published on 27. April 2022

Christopher, ist die Familie in Einfach das Ende der Welt eine besondere Familie? Oder ist sie, wenn auch auf ihre spezifische Weise, genau wie alle anderen bürgerlichen Familien?

Christopher Rüping: Das Stück erzählt schon eine sehr spezifische Familie, wobei ich glaube, dass jede spezifische Familiengeschichte voller Themen steckt, die sich verallgemeinern lassen. Die Dokumentation eines individuellen Schicksals interessiert mich nicht besonders, sondern eher die Suche nach dem Allgemeinen im Spezifischen, in diesem Fall zum Beispiel das Ringen um eine wirkliche Begegnung und die Frage, ob eine solche Begegnung überhaupt möglich ist.

Was müsste denn Deiner Ansicht nach geschehen, damit es in dieser Geschichte zu einer ehrlichen Begegnung der beteiligten Familienmitglieder kommen kann?

CR: Einem anderen Menschen offen zu begegnen, ist ja dann leicht, wenn man jemanden gar nicht kennt und sich zuvor auch kein Bild von der Person gemacht hat. Oder genau umgekehrt, wenn man sich so gut kennt, dass man nicht nur ein sehr genaues, sondern ein mit etwas Glück sogar zutreffendes Bild von der anderen Person hat. Zwischen diesen beiden Polen aber ist es schwer. Das Problem der Familie in unserem Stück ist, dass alle glauben, zu wissen, wer der*die jeweils andere ist. Vielleicht ist das sogar generell ein Problem bei Familien – dass man meint, zu wissen, wer der*die andere ist. Und dass all diese Vorstellungen, die man von sich selbst und voneinander hat, echte Begegnungen verhindern. All die Bilder, die jede*r von sich selbst und von den anderen entworfen hat, verdecken die freie Sicht auf das Gegenüber.

Du nennst die Inszenierung ja Teil Ⅰ einer Familientrilogie. Was hat es damit auf sich?

CR: Die Idee ist, in Zürich drei Stücke zum Thema Familie zu machen, und Einfach das Ende der Welt ist nun das erste. Ich mag den Gedanken, mich nicht nur in dieser einen Arbeit mit einem so gewaltigen Thema wie der Familie zu beschäftigen, sondern mich dem Thema über drei Arbeiten hinweg zu widmen, die dann eine Art Familientriptychon bilden. In der vergangenen Spielzeit 2019/20 haben wir als Ersatz für eine andere Vorstellung recht spontan eine szenische Lesung der Romans Trauer ist das Ding mit Federn von Max Porter realisiert, das wäre für mich ein guter Stoff für die Familientrilogie Ⅲ. Fehlt nur noch der Stoff für die Familientrilogie Ⅱ... [Anm.d.Red. Das hier veröffentlichte Gespräch wurde ursprünglich für das Programmheft der Inszenierung geführt, in der Zwischenzeit hat Christopher Rüping den Stoff für die Familientrilogie II gefunden. Mehr dazu am Ende dieses Interviews.]

«Wie sieht ein Zuhause aus?»

Benjamin, man sagt ja oft, dass Schauspieler*innen auf der Bühne in einer doppelten Funktion sind: Einerseits als Figur, andererseits als Person. In diesem Fall spielst Du einen Künstler um die 30, der nach 12 Jahren Funkstille zurück zu seiner Familie in die Kleinstadt kommt: Wie viel Benjamin steckt in dieser Figur?

