by Fadrina  Arpagaus
published on 27. October 2022

Fadrina Arpagaus: Ich würde gerne mit einem kleinen Reihum-Kennenlernen beginnen: Ihr beschreibt an der Person, die ihr hier in der Runde am besten kennt, was ihr an ihr am meisten mögt.

Muammer Kurtulmus: Also was ich an Onur mag?

FA: Genau.

M: Ich mag vieles an ihm, er ist ja mein Sohn. Da ist sicher auch etwas von mir dabei, das ist ja unvermeidlich, wenn man etwa so 20, 21 Jahre zusammen...

Onur Can: 19.

M: Wie meinst du, 19?

O: Mit 19 bin ich ausgezogen.

M: Das stimmt, ja. Ich denke, Onur weiss, was er möchte und ist auch bereit, sich dafür anzustrengen, das habe ich in letzter Zeit mit der Schauspielerei gemerkt. Er will Schauspieler werden, und ich meinte zu ihm: «Hey, du wolltest doch früher Fussballer werden wie ich!» Er hat das trotzdem weitergezogen und nach dem Gymi-Abschluss alles in diese Richtung investiert. Auch sonst er ist wirklich ein sensibler Typ und sehr empathisch.

O: Dankeschön. Jetzt ich bei Finnigan. Ich vergleiche halt oft mein 14-jähriges Ich mit Finnigan und denke immer: Krass, mit 14 hätte ich mich das nie getraut. Das Selbstbewusstsein, das du besitzt, ist wirklich bemerkenswert. Dass du so eine Selbstverständlichkeit in dir hast, auch wenn du über Dinge sprichst, die dir nicht so gefallen oder dich traurig machen. Das macht die Arbeit mit dir einfacher, man kann mit dir auf Augenhöhe sprechen, und das finde ich sehr cool an dir.

Finnigan Inan: Danke. Jetzt ich über meinen Vater, oder? Er ist natürlich mein Vater und wir streiten auch manchmal, aber was ich an ihm sehr mag, ist, dass er, auch wenn er genervt ist, immer über alles Witze machen kann. Wir lachen viel zusammen, und das habe ich halt sehr gern an ihm.

Cihan Inan: Ich kann das nur zurückgeben. Ich bin alleinerziehender Vater, seit 2018 leben wir ausschliesslich bei mir. Finnigans Mutter lebt in Berlin, und es ist für mich eine grosse Verantwortung, Mutter und Vater gleichzeitig zu sein. Wir müssen uns immer wieder zurechtfinden, manchmal gelingt’s, manchmal nicht, und die Pubertät kommt ja auch noch dazwischen, das macht alles noch ein bisschen schwieriger, ist ja normal.

FA: Dass ihr zu zweit seid, ist natürlich auch interessant für unser Stück, weil im Stück die Mutterposition eine abwesende ist und nur in Gedanken oder Erinnerungen vorkommt. Das bedeutet etwas für diese Familie. Vater und Sohn organisieren sich anders und haben andere Bezüge untereinander, als wenn die Mutter noch da wäre. Was heisst das denn für euch, dass du, Cihan, wie du sagst, «Vater und Mutter» zugleich bist? Ist das ein anderes Zusammenleben für euch, als wenn eine weiblich sozialisierte Person Teil der Familie wäre?

C: Meine Ex-Frau hat eine ganz andere Emotionalität als ich. Und Finnigan fehlt wahrscheinlich manchmal das Emotionale, das kommt bei mir weniger zur Geltung. Ich liebe ihn ja über alles, aber trotzdem bin ich eher der funktionierende, rationale, organisierende Teil der Beziehung, ich koche, ich wasche – das kann er ja noch nicht so gut alleine.

F: Mach ich doch jetzt schon!

C: Zum Kuscheln, das merk ich – das ist jetzt sehr ehrlich –, da fehlt mir noch der Bezug. Ich weiss, dass ich das nicht so erfülle, wie sich Finnigan das wahrscheinlich wünscht. Oder wie er sich das als kleines Kind gewohnt war.

FA: Wie geht ihr denn mit den ganzen Emotionen um, die das Leben erzeugt? Wenn ihr zum Beispiel Sorgen habt oder wenn ihr besonders glücklich seid, wie teilt ihr eure Gefühle? Oder sitzt ihr Probleme einfach aus und redet nicht darüber?

