Abgründe – so empfinde ich es zumindest – kommt man hier gar nicht ran. Deswegen finde ich es gerade gut, Gier gerade hier zu machen.

CR: Die politische Antwort ist: Wie Sasha bereits ausgeführt hat, werden Texte, insbesondere der dramatischen Literatur, in kanonische Texte und nicht-kanonische Texte aufgeteilt, d.h. in solche Texte, die man immer wieder inszeniert, und andere Texte, die nach ihrer Uraufführung dem Vergessen oder den Bibliotheken überantwortet werden. Die Entscheidung, welcher Text dem Kanon und welcher dem Vergessen zugeteilt wird, wird zumeist mit der besonders erhabenen Qualität bestimmter Texte begründet. Das ist aber Unsinn. Es sind allein die Aufführungspraxis und Rezeptionsgeschichte, die diese Unterteilung vornehmen: Ein Text wird kanonisch, wenn sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte immer wieder Menschen mit demselben Text beschäftigen. Nun beklagen wir alle, dass es in unserem dramatischen Kanon eigentlich keine Stücke von Frauen gibt. Bei Sarah Kane aber findet man eine Autorin, die inhaltlich wie formal eigenwillige Texte geschrieben hat: radikale, kompromisslose Texte, deren Themen im Theater sonst unterrepräsentiert sind. Ich finde, allein deswegen lohnt es sich, sich mit diesem Text zu beschäftigen. Und wenn man es dann tut, wird man auf mannigfaltige Art und Weise beschenkt. Ich finde, Kane hat eine unglaubliche Radikalität und Tiefe in der Art, wie sie Beziehungen, Ängste, Sehnsüchte und Bedürfnisse formuliert. Und das ist etwas, das einen Text über die Zeit seiner Entstehung erhebt. Ich glaube, es ist im Grunde purer Sexismus, dass Kane nicht viel öfter gespielt wird. Das hier sollte auf keinen Fall die letzte Inszenierung von Gier sein, es sollte tausend weitere Inszenierungen geben, die ganz anders sind.