Benjamin Lillie: Ich finde, es stimmt, dass man auf der Bühne doppelt dasteht. Aber ich bemühe mich trotzdem immer darum, dass viel von mir selbst in den Figuren steckt, die ich spiele. In diesem Fall nun handelt meine Figur wirklich komplett anders, als ich persönlich handeln würde. Der Typ dreht sich viel mehr um sich selbst, er ist auch viiieeeeel egozentrischer als ich. Ausserdem hat er ein so festes und unveränderliches Bild von seiner Familie – solche festen Bilder hasse ich, ich versuche um jeden Preis, sie zu vermeiden, ich will offen für Neues sein, auch Leuten gegenüber, die mir eng vertraut sind und die ich eigentlich gut kenne. Ich versuche, mir das immer wieder vorzunehmen und mich zu überprüfen, ob das klappt. Und zumindest das Bemühen unterscheidet mich ganz sicher von dem Typen, den ich spiele.

Was müsste denn passieren, damit Du Deiner Familie den Rücken kehrst und 12 Jahre lang jeden Kontakt vermeidest?

BL: Das ist schwer zu sagen… Ich kenne ein paar Leute, die gar keinen Kontakt mit ihren Eltern haben, sogar Leute, die mir nahestehen. Was ich von diesen Familien weiss, klingt meist ziemlich dysfunktional und nach Missbrauch, wenn auch nicht Missbrauch im strafrechtlichen Sinn. Wenn ich solche Geschichten höre, kann ich mir vorstellen, dass man irgendwann nicht mehr kann und nur noch weg will. Ich weiss aber nicht, ob man wirklich alles Interesse an seinen Eltern und an seinen Geschwistern verlieren kann... Vielleicht zeugt so ein Kontaktabbruch gar nicht unbedingt von Desinteresse, sondern eher von dem verzweifelten und letzten Versuch, sich selbst zu schützen. Die auf der Hand liegen-de Frage ist aber ja hier wie in jedem anderen Fall: Wo ist denn eigentlich das Problem gewesen?

Dass Deine Figur sich entscheidet, nach 12 Jahren Abwesenheit wieder zur Familie zurückzukehren, hat mehrere Gründe, aber der Auslöser für sein Zurückkommen ist die Nachricht seines bevorstehenden Todes, die er überbringen will. das verbindet er nun mit dem Dreh eines Films über seine eigene Familie. Er taucht nach diesen 12 Jahren Abwesenheit mit einer Kamera zu Hause auf, um das Wiedersehen in Kunst zu überführen. Denkst Du, Kunst kann bei der Bewältigung der eigenen Kindheit helfen?

BL: Ja, bestimmt. Kunst dient auch als Ventil, die Geschichten, die man selbst erlebt hat, zu kanalisieren und aus dem eigenen Inneren nach draussen zu lenken, so dass sie in einem selbst nicht mehr so viel Platz einnehmen. Auf mich selbst trifft das nur bedingt zu, ich bin ja kein Künstler, also zumindest kein Künstler, der seine eigene Geschichte ausklamüsert und öffentlich seziert. Ich rede zwar gerne über die Vergangenheit, mich interessiert, wie meine Freund*innen aufgewachsen sind, wo sie herkommen etc., und auch die Vergangenheit von Leuten, die ich nicht so gut kenne, interessiert mich, was für Familienkonstellationen es da gab, welche Muster und Rollen. Diese Geschichten haben bestimmt Einfluss auf meine Arbeit, aber eben nicht in dem Sinne, dass ich selbst meine Kindheit zum Gegenstand eines Kunstwerks mache.

Findet Ihr es in einem moralischen Sinne problematisch, die eigene Familie als Ressource für Kunst zu benutzen?

BL: Hängt vom Wie ab.

CR: Ja, finde ich auch.

Jonathan, spielt die Übertragung Deines eigenen Lebens in Kunst für Dich eine Rolle? Oder einfacher gefragt: Wie sehr geht es in Deiner Arbeit um Dich selbst?

