by Laura Rivas Kaufmann
published on 13. December 2022

Nina Karimy: Mein Name ist Nina Karimy, ich verwende keine Pronomen. Miriam Ibrahim hat mich als Gäst*in für eure Lesereihe eingeladen und wir proben gerade zusammen im Schiffbau. Es ist mir eine Ehre aus dem Buch von Hengameh Yaghoobifarah zu lesen.

Laura Rivas Kaufmann: Das solidarische Sichtbarmachen der Bewegung «Jin Jiyan Azadi», die gerade im Iran stattfindet, ist dir ein grosses Anliegen. Leider kam eine Solidaritätsveranstaltung bei uns aufgrund der Kurzfristigkeit nicht zustande. Du hast aber bereits an anderen Theatern zu den Protestbewegungen im Iran und kurdischen Gebieten gesprochen. Kannst du uns einen Einblick geben, welche Themen dabei im Zentrum standen?

Nina Karimy: Ich muss dafür etwas ausholen. Vor kurzem wurde ich für einen künstlerischen Beitrag im Rahmen einer Solidaritätsveranstaltung „Jin Jiyan Azadi“ angefragt. Daraufhin antwortete ich, ich wüsste jetzt nicht, was ich dazu sagen soll. Ich bin zwar mit 13 aus dem Iran nach Deutschland gekommen und meine Eltern waren und sind sehr politisch. Dieses politische Bewusstsein wurde mir auf jeden Fall weitergegeben und politische Gespräche und Diskurse waren bei uns alltäglich. Aber ich habe aktuell weder Freund*innen oder Kamerad*innen im Iran, die kämpfen oder protestieren. Emotional bin ich involviert, aber real nicht.

Die Person meinte daraufhin: «Aber ich möchte gerne, dass du dazu sprichst. Es interessiert mich sehr, was du zu sagen hast.» Das war ein sehr empowernder Moment. Ich telefonierte dann sehr lange mit meinem Geschwister, das auch sehr politisch ist und zurzeit in Berlin lebt. Und mein Geschwister meinte: «Allein, dass wir hier sind, ist verbunden mit diesem Thema. Finde deinen Zusammenhang.» Daraufhin setzte ich mich hin, überlegte und entwarf einen Text für diese Veranstaltung.

Als ich meiner Mutter am Telefon erzählen wollte, worüber ich vorhatte zu sprechen, unterbrach sie mich: «Warte, warte!» Sie rief meinen Stiefvater dazu und dann führten wir eine Art «künstlerische Telefonkonferenz». Meine Eltern waren plötzlich meine künstlerische, dramaturgische und politische Beratung. Als kunstschaffende Person, die hier in Europa aufgewachsen und sozialisiert ist, ist es immer mein Wunsch, dass meine Eltern mein Publikum sein können. Leider ist das sehr, sehr selten der Fall. Ich kann sie selten einladen, weil ich weiss, da sind sie nicht mitgedacht wurden, wahrscheinlich werden sie getriggert. Deshalb war das ein sehr heilsamer Moment, dass diese geplante Rede mit ihnen resoniert hat. Dass sie in eine beratende Rolle getreten sind und ihr Kind durch ihre Expertise bereichern konnten bei der Arbeit für ein deutsches Theater, war etwas Besonderes. Am Ende waren sie sehr, sehr begeistert von dem Thema, so wie auch ich. Das war der Moment, als ich dachte: «Das ist okay. Ich darf auch darüber, nein falsch, ich darf vielleicht auch unter anderem darüber sprechen.»

Aber zurück zu deiner eigentlichen Frage. Ich las ein Gedicht vor über das Weiterkommen, über Verbundenheit und dann sprach ich darüber, dass Veranstaltungen und generell diese Bewegung «Jin Jiyan Azadi» kein Raum ist für Islamfeindlichkeit. Es geht nicht darum, dass wir hier in Europa muslimischen Menschen erklären, vor allem muslimischen weiblich gelesenen Personen erklären, wie sie zu leben und wie sie nicht zu leben haben. Es ist eine Bewegung von muslimischen, jüdischen, balutschischen, kurdischen, arabischen Personen, Afroiraner*innen, Rom*nja im Iran, der Bahai, der Arbeiterklasse, Studierenden, Schüler*innen und vielen anderen im Iran. Und daraufhin komme ich auf die ursprüngliche Bedeutung der Wörter «Jin Jiyan Azadi» zu sprechen. Die Übersetzung von «Jin Jiyan Azadi» zu «zan zendegi azadi» und dann zu «Frau, Leben, Freiheit», ist eine sehr lapidare Übersetzung. Im kurdischen Wort «Jin» steckt sowohl die Bedeutung Unterdrückung, als auch die Bedeutung Empowerment. Es ist viel mehr an dem Wort dran, als im Wort «Frau», wie wir es historisch lesen.

