by Katinka Deecke
published on 20. September 2022

Katinka Deecke: Mal angenommen, es gäbe Trolle. Was unterscheidet Trolle von Menschen?

Wiebke Mollenhauer: Ich glaube, Trolle unterscheiden sich von Menschen vor allem durch ihre Wahrnehmung. Sie nehmen viel mehr wahr als Menschen. Bestimmt gibt es auch Dinge, die sie nicht wahrnehmen können, zum Beispiel könnte ich mir vorstellen, dass sprachliche Feinheiten der Menschen ihnen entgehen. Allerdings, so, wie ich sie mir vorstelle, haben Trolle andere Sinne und Fähigkeiten, die einen Vergleich mit Menschen schwer möglich machen. Sie sind scharfe Beobachter*innen, können sehr gut riechen und Informationen oder Reize, die Menschen nicht wahrnehmen können, erreichen sie.

Christopher Rüping: Vielleicht könnte man sagen: Trolle haben ein stark ausgeprägtes natürliches Bewusstsein. Bei ihnen ist das weit entwickelt, was bei uns Menschen nur noch rudimentär vorhanden ist und was wir «Instinkt» nennen. Trolle interessieren sich vermutlich weniger für kulturelle Errungenschaften wie Rhetorik, Kalligrafie und Trigonometrie. In den meisten anderen Feldern unmittelbaren Erlebens sind sie den Menschen aber überlegen. Sie sind also weder Neandertaler noch keulenschwingende Dumpfbacken – von ihnen geht eher die Überlegenheit und Gefahr aus, die auch Aliens in den Science-Fiction-Filmen oft verkörpern: eine unbekannte Lebensform mit Fähigkeiten und Kenntnissen, die uns fremd sind. Nur dass die Trolle eben nicht aus der Tiefe des Weltalls, sondern aus der Tiefe der Wälder zu uns kommen.

KD: Du warst grad in Norwegen, wo Trolle noch mal ganz anders zum kulturellen Selbstverständnis gehören als in der Schweiz. Hast du dort was über Trolle erfahren?

CR: Ja, Trolle sind dort sehr präsent im kollektiven Bewusstsein. In Norwegen weiss jedes Kind, dass Trolle Gold mögen, Angst vor Blitzen und Gewitter haben und den Menschen ihre Kinder klauen bzw. den Menschen ihre Trollkinder in Menschengestalt unterjubeln, sogenannte Wechselbälger. Im Osloer Nationalmuseum gab es sogar eine Sonderausstellung zu Trollen. Das muss man sich mal vorstellen: Trolle im Zürcher Kunsthaus! Vielleicht sind Trolle hoch im Norden deswegen so viel prominenter, weil in den nordischen Ländern unglaublich viel Platz ist, so viel unerschlossener Naturraum – viel Raum also für Trolle.

KD: Auch in der Schweiz gibt es ja viel unbewohnte Fläche, Platz für Trolle gäbe es in den Bergen zuhauf.

CR: Ja, das stimmt, da würden die Trolle sich auch wohlfühlen. Aber die Schweiz ist eben auch viel kleiner, und manche Teile der Natur sind hier bereits zu einem kulturellen Raum geworden, eingezäunt, abgesteckt, erobert.

WM: Selbst in ganz abgelegenen Wäldern stösst man auf Treppchen, die den Auf- oder Abstieg erleichtern sollen, und auf angelegte Wege. Überall sind Spuren von Menschen…

KD: Wofür stehen die Trolle denn in dieser Inszenierung? Sind sie eine Metapher, die man aufschlüsseln kann?