Jonathan Mertz: Das Tolle an Theater ist ja, dass am Ende ein Kunstwerk dabei rauskommt, das sehr viele verschiedene Perspektiven beinhaltet. Es geht nicht um die Auseinandersetzung des einen Künstlers oder der einen Künstlerin mit seiner*ihrer persönlichen Geschichte. Im Theater geht es immer um ganz viele Geschichten. Wenn ich nun versuche, meine einzelne Perspektive aus diesem vielstimmigen Kanon herauszulösen und den Bühnenraum nur für sich alleine betrachte… – ich glaube, es geht mir nicht so sehr um mich persönlich. Bei diesem Stück von Lagarce stellen sich natürlich persönliche Fragen und wir haben auch daran gearbeitet, die herauszukristallisieren. Aber für mich ist das in diesem Fall eher eine Technik, die sich aus dem Stoff ergibt. Persönliches in meine Arbeit zu überführen, interessiert mich nicht per se. Wenn das Persönliche aber wie in diesem Fall ein ästhetisches Werkzeug sein kann, das sich aus dem Stoff ergibt, benutze ich es gern.

Du arbeitest schon ziemlich lange mit Christopher zusammen und hast für ihn diverse Bühnenbilder entworfen, die meist abstrakter waren als dieses hier. Wie kam es zu dieser so realistischen Abbildung einer Wohnung?

JM: Das hängt wirklich mit dem Stoff zusammen. Wenn man sich wie hier mit einer ganz spezifischen Familie beschäftigt, kommt natürlich die Frage auf: Wie sieht ein Zuhause aus? Wie sieht eine Heimat aus? Natürlich geht es dabei vor allem um Erinnerungen. Da ist nicht einfach ein Zimmer mit einem Tisch und einem Bett, sondern da ist der Papierschnipsel auf dem Tisch da vorne in der Ecke; oder die Anordnung der Gegenstände auf der Fensterbank. Es geht um die speziellen, einzelnen Gegenstände, die vollkommen außerhalb von ästhetischen Bewertungsmaßstäben liegen. Es geht nicht um «schön» oder «hässlich», sondern um die Geschichten, die jeder einzelne Gegenstand in sich trägt, um die Erinnerung, die in jedem Gegenstand gespeichert ist. Das eigene Elternhaus liegt ausserhalb von Ästhetik. «Da steht halt das Sofa, das stand da schon immer und das gehört da auch hin!» Das Sofa hat kein ästhetisches Eigenleben, sondern besteht nur aus den Erinnerungen und Geschichten, mit denen es verbunden ist.

Was sind denn Eigenschaften, die aus Deinem Bühnenbild ein Zuhause machen?

JM: Ich glaube, das hat vor allem mit Details zu tun. Es geht nicht um den materiellen Wert eines Gegenstandes, sondern um die emotionale Aufgeladenheit. Und die kann auch ein Stück Holz oder etwas ähnlich Banales in sich tragen.

Und warum hängen die Räume nicht zusammen, sondern stehen auf Podesten?

JM: Na, das Erinnern funktioniert eben nicht als ein kontinuierliches, zusammenhängendes Konstrukt. Die Erinnerung stückelt sich zusammen. Es ist sehr schwer, Erinnerungen räumlich und auch zeitlich zu einer konsistenten, zusammenhängenden Form zu bringen. Meist sind es ja nur einzelne Fragmente, die dann erst durch Sprache oder eben durch ein Bühnenbild so geordnet werden müssen, dass sie auch von aussen nachvollziehbar sind. Damit sie ein sinnhaftes Ganzes ergeben, muss man Erinnerungen neu zusammensetzen, auch räumliche Erinnerungen.

Warum ist dieses Bühnenbild, das voller Liebe zum Detail steckt, nach dem ersten Teil dann auf einmal weg?

JM (lacht): Tja, so wie auch Erinnerungen plötzlich auftauchen, sind sie auf einmal wieder weg.