F: Ich geh jetzt nicht mit jedem Problem zu ihm, sondern denke meistens alleine darüber nach. Okay, kann ich das vielleicht irgendwie lösen, wie mach ich das? Ich überlege und grüble ein bisschen. Aber wenn es wirklich ein grosses Problem ist, das mich belastet, dann ist er die erste Person, zu der ich gehe.

C: Ja, es ist wie mit den Gefühlen… Ich denke immer, der Tag hat eben nur 24 Stunden, Finnigan muss auch schlafen, und unser Timetable ist so eng gefasst, dass ich manchmal vielleicht vergesse, zu fragen, was denn emotional passiert. Meistens frage ich nicht nach, sondern warte, bis er zu mir kommt. Weil die Gefühlsebene nicht so das ist, wo ich jetzt sofort... Also ich weiss nicht, wie es bei euch ist…?

M: Ähnlich, würde ich sagen. Ich bin eher der Typ Kopfmensch, Emotionen sind bei mir eher im Hintergrund. Ja, das ist keine Stärke von mir. Ich glaube, wir sind ziemlich offen zueinander, wir können wirklich über vieles reden, aber grundsätzlich bleibt das Ganze eher auf Kopfebene.

FA: Wie gehts dir damit, Onur?

O: Ja, ich kann das eigentlich nur unterschreiben. Jedes Thema, das ich mit meiner Mutter bespreche, bespreche ich auch mit dir. Bei mir läuft es so: Wenn ich emotionale Hilfe oder einen Ratschlag brauche, gehe ich zu meiner Mutter, und wenn ich Ehrlichkeit brauche, komme ich zu dir.

M: Mhm... Aber ich hätte ehrlich gesagt schon gerne mehr Emotionalität in der Familie gehabt, einfach für mich als Person. Ich merke, das fehlt mir. Vermutlich bin ich so sozialisiert, in einer traditionellen Familie, der Vater arbeitete intensiv, die Mutter machte den Haushalt. Zeit für eine emotionale Entwicklung hat es kaum gegeben. Dann bin ich noch Jungfrau im Sternzeichen, die sind eben Kopfmenschen (lacht) - aber ich hätte wirklich gerne mehr Emotionalität gelebt in unserer Familie.

C: Ich finde es spannend, was du jetzt sagst, Muammer, wie die eigene Emotionalität mit der persönlichen Familiengeschichte zusammenhängt. Bei uns war es ähnlich, wir waren fünf Kinder, mit einer Mutter, die sehr emotional war und traditionell alles im Haushalt erledigt hat, der Vater hat immer gearbeitet. Dieses Bild hat man halt als Kind schon mitgekriegt. Und dann aber, wenn man dann selber Vater werden möchte, denkt man ein bisschen anders, hat aber vielleicht gar keine Handhabe dafür und machts halt ähnlich oder wieder genau gleich wie die Eltern, rutscht da wieder in alte Muster rein.

Erst, als ich selbst Vater geworden bin, habe ich versucht, für meinen Vater ein guter Sohn zu sein. Wir hatten eine schwierige Beziehung, und ich habe erst sehr spät meine Gefühle für ihn entdeckt. Erst als er starb, konnte ich ihm sagen, dass ich ihn gern habe, das ging wirklich erst, als er auf dem Sterbebett lag. Ich finde, man muss unbedingt diese emotionalen Brücken zu seinen Kindern bauen – aber ich konnte selbst erst damit beginnen, als ich angefangen habe, mich mit meinem Vater emotional zu finden. Die Beziehung zu Finnigan ist immer noch oft funktional, weil es so viel Arbeit bedeutet, darum kann ich es schon verstehen, wenn du sagst, Muammer, du würdest dich gern besser emotional ausdrücken können, und ich glaube auch, dass ich das gerne würde.

M: Mir fehlt das auch für mich persönlich und nicht nur, weil ich denke, dass andere darunter leiden.

C: Ja, ich weiss, was du meinst.

FA: Ihr beschreibt ja beide ein klassisches Bild von patriarchal geprägter Männlichkeit. Würdet ihr sagen, das hängt mit eurer Sozialisierung zusammen, in der Emotionalität abgewertet wurde, dass ihr euch bis heute schwertut, in eine emotionale Praxis zu kommen?