WM: Wahrscheinlich gibt es da eine Innen- und eine Aussenperspektive. Von innen, als Trollin, die ich spiele, denke ich, dass irgendwas falsch mit mir ist. Wir haben auf der Bühne ja zwei Trolle, und Tina, die Trollin, die ich spiele, fühlt sich unter Menschen total daneben und falsch. Wohingegen der andere Troll, gespielt von Thomas Wodianka, denkt, dass er der einzig Richtige ist und die Menschen alle falschliegen.¹ Auf jeden Fall liegt irgendwas quer, passt nicht rein, ist unerlöst. Jede Kommunikation schlägt fehl, das Bild der Menschen entspricht nicht dem eigenen Bild, und jeder Versuch, diese beiden Bilder einander anzunähern, geht gehörig schief. Es bleibt immer eine Distanz, vielleicht sogar Feindseligkeit. Ich habe mich ziemlich viel mit Menschen und Gruppen beschäftigt, die aussen vor bleiben, zum Beispiel mit Leuten im autistischen Spektrum oder von Mobbing Betroffenen. Viele dieser Leute gehen durch verschiedene Phasen, versuchen zunächst, sich zu assimilieren und zu gefallen, und irgendwann geben sie auf, ziehen sich innerlich oder auch äusserlich zurück. Zumindest bei Tina ist das so. Sie gehört nicht dazu, ist einsam, auch weil sie so viel über die Menschen weiss, was die Menschen selber nicht von sich wissen. So viel Wissen grenzt aus.

KD: Und was ist die Aussenperspektive?

WM: Zunächst mal muss man erkennen, dass es überhaupt eine Aussenperspektive gibt! Viele Menschen sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu merken, dass es ganz viele Leute gibt, die nicht dazugehören dürfen. Die werden dann abgestempelt als seltsam oder komisch oder unintelligent oder gefährlich.

CR: Für mich sind die Trolle Stellvertreter*innen für jedes Individuum oder jede Gruppe von Menschen, die sich in Differenz zu der sie umgebenden Mehrheit befindet. Sie haben all die Probleme, die Minderheiten in dominanten Gesellschaften haben. Lange Zeit versucht man mit aller Mühe, dazuzugehören, man will nicht anders sein. Aber das klappt einfach nicht, und dann hört man auf und zieht sich zurück. Aber das funktioniert auch nicht, und dann wird man unsichtbar oder unglücklich oder einsam.

WM: Oder radikal.

CR: Ja, genau. Und es gibt noch einen zweiten Aspekt. Trolle und Menschen haben lange Zeit parallel gelebt: Die Menschen waren in Städten und Dörfern, auf Eisenbahnschienen und Autobahnen und die Trolle in den Wäldern, den Flüssen, den Meeren, auf den Gipfeln, unter der Erde, in den Höhlen. Aber nach und nach haben die Menschen angefangen, ihren Lebensraum auszuweiten und die Natur exzessiv zu kultivieren und zu unterwerfen. Dabei wurde der Bereich der Trolle immer kleiner, ist immer mehr geschrumpft, bis ihnen nichts mehr blieb. Ausser der Angriff – das Klauen der Kinder, das Anzünden der Siedlungen. So gesehen sind die Trolle die Racheengel der Natur, die sich ihrer völligen Unterwerfung entgegenwerfen.

KD: Was ist mit Trollen als Kämpfer*innen der Entkolonialisierung? Als Rächer*innen der von kolonialen Imperien getöteten Menschen der letzten Jahrhunderte?

CR: Ja, natürlich! Menschen gegen Menschen, Ausgebeutete gegen Ausbeuter*innen. Oder eben Natur gegen Menschen. Oder noch was anderes. Letzten Endes ist nicht so sehr die Frage, was wir auf der Bühne behaupten, sondern, was man von aussen reinliest. Ich halte die dekoloniale Sichtweise für eine von verschiedenen möglichen und gültigen Lesearten dieses Stoffs. Nicht die einzige, aber eine mögliche.

KD: Wiebke, welche Rolle spielt die Natur für dich an diesem Abend?