Laura Rivas Kaufmann: Es gibt ja auch keine Pronomen in der persischen Sprache.

Nina Karimy: Ja genau, auch im Kurdischen Sorani gibt es das nicht. Wir haben ein Wort das heisst «âw» und das heisst «er, sie, es, they…». Und «aaw» heisst Wasser, «âw» «aaw» ist phonetisch sehr ähnlich und somit ist die Fluidität sozusagen darin enthalten. Daraufhin bespreche ich kurz die Historie dieses Slogans aus der kurdischen Frauenbewegung bis hin zum Auslöser der Proteste, dem Tod von Jina Amini.

In meiner Rede, und das ist einer der wichtigsten Teile, gehe ich darauf zurück, wie wir während der grünen Revolution 2009 immer über Twitter mitverfolgen konnten, was gerade passiert. Die anderen Medien haben nichts gepostet, also nichts darüber berichtet, meine ich. Damals gab es ja Instagram und so noch nicht, oder?

Laura Rivas Kaufmann: Facebook gab es schon, aber Instagram noch nicht.

Nina Karimy: Wir haben über Twitter alles mitverfolgt, bis von heute auf morgen nichts mehr kam, weil die iranische Regierung Internet und Telefonie lahm gelegt hat. Das Deutsche Unternehmen Nokia Siemens hatte Teile der technischen Infrastruktur an den Iran geliefert, die es dem Regime überhaupt erst ermöglichte, die mobile Kommunikation zu kontrollieren. Und auch in der aktuellen Protestbewegung haben die Leute seit ein paar Wochen kaum Zugang zum Internet. Wenn die Deutsche Regierung sagt, man müsse Wirtschaft und Politik trennen, kann ich das einfach nicht ernst nehmen. Die Türkei beispielsweise ist 2019 einmarschiert ist ins kurdische Syrien, wo jesidische Frauen, kurdische Frauen, viele Menschen in einem demokratie ähnlichen Zustand miteinander versucht haben zu leben und Widerstand leisteten. Deutschland hatte einige Jahre zuvor Panzer des Typs Leopard an die Türkei geliefert und sie war 2019 Hauptexportland Deutscher Kriegswaffen. Ein Bewusstsein für diese Verstrickungen ist mir wichtig.

Ich war hier in der Schweiz bei einer Lesung von Françoise Vergès, einer französischen Philosophin und Politikwissenschaftlerin, die in Algerien und Réunion aufgewachsen ist. Es ging um Feminismus. Vergès richtete sich an das mehrheitlich weisse Publikum und sagte sinngemäss: «Wer putzt bei euch, wer passt gerade auf eure Kinder auf, während ihr etwas über Feminismus hört? Ihr braucht nicht in unsere Länder zu gehen, um dort irgendetwas zu verändern. Alles was in meinem Land verändert werden sollte, hat seinen Ursprung in deiner Regierung. Ändere deine Regierung und mein Land wird sich verbessern.»

Es ist wichtig, dass unsere Regierungen Druck ausüben. Weil ohne den politischen Druck von aussen, wird die islamische Regierung im Iran nichts verändern. Gerade werden vor allem in kurdischen und balutschischen Gebieten, aber auch in anderen Gebieten, Zivilist*innen durch die eigene Regierung getötet. Die ersten Todesurteile wurden gesprochen, junge Menschen werden verhaftet. Das sind mittlerweile ganz klar Menschenrechtsverletzungen. Das Regime darf nicht damit davonkommen. Und dafür brauchen wir unsere Theater. Wir brauchen jede Institution, die von mir aus auch plakativ, Solidarität zeigt und ein Plakat aufhängt. Und je mehr Institutionen sagen «Jin Jiyan Azadi», das Kaffee nebenan, das Restaurant, das Fitnessstudio, desto mehr merkt die Regierung und die Parteien, «Oh, wir müssen jetzt etwas tun, denn bald sind wieder Wahlen hier.» Dann wird darüber gesprochen, dann werden Sanktionen verhängt. Iranische Regierungsleute haben sehr sehr viel Geld, ich kann mir gut vorstellen, dass da auch ein Teil auf Schweizer Bankkonten liegt. Wenn diese Gelder eingefroren werden, hat das politische Dimensionen und dann auch Konsequenzen.