C: Das hat bei mir sicher mit meiner Geschichte zu tun, ja. Ich bin in der Schweiz geboren, trotzdem war ich immer das «Ausländerkind», ein «Fremder». Damals in den 70er-Jahren musste man ja noch zur «Fremdenpolizei», was für ein Wort. Emotionen zeigen wäre da wie eine Schwäche im System erschienen. In diesem Schweizer System im Kanton Aargau damals, da musstest du halt einfach funktionieren, also immer gut in der Schule sein, der Beste sein, keine Schwäche zeigen. So bin ich aufgewachsen. Das hat dazu geführt, dass ich immer erfolgreich war, aber die Emotionen nie an erster Stelle standen.

M: Ja, ich denke, so war es auch bei mir. Ich bin in einer Grossfamilie geboren, wir wohnten zusammen mit meinem Onkel, seiner Frau, meiner Grossmutter und einer Tante in einer Vierzimmerwohnung, sieben, acht, neun Leute! Den Eltern und Grosseltern mussten sich immer alle unterordnen, die Frauen, aber auch die Männer, da wurden Emotionalitäten nicht gelehrt. Eben eine klassisch patriarchale Familie.

C: Wir sind wirklich in diesem patriarchalen Denken sozialisiert worden. In einer türkischen migrantischen Familie in der Schweiz war das halt auch ein Schutz. Das gab unserer Situation Stabilität, und wenn wir diese Stabilität auch noch hinterfragt hätten, wäre es kompliziert geworden.

FA: Wie ist es bei euch, Finnigan und Onur? Habt ihr Wege gefunden, wie ihr - vielleicht anders als eure Väter - Emotionen ausdrückt, körperlich oder mit Worten? Oder geht es euch ähnlich wie euren Vätern?

O: Durch meinen Vater, also durch dich, konnte ich viel beobachten und reflektieren. Dadurch habe ich auch gelernt, was ich nicht möchte. Mit 16,17 merkte ich: Ok, ich habe gewisse Eigenschaften von dir, aber ich habe auch die Chance, sie zu hinterfragen. Diese Chance hattest du wahrscheinlich nicht. Ich hatte emotional gesehen ähnliche Vorbilder wie vielleicht dein Vater, aber ich kann sie anders reflektieren. Deswegen habe ich das Gefühl, ich drücke mich sehr anders aus als du. Beziehungsweise hängt es von meinem Umfeld ab. Ich habe Freund*innen, da kann ich offen sein und über alles reden und andere, da geht das gar nicht. Ich denke manchmal, das ist so eine Männereigenschaft, dass man nur zwei Gefühle zeigen darf oder haben sollte: Wut und Freude. Oder Wut und Frustration, sonst nichts. Wut kann man auch ohne zu reden zeigen, durch rumschreien oder etwas kaputt machen, das gilt als total männlich. Aber manchmal werde ich wütend und kann nicht darüber reden, das zeigt sich dann anders, durch weinen oder sich zurückziehen. Aber um die Frage zu beantworten: Reden hilft sehr.

FA: Und du, Finnigan? Wie zeigst du Gefühle?

F: Also ich muss ehrlich sagen, ich zeige meine Gefühle anderen Leuten nicht, sondern ich bin eigentlich, wenn es um Gefühle geht, lieber mit mir allein. Und wie gesagt, ich gehe mit meinen Gefühlen auch nicht unbedingt zu meinem Vater.

FA: Aber was macht ihr zum Beispiel, wenn ihr liebevoll oder zärtlich zueinander sein möchtet?

F: Weiss ich jetzt gar nicht so richtig. Eigentlich leben wir einfach zusammen, sind zusammen in einer Wohnung, gucken manchmal einen Film. Und dann sind es halt die Sachen, die wir zusammen machen, die Zärtlichkeit und Liebe in sich haben. Es scheint nicht heraus, aber wir wissen es beide. Wenn wir ins Kino gehen und einen coolen Film anschauen, dann tauschen wir uns danach aus, das ist wie ein Annähern von uns beiden. Wenn zum Beispiel einer von uns sagt: «Ah, ja, genau, das habe ich auch gedacht...», dann sind wir uns nahe. Und nicht, indem wir irgendwie so was sagen wie «Oh ja, ich habe dich total lieb».