WM: Für Tina ist sie, glaub ich, ein Fluchtraum vor den Menschen. Ich habe einen Bekannten aus Schottland, der vor einigen Jahren seine kriminelle Vergangenheit hinter sich gelassen hat und nun superviel Zeit in den Wäldern verbringt. Den hab ich mal gefragt, was er an der Natur und den Tieren so schätzt, und er hat geantwortet: «They don’t judge.» Tina wird in der Natur nicht beurteilt, sie muss sich nicht mit sich selbst beschäftigen, sondern kann sich einfach nur verbunden fühlen. Ich kann das gut verstehen. Ich verbringe viel Zeit mit Tieren, weil mich diese andere Form der Wahrnehmung interessiert. Und nicht nur die Wahrnehmung, auch die Kommunikation von Tieren ist ganz anders als die von Menschen, es ist aufregend, da einzutauchen und sich zu fragen, wie Tiere sich selber in der Welt verorten, wie sie denken, in welchen Strukturen sie leben. Als Menschen sehen wir immer nur die Oberfläche, «Ach süss, das kleine Wuschel», aber was machen Tiere eigentlich hier?! Ich habe ein grosses Interesse und eine Neugier für Tiere, und Tina auch, glaube ich. Wahrscheinlich ist Tina die menschliche Kommunikation genauso fremd wie für uns Menschen die Kommunikation der Tiere. Tina ist wahrscheinlich für eine eigene Art der Kommunikation mit anderen Trollen geschaffen, die sie aber nicht wirklich kennenlernen durfte, da sie als Kleinkind aus der Welt der Trolle in die Welt der Menschen verfrachtet wurde. Wie sähe die Kommunikation mit anderen Trollen aus? Gegenüber Tieren hat Tina diese bedrohliche Fremdheit jedenfalls nicht. In Bezug auf Hunde kann ich das gut verstehen, denn mit Hunden versuche ich auf eine andere Art als mit Menschen zu kommunizieren, und natürlich kommunizieren die Hunde auch mit mir auf andere Art als Menschen. Wir sind völlig verschiedene Wesen, und beide Seiten versuchen in diesem Bewusstsein eine Brücke zu schlagen. Das gelingt mal mehr, mal weniger gut, aber von beiden Seiten sehe ich den eindeutigen Versuch, über das offensichtliche und akzeptierte Anderssein hinaus, über das Wissen um komplett verschiedene Sprachen und Wirklichkeiten hinaus einen Austausch zu finden. Natürlich, die Kommunikation von mir als Mensch mit einem Hund kann nur sehr begrenzt stattfinden, und so stelle ich mir vor, dass auch die Kommunikation zwischen einem Troll und einem Menschen ähnlich begrenzt sein muss. Aber Tina ist ja eine Trollin, die adoptiert und als Mensch erzogen wurde, das heisst, sie ist mit all den üblichen Erwartungen menschlicher Eltern an eine Tochter aufgewachsen, und sicher hat auch die Gesellschaft alle möglichen ausgesprochenen oder unausgesprochenen Erwartungen an sie als Mitmensch, als Mitbürgerin und so weiter gestellt. Ich kann mir vorstellen, dass dadurch auch sie selbst Erwartungen an sich entwickelt hat, denen sie gerecht werden möchte. Das heisst, es entsteht ein ungeheurer und am Ende sicher nicht erfüllbarer Erwartungsdruck von allen Seiten, zu dem die Trollin unter Menschen sich verhalten muss. Auch die Kehrseite, dass die «anderen Menschen» manche Dinge einfach nicht checken, macht ein Gefühl der Distanz zwischen Trollin und Menschen für mich sehr nachvollziehbar. Im Grunde geht diese Frage nach artenübergreifender Kommunikation ja weit über Trolle und auch über Tiere hinaus. Auch Bäume, Pflanzen, Pilze, alle Lebewesen kommunizieren, und man kann sich, wenn man will, darauf einlassen. Vielleicht kann man sich mit diesen Lebewesen sogar verbundener fühlen als mit den Menschen. Die ungeheure Grausamkeit von Menschen, in ganz kleinen Dingen und in den grossen unaussprechlichen Dingen, verwirrt mich manchmal so, dass ich einfach nicht weiss, wie ich damit umgehen soll und weggehen muss.

KD: Aber kann man diesen besonderen natürlichen Raum der Natur einfach so ins Theater übertragen? Immerhin steht hier ja irgendwann ein Wald auf der Bühne.

CR: Nein, nicht einfach so. Nur mit Gewalt. Der Theaterraum ist ja erst mal ein Raum, der sich so weit wie möglich der Natur verwehrt: Es gibt hier kein natürliches Licht, keine Fenster, die man öffnen könnte – Wasser, Erde, Pflanzen und lebende Tiere sind alles ernsthafte Bedrohungen für ein Theater. Das Theater verwehrt und verschliesst sich gegen die Natur. Ich meine, wenn man jetzt einen echten Wald, ein funktionierendes Ökosystem in den Schiffbau bringen wollen würde, müsste man schon das ganz grosse Besteck auffahren: Erde, Regenmaschinen, Pflanzen, Bäume...