Laura Rivas Kaufmann: Man braucht nicht viel politisches Wissen, um zu verstehen, dass Menschenrechtsverletzungen falsch sind und um sich mit Freiheitskämpfen zu solidarisieren. Was danach passiert in dem Land, das ist in meinen Augen die Aufgabe von den Menschen, die dort leben. Sie müssen entscheiden, ob sie Unterstützung von aussen brauchen. Aber im Moment geht es wirklich einfach um Menschenrechte.

Nina Karimy: Wie ich schon am Anfang gesagt habe, ich bin kein*e Aktivitst*in. Alles, was ich weiss, ist bei uns frei zugänglich im Internet und gehört zu einer Recherche.

Laura Rivas Kaufmann: Apropos Internet und Social Media: Ich finde es bedauerlich, dass es in der Schweiz nicht so viele Menschen gibt, die sich zu den Protesten im Iran äussern, auf Demonstrationen und Podien sprechen. Damit meine ich insbesondere auch Menschen aus dem Kunst- und Kulturbereich. Ich glaube, bei uns gibt es auch einfach nicht so eine grosse (post-)migrantische Community mit einer grossen Reichweite und Bekanntheit.

Nina Karimy: Ich kenne mich mit der Geschichte der Schweiz nicht aus. In Deutschland haben viele Kulturen und Menschen wirklich lange sehr, sehr viel gekämpft. Deutschland ist aufgebaut von Schwarzen Personen, Indigenen Menschen, von People of Colour, von den sogenannten Gastarbeiter*innen, die ursprünglich kamen, um zu arbeiten. Diese Menschen haben kulturell und künstlerisch viel beigetragen. Und durch demografische Veränderungen und durch den Publikumsschwund an deutschen Theatern ist (post-)migrantisches Theater für Deutschland interessant geworden. Als das so vor zehn Jahren anfing, waren Stücke oft von weissen Menschen geschrieben, Regie hat eine weisse Person gemacht, aber die zwei auf der Bühne, eine Person sah “PoC passing” aus und die andere hatte beispielsweise Eltern aus dem Iran. Das ist eine Frage von Machtdynamiken und die Schweiz wird nachziehen. Das ist eine Sache der Zeit, das wird nicht mehr lange dauern. Das Internet und Social Media hat diesen Veränderungsprozessen wirklich nochmals Auftrieb verliehen.

Laura Rivas Kaufmann: Das glaube ich auch.

Nina Karimy: Ich muss nicht mehr zwingend ins Theater, um BIPoC und politische, progressive, queere Thematiken und Witze und Humor, Kunst anzugucken, die mich weiterbringt, die mich berührt, die mich nicht verletzt, die mich nicht triggert, die nicht feindlich ist gegen meine Identitäten. Ich muss nicht, was weiss ich wieviel Euro zahlen, um bei einem Publikum zu sitzen, was mich anschaut, das denkt: «Was machst du denn eigentlich hier?» Dann schauen sich die Leute lieber die Comedy-Shows von Gigantinnen wie Thelma Buabeng oder Jilet Ayse auf YouTube an, schauen Sachen auf TikTok, lachen, heulen. Da ist eine Machtverschiebung im Gange. Ich wünsche mir, dass die alten Machtstrukturen absterben und das Theater zu dem werden kann, was eigentlich gemeint war oder viele Menschen so praktizieren, dass es ein unbequemer Raum sein kann.

Laura Rivas Kaufmann: Ja, für mich sollte es ein Verhandlungsraum sein. Lustig, dass du Thelma Buabeng ansprichst. Sie hat kürzlich das erste Mal bei uns unter dem Titel Security ihre YouTube-Reihe auch auf die Bühne gebracht. Und ich glaube schon, dass es wahnsinnig wichtig ist, dass diese Menschen, die im Internet Comedy und andere Formate machen, auch physisch irgendwo auftreten sollten. Zusammen physisch in einem Raum etwas zu erleben, macht etwas Anderes mit dir, als wenn du etwas alleine auf einem Bildschirm angeschaut hast.

Nina Karimy: Klar! Ich möchte nur sagen, dass es durch das Internet nun eine Gegenmacht gibt. Der Zugang zu Kunst ist nicht mehr länger einer Elite vorbehalten. Die Menschen brauchen die Institutionen nicht mehr, um Kunst zu machen. Sie haben nun eigene Plattformen und sagen sich «Ihr braucht jetzt mich!» Kunst und Kunstschaffen sollte für jeden Menschen zugänglich gemacht werden und nicht nur für diejenigen, die aus Künstler*innen-Familien stammen. Die Machtstrukturen müssen sich dringend revolutionieren.