FA: Die Frage ist für alle: Wie drückt ihr, nicht nur in der Familie, sondern auch mit anderen Menschen, Zärtlichkeit aus? Mit Berührungen, mit Worten?

C: Eine Berührung zwischen uns gibt es jeden Tag, wenn Finnigan zur Arbeit – äh, Schule, jetzt sag ich schon Arbeit (lacht) geht. Ich liege dann noch im Bett, er gibt mir einen Kuss und sagt «Tschüss», und abends, bevor er ins Bett geht, machen wir dasselbe Prozedere. Das ist von ihm gekommen, das habe nicht ich eingeführt. Wenn Finnigan sagt, dass ich immer mit Witzen auf Dinge reagiere, dann ist das vielleicht auch deswegen, weil ich mit Emotionen nicht so gut umgehen kann. Aber er kann das eigentlich immer sehr gut benennen. Auch körperlich hast du keine Scheu, gell, du konntest zum Beispiel meine neue Freundin gleich umarmen?

M: Ich kann meine Emotionen körperlich nicht so gut zeigen. Umarmen schon, aber es ist nicht meine Stärke. Ich versuche eher, mich verbal auszudrücken. Es ist nicht so, dass wir uns gar nicht berühren, aber im Vergleich zu Onurs Mutter mache ich das eigentlich sehr wenig.

O: Ich denke auch nicht, dass Körperlichkeit eine meiner Stärken ist. Ich brauche viel Zeit, bis ich mich bei meinen Freunden und Freundinnen auf dieser Ebene öffnen kann, ich weiss nicht, ob ich jetzt einfach so bin, oder woher das kommt. Ich arbeite auf jeden Fall daran, weil ich das an mir nicht so schätze. Und bei uns in der Familie ist es halt... Ich kenne gar kein anderes Verhältnis. Wir reden zusammen, wir machen Witze, wir beschenken uns. Ich glaube, beschenken ist auch ein Weg, Zärtlichkeit zu zeigen, vor allem bei Männern. Ich habe aber eine andere Zärtlichkeit mit meiner Mutter oder mit meiner Schwester.

M: Aber ich habe mich auch weiterentwickelt, das kann ich schon sagen...

O: Ja, das kann ich auch sagen!

FA: Wir haben jetzt darüber gesprochen, wie Menschen in patriarchale Rollen richtiggehend hineinrutschen und erst später in ihrem Leben dazu kommen, diese Sozialisierung zu reflektieren – die einen früher, die anderen später, je nach Generation und gesellschaftlichem Umfeld. Mich würde interessieren, ob ihr in den Gruppen, in denen ihr euch bewegt, sei das mit Freund*innen, bei der Arbeit oder beim Fussball, über Männlichkeiten sprecht und euch fragt, was «Männlichkeit» sein kann oder soll. Wo ist das Nachdenken über Männlichkeit Teil eurer Lebensrealität?

M: Das ist schon immer wieder Thema unter meinen männlichen Freunden. Wir haben uns ja alle ein bisschen anders entwickelt. Ich gehöre zu einer Generation von Türk*innen, die ziemlich spät in die Schweiz gekommen ist, so um die dreissig. Hier haben wir wirklich sehr viel Neues gelernt. Was in der Türkei völlig daneben war, wurde in unserem Leben immer normaler. Zum Beispiel Homosexualität – das war dort, wo ich herkomme, in Istanbul, ein Randthema, obwohl ich schon dort linksorientiert war und solchen Themen gegenüber aufgeschlossen. Mit meinen männlichen Freunden hier spreche ich immer wieder darüber, wie wir geworden sind, wie wir sind, wir stammen viele aus ähnlichen Familienstrukturen. Und für mich als Sozialarbeiter ist das sowieso auch ein Thema in meiner Arbeit.