WM: Moos.

CR: Moos, Regen, Insekten. Wenn man all das in den Schiffbau bringen würde, wäre das der Albtraum fürs Theater. Das Theater kommt nicht klar mit Insekten, mit Erde, mit Wasser, mit Trollen… Deswegen ist der Vorgang, einen Wald auf die Bühne zu hieven, kein organischer, fliessender, magischer. Sondern ein brutaler. Einer, der Kraft kostet. Weil er so unwahrscheinlich ist.

KD: Wir erzählen diese Geschichte heute ja in einer Zeit, in der man auch sagen könnte: Das ist weiss Gott nicht die Zeit für Märchen, die Welt ist aus den Fugen, und Märchen sind da keine Antwort, genauso wie...

CR: Na ja, man könnte es auch genau anders sehen und sagen: Es ist unbedingt genau die Zeit für Märchen!

KD: Wie das?

CR: Wir leben heute in einem Strudel der Informationen, der Zahlen, der Newsflashs, der Brennpunktreportagen, in denen alles dokumentiert und kommentiert wird. In dieser Welt, die so unfassbar kompliziert geworden ist und die hier brennt und dort von Bomben zerfetzt wird, die hier vom nächsten Virus eingeholt und dort von sozialen Spannungen von extremer Kraft zerrissen wird, wünscht man sich manchmal sicher ein Theater, das Märchen erzählt, also einfache Geschichten mit allegorischer Kraft. Ich finde also, man könnte sehr gut behaupten, dass diese Zeit Märchen braucht wie nie zuvor. Aber gut. Wir machen hier ja kein Märchen.

WM: Naja, wir erzählen eine Geschichte über Trolle…

CR: Ja genau, aber nicht als Märchen. Unsere Geschichte befindet sich in ständiger, expliziter Spannung zur Realität. Es geht um Trolle am Flughafen von Zürich und nicht um Trolle in Lala-Land.

KD: Theater also gar nicht als Raum, der den Übergang in eine fiktionale Welt gestaltet, sondern im Gegenteil ein Raum, der mit der Realität spielt?

WM: Ja. Wenn man will, kann man im Theater die Realität erleben, ohne sich gleich zu ihr positionieren zu müssen. Man braucht im Theater keinen Schutzschild für die Begegnung mit der Realität, sondern kann sich der vorgespielten Wirklichkeit überlassen und irgendwie frei darüber nachdenken. Man muss sich nicht sofort positionieren oder verhalten, man darf betrachten und sich Zeit zum Empfinden nehmen. Vielleicht geht es darum, im Theater eine Freiheit im Denken zu erreichen, weil man als Zuschauer*in im Theater keine Rolle spielen muss. Anders als in der Realität. Na ja. Vielleicht ist das ein bisschen zu idealistisch.

CR: Find ich eigentlich nicht. Im Theater wird doch immer eine Form von Empathie trainiert. Empathie ist nicht dasselbe wie Sympathie. Ich hoffe, man kann mit diesen Figuren mitfühlen, auch wenn man sie eben nicht sympathisch findet. Jedenfalls sieht man, wenn man euch spielen sieht, im besten Fall für einen kurzen Moment die Welt, in der wir leben, mit den Augen der Figur – in deinem Fall durch Tinas Augen. Wenn man sich auf Tina einlässt, kann man einen flüchtigen Eindruck davon gewinnen, wie es sich anfühlen muss, sich die ganze Zeit falsch in dem Leben zu fühlen, das alle um einen herum anscheinend völlig selbstverständlich führen. Und wie wichtig es ist, Freiräume zu schaffen, in denen sich alle die, denen es wie Tina geht, eben nicht mehr falsch fühlen. Und das ist ja nicht wenig. Klar, das Theater wird bestimmte Fragen nie lösen können. Wenn wir zweifelsfrei wüssten, nach welchen Regeln eine Gesellschaft aufgebaut sein müsste, in der sich alle gleichermassen frei fühlen können, wären wir falsch im Theater und müssten in die Politik. In gewisser Weise ist das unsere zentrale Aufgabe beim Theatermachen: um die Grenzen unseres Mediums zu wissen und um sein Potenzial. Und an beidem nicht zu verzweifeln.