Laura Rivas Kaufmann: Genau, denn die Macht von Theater und anderen Kulturinstitutionen kann auch positiv sein. Theaterhäuser können die Politik auf eine andere Art erreichen als Instagram-Posts. Wenn die Menschen auf die Strasse gehen oder wenn Kriege und Protestbewegungen in Kulturinstitutionen verhandelt werden, kann eine andere Art von Druck ausgeübt werden auf die Politik. Kulturinstitutionen können als Katalysator dienen für gesellschaftliche Transformationsprozesse. Die jüngeren Studierenden an den Kunsthochschulen und allgemein die Generation Z fordern ihren Platz in diesen Institutionen auch mehr ein.

Nina Karimy: Das ist so. Es ist gut, dass die «Gen Z» ein Bewusstsein hat für Liebe, für Kämpfen, für «Oh, mir gehts ja gerade so gut, warum geht es dir schlecht? Hat es etwas mit mir zu tun, dass es dir schlecht geht?» Jedenfalls mehr als Menschen meiner Generation in meinem Umfeld es hatte , ich bin Millenial. Von Menschen, die viel mit jungen Leuten arbeiten, höre ich, dass diese Generation natürlich auch nicht homogen ist, aber ein sehr viel grösseres Bewusstsein für Gerechtigkeit hat. Heute kann es sein, dass eine weisse Person da sitzt und sagt: «Hmm, warum wird dieser und dieser Begriff verwendet?» Dass eine cis Person dasitzt und sagt: «Das ist transfeindlich, das gefällt mir gar nicht jetzt und dagegen werde ich jetzt vorgehen.» Das nennt man Solidarität und das ist sehr sehr schön.

Laura Rivas Kaufmann: Ich finde es grossartig, dass sich die jungen Menschen der Generation Z so einsetzen und trotzdem glaube ich, dass es wichtig ist und auch motivierend zu sehen, was davor schon passiert ist, auf wessen Schultern man steht. Das ist oft eine Gefahr, auch in der feministischen Bewegung, dass das vergessen geht. Ich finde die Begriffe erste, zweite, dritte Welle treffend, denn es ist wirkliche eine Welle und dann ist wieder gar nichts mehr da und die Strukturen werden wieder komplett neu aufgebaut. Ich fände es schöner, wenn es da mehr Kontinuität gäbe und man nicht mehr zu diesem Tiefpunkt gelangt und dann wieder die ganze Arbeit macht, sondern das irgendwie verknüpft und fortführt mit den Menschen, die schon sich dafür eingesetzt haben, dass es jetzt so ist, wie es ist.

Nina Karimy: Ja und das ist wirklich so. Ich bin da, wo ich bin, weil viele Menschen vor mir gekämpft haben. Mich gibt es, weil meine Eltern gekämpft haben. Die «Gen Z» gibt es, weil es uns gibt. Jetzt so in meinen Kontext, merke ich «Aha, dafür hat mir der Mut zum Beispiel nicht gereicht, weil der Raum, noch ein ganz anderer war. Allein, dass ich das durchboxen konnte, war für mich ein Erfolg. Dafür habe ich schon einen grossen Preis bezahlt. Du musst schon sehen, dass das das Meiste war, was ich rausholen konnte in meinem Kontext. Aber du gehst jetzt weiter und forderst mehr.» Die Wertschätzung füreinander ist schon wichtig. Aber zu meiner Generation muss ich doch sagen, wenn wir noch Teil der Prozesse bleiben wollen und zwar nicht als verhinderndes, sondern als unterstützendes Element, dann müssen wir lernfähig bleiben. Wir müssen mitziehen! Aber ich weiss natürlich, was du meinst. Die Gen Z hat die Freiheit nicht erfunden (lachen), aber sie kämpft sehr stark für die Freiheit.

Laura Rivas Kaufmann: Und gerade im Iran lebt diese Revolution auch ganz fest von ebendieser Generation Z, die jetzt irgendwie den letzten Tropfen auf den heissen Stein gebracht hat, indem sie in Massen protestieren.

Nina Karimy: Ich liebe und lebe für die nächsten Generationen. Es gibt ja bereits eine Generation danach. Ich sehe Videos von Kindern, die schon «Jin Jiyan Azadi» rufen. It's coming, it's coming!