O: Ich teile die Menschen in meinem Umfeld immer in die Kategorien «Man kann mit ihnen über Männlichkeit reden» und «Man kann das nicht» ein. In die «Nicht»-Kategorie gehört zum Beispiel mein Fussballverein. Es gibt dort sicher auch einzelne Männer, mit denen ich über solche Themen sprechen könnte, aber im Grossen und Ganzen wären da zu viele Fragezeichen. Ich glaube, viele möchten sich gar keine Gedanken über Männlichkeit machen oder sie hinterfragen. Dann habe ich auch Freunde, die nehmen ihre Sozialisierung einfach so hin, das ist jetzt für die einfach so, wie es ist. Dann gibt es aber auch enge Freund*innen und meine Freundin, mit denen ich offen über Geschlechterrollen sprechen kann. Ich mag es auch, darüber zu sprechen, das ist wichtig für mich. Ich habe auch schon Leute, von denen ich dachte, sie würden mir nicht zuhören, auf das Thema angesprochen, und das war immer interessant: Zum Beispiel war ich gerade in der Türkei, meine Verwandten dort sind eher traditionell und religiös, ihr Familienbild ist klar gesetzt. Ich habe das Thema bei meinem Cousin immer wieder aufgebracht und gemerkt, dass er richtig gegen mich kämpft. Er will nicht einsehen, warum ich unsere Rollen in Frage stelle, er sagt dann: «Ne, das geht nicht, ihr wollt uns die Männlichkeit wegnehmen» und so weiter. Aber ich habe auch Freunde dort, die bereit für solche Gespräche waren.

C: In dem Umfeld, in dem ich mich bewege, ist sind Männlichkeitsfragen auch Thema, ich habe auch meine eigene Geschichte dazu. Ich habe mich schon sehr früh von meiner traditionellen Familie abgewandt und meine Erfahrungen mit dieser Welt, dieser Form und Struktur von Männlichkeit gemacht und sie auch abgelehnt. Aber interessant ist, dass ich durch meine Vaterrolle wieder zu einem konservativeren Rollenmuster zurückfinde und ein Bild lebe, das eigentlich patriarchal ist. Es ist, als hätte ich zwei Geschichten mit dem Thema Männlichkeit: meine eigene und die mit meinem Sohn. Für meinen Sohn erfülle ich ein Klischeebild von Vater, aber meine eigene Geschichte bezüglich Männlichkeitsfragen ist anders, sehr offen. In meinen Freundesgruppierungen ist es sowieso immer Thema, dass wir mit Klischees von Geschlechterrollen und Sexualität brechen müssen.

Und ich denke mir, beim Fussball wird Finnigan auch bestätigen können, dass es ähnlich ist wie bei dir, Onur. Finnigans Stimme wird immer tiefer, wenn mit seinen Fussball-Kollegen spricht.

FA: Wirklich?

C: Ja! (lacht)

FA: Erzähl mal!

C: Auf dem Platz spricht er so… (ahmt tiefe Stimme nach)

F: Ja, weil ich…

C: Ich meine es nicht böse!

F: Ja, wenn ich schreie, mache ich ja nicht… (schreit mit hoher Stimme)

C: Wieso nicht?

F: Das klingt ja total komisch!

C: Es ist sehr interessant, ich beobachte das, wenn ich an der Seite des Platzes stehe und dem Spiel zuschaue. Im Gespräch mit Fussballkollegen ist deine Stimme drei Stufen tiefer.

FA: Also verhältst du dich auf dem Fussballfeld anders als sonst?

F: Ja, das ist ein anderes Leben sozusagen.

C: Das ist ein total anderes Leben! (lacht)

F: In der Schule und im Fussball ist es komplett anders.

F: Kannst du das beschreiben? Was ist denn anders?

C: Ja, das würde mich auch interessieren. Fussball ist ja schon so ein bewusstes Männlichkeitsding…

F: Also ehrlich gesagt interessiere ich mich noch nicht so richtig für diese Dinge. Ich fokussiere mich einfach auf die Sachen, die mir wichtig sind, zum Beispiel, was ich für die Schule machen muss, Fussball und so. Momentan denke ich nicht über Männlichkeit, Weiblichkeit oder Homosexualität nach, ich bin da noch nicht angelangt. Ich rede einfach eher über die Sachen, die gerade anstehen, zum Beispiel «Ah, ja, hast du gesehen, wir müssen das doch machen bis morgen», solche Sachen, ich rede nicht über Männlichkeit und so. Und im Fussball habe ich noch nicht mitbekommen, dass das irgendjemand gemacht hat.