KD: Wiebke, an diesem Abend verläuft die Zeit ja etwas anders als an anderen Theaterabenden. Es gibt keine Zeitsprünge oder Schnitte, sondern es bleibt immer dieselbe Zeit, für das Publikum und für euch auf der Bühne, und auch derselbe Ort, es gibt nicht die Behauptung, dass ihr auf der Bühne auf einmal an einem anderen Ort seid als im Schiffbau. Fühlt sich das anders an als bei Theaterabenden, wo auf der Bühne Zeit und Ort sich ständig ändern?

WM: Ja, ich denke schon. Es muss sich hier ja wirklich eines aus dem anderen ergeben. Vielleicht ist es noch ein bisschen ehrlicher als sonst, weil man wirklich nur das hat, was tatsächlich in dem Raum passiert. Das ist eigentlich auch sonst der Anspruch ans Theater, aber hier ist es vielleicht auf die Spitze getrieben. Und auch mit den anderen Spieler*innen ist man auf eine Weise in Kontakt, die es in der Intensität vielleicht nicht so häufig gibt. Wir versuchen, in höchster Aufmerksamkeit beieinander zu sein, für das, was sich wirklich gerade ereignet, untereinander und mit dem Publikum. Wenn das klappt, ist das ziemlich toll. Aber auch ganz schön schwer hinzukriegen, dass sich die Geschichte wirklich für alle gleichermassen ereignet. Anders als sonst sind wir auf der Bühne nicht im Vorteil, wir haben keine Zwischenräume, in die wir uns können und in denen wir uns aufladen können, sondern es ist wirklich nur da, was da ist. Die Wirklichkeit.

CR: Das Happeninghafte empfinde ich generell als eine spezifische Qualität von Theater. Eine Gruppe von Leuten geht in einen Raum, erlebt in diesem Raum etwas mit einer anderen Gruppe von Leuten auf der Bühne, und danach verlassen sie den Raum wieder. Je mehr es auf der Bühne dabei Schnitte und Zeitsprünge gibt, je mehr nicht-erzählte Zeit es gibt, je häufiger man z.B. sagt: Diese Figur ist in den letzten drei Minuten um zwanzig Jahre gealtert, desto mehr nähert man sich in der Erzählform dem Roman oder dem Film an. An diesem Abend gibt es eine Geschichte, die ohne Schnitte und Sprünge auskommen will, die genau in der Zeit abläuft, in der die Zuschauer*innen sich in der Schiffbauhalle befinden. Ich glaube, ein Teil des Zaubers von Theater liegt genau in dieser Qualität, und an diesem Abend spürt man das vielleicht besonders deutlich. Zumindest erhoffe ich mir das, denn für uns als Gruppe ist das ein echtes Experiment, wir haben so was noch nie gemacht.

WM: Mal sehen, ob es klappt.

CR: Ja, mal sehen, ob das klappt. Die ersten zehn Jahre, die Wiebke und ich zusammen Theater gemacht haben, waren wir zumeist anders unterwegs, sind auf der Bühne ständig auf verschiedene Ebenen gesprungen, hier mal kurz rein, dann hier mal kurz raus, dann wieder hier rein und dann dort, dann vergehen fünfzig Jahren, und dann gehen wir dorthin, und so weiter. Und vor allem gab es eigentlich noch nie integre, beständige Figuren. Die Spieler*innen sind niemals hinter ihren Figuren verschwunden, sind die ganze Zeit präsent geblieben und sichtbar, haben sich ihre Figuren geteilt oder vom Leib gehalten. Heute Abend nun gibt es richtig durcherzählte Figuren von Anfang bis Ende. Wiebke sieht man auf der Bühne nie als Schauspielerin Wiebke, sondern von Anfang bis Ende nur als Troll Tina. Das klingt jetzt erstmal konventionell, aber für uns ist das Avantgarde pur!

¹ Thomas Wodianka hat die Inszenierung leider nach Redaktionsschluss dieses Textes auf Grund einer Verletzung verlassen müssen. Wundern Sie sich also nicht über seine Präsenz in Ideen dieses Textes, trotz seiner Abwesenheit in Border, der Produktion, die derzeit in der Halle des Schiffbaus zu sehen ist.