M: Aber weisst du, bei diesem Mannschaftsgefühl beim Fussball geht es ja immer darum, zu gewinnen. Manchmal ist die Situation mit dem Gegner ziemlich angespannt, und dann entsteht aus irgendeinem Grund oft eine Wut den anderen gegenüber, dann fühlt man sich als Mannschaft geschlossen, überlegt sich, wie man gegen die anderen vorgehen kann, ihnen zeigen, wer sozusagen Herr auf dem Platz ist…

F: Ja, das stimmt schon.

C: Ich bin ja entsetzt über diese Aggressivität in den Fussballclubs. Ich sage manchmal zu Finnigan: «Ich lass dich nicht mehr in dieses Training, wenn du dort so wirst», er ist dann für mich ein fremdes Kind. Ich musste mal seiner Mannschaft ins Spiel reinschreien: «Hört jetzt mal auf, die anderen so anzufassen» – dabei war ich doch eigentlich für sie. Diese Gewalt und Aggressivität hat viel mit gelebter vermeintlicher Männlichkeit in unserer Gesellschaft zu tun, und das ist etwas, was ich komplett verneine und wo ich Finnigan wirklich einen anderen Umgang beibringen möchte.

FA: Wir haben jetzt viel darüber gesprochen, was Männlichkeit sein kann und welche Erfahrungen ihr damit gemacht habt. Zum Abschluss möchte ich euch gerne fragen, was für Männer ihr gern sein möchtet? Frei von Rollenbildern, in die ihr reingewachsen seid.

C: Ich bin jetzt 53 und mein Leben hat Hochs und Tiefs gehabt. Erstmal denke ich mir, dass ich mir als Mann nicht mehr so von der Gesellschaft das «Männliche» aufdrücken lassen würde wollen, also zum Beispiel das Geldverdienen müssen, das viele Arbeiten und Erfüllen. Ich möchte im dritten Akt meines Lebens zu mehr Frieden mit mir finden.

Und ich möchte sehen, was ich noch weitergeben könnte an Finnigan, wie ich auch andere Seiten des Männlichen wertschätzend darstellen kann und ihm beibringen, dies auch zu sehen. Also ihm die Augen zu öffnen. Ich weiss, dass unsere Gesellschaft immer noch sehr stark Muster vorgibt und verengt, besonders auch bei Jungs. Da müssen sie halt leider durch, das ist so ein Kanalrohr, da müssen sie einfach leider durch. Ich kanns nicht sprengen, aber wenn Finnigan am Ende dieses Rohrs rauskommt, dann stehe ich da und werde ihm sagen: «Guck, es gibt noch viel mehr als das dieses enge Rohr. Da gibt’s noch viel mehr zu sehen.»

F: Momentan passt es für mich so, wie die Situation um mich herum ist. Ich möchte einfach nicht auf die schiefe Bahn geraten. Aber ich glaube nicht, dass das passiert, im Moment konzentriere ich mich so auf Fussball, aufs Theater, auf die Schule, dass ich gar nicht genug Zeit für etwas anderes habe. Auch wenn es jetzt nicht gerade realistisch ist, dass ich Fussballspieler werde, wünsch ich mir das, oder dass ich einfach noch ein bisschen spielen kann und fit bleibe.

FA: Und sonst wirst du halt Schauspieler.

M: Ich möchte diesen Zwang zur Männlichkeit loswerden, ich möchte nicht immer mutig sein, nicht immer alle Probleme zuerst lösen müssen. Ich möchte mit allen Menschen und Dingen, die auf dieser Welt passieren, lockerer umgehen und mehr auf andere und auf mich schauen. Das gelingt mir manchmal, und dann merke ich, dass mir das gut tut. Ich will mich von vielen gesellschaftlichen Zwängen befreien und darunter auch von vielen so genannt männlichen Eigenschaften.

O: Ich kann mich Cihan und Muammer anschliessen. Ich möchte nicht auf einen Mann reduziert werden, also nicht nur als männliche Person angesehen werden, von der erwartet wird, dass sie sich als Mann durchs Leben bewegt. Was ich in meinen 21 Jahren an toxischer Männlichkeit erlebt habe, möchte ich wieder loswerden. Und Männlichkeiten neu denken und reflektieren. Ich denke, das wird ein langer Prozess, aber auch ein schöner und wichtiger, und ich glaube, auch ein unvermeidbarer. Das möchte ich meinen Kindern oder einfach allgemein der Gesellschaft weitergeben: Menschen nicht als Geschlechter zu sehen, sondern als Menschen.