CR: Das Bühnenbild ist ja gewissermassen eine zwar lückenhafte, aber doch sehr konkrete und detaillierte Manifestation dessen, was der Sohn, der zwölf Jahre lang nicht zu Hause war, von seinem Zuhause erinnert. Manches hat er noch genau vor Augen, anderes ist einfach weg. Die Türen zum Beispiel hat er offensichtlich vergessen (lacht) und die Decken auch. Aber er erinnert sich genau, was im Wohnzimmer in der dritten Schreibtischschublade unten rechts drin war, wenn man sie ganz weit aufzieht. Die Bühne ist ein Erinnerungsraum, das Bühnenbild ein erinnerter Raum. Und jetzt kommt man zwölf Jahre später zurück und von diesem Raum ist natürlich nichts mehr übrig. Nicht weil das Haus abgerissen worden wäre, sondern weil das Leben weitergegangen ist und aus den Räumen der Kindheit andere Räume geworden sind. Auf einer formaleren Ebene erhoffe ich mir (zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, vier Wochen vor der Premiere), dass die Leere, die durch das Verschwinden des Bühnenbildes entsteht, dass die Distanz, die man beim Sprechen und Spielen in der leeren Schiffbau-Halle überbrücken muss, einen produktiven Widerstand zu der vermeintlichen Intimität der Familienszenen herstellt.

Vor allem in Frankreich, wo Lagarce viel bekannter ist als im deutschsprachigen Theater, wo er sogar Abiturstoff ist, gilt Einfach das Ende der Welt auch als ein Stück über die Aidskrise. Lagarce ist eine Ikone der schwulen Kultur, wir hingegen haben diesen Aspekt vernachlässigt – würdest Du noch mal rekapitulieren, warum?

CR: Als Lagarce Einfach das Ende der Welt kurz vor seinem HIV-Tod 1995 vollendet hat, war Aids ein Todesurteil. Das ist heute im Jahr 2020 nicht mehr der Fall, zumindest nicht in der unglaublich privilegierten westlichen Welt, über die wir jetzt gerade sprechen und über die Lagarce schreibt. Wir wollten das Stück nicht historisch verorten, wir wollten die Inszenierung weder in einer bestimmten Epoche noch in einem bestimmten Land situieren. Im Stück selbst übrigens steht kein Wort von Aids, aber weil man die Biographie von Lagarce kennt, wird allgemein der Schluss gezogen, dass es sich bei der tödlichen Krankheit des Protagonisten um Aids handelt.

Beschäftigt Euch die Frage, ob Ihr als heterosexuelle Männer das Stück eines schwulen Autors über eine schwule Figur machen könnt?

JM: Ja klar, denke ich darüber nach. Aber ich finde nicht, dass bestimmte Identitätszuschreibungen die Voraussetzung für die Beschäftigung mit einem Werk sind. Man muss achtsam sein und respektvoll, das ist wichtig. Nicht ob man schwul ist oder nicht.

CR: Ja. Ich glaube, dass es für unsere Geschichte am Ende völlig egal ist, wen der Typ liebt. Egal ob Mann oder Frau – mich interessiert die Frage, wie man sich selbst durch die Augen der anderen sieht. Das ist ein Kampf, den alle Figuren gleichermassen kämpfen.

Ist es denn notgedrungen ein Kampf, sich durch die Augen von jemand anderem wahrzunehmen? Gibt es keinen Ausweg aus der Verunsicherung, die durch Blick der Anderen entsteht?

CR: Natürlich hofft man immer, dass man sich vom Blick der Anderen befreien kann. Die Realität aber ist, dass das so ziemlich unmöglich ist. Linderung kommt zumindest für mich nur dadurch, das zu akzeptieren.

«Tod ist irgendwie verboten»

Und für Dich, Benjamin, als Schauspieler?

BL: Als Schauspieler muss ich diesen Blick natürlich akzeptieren, sonst hätte ich einfach den falschen Beruf. Wenn du Schauspieler bist, muss es jemanden geben, der das, was du tust, betrachtet und auch bewertet. Davon muss man sich zwar immer wieder auch frei machen, aber trotzdem bleibt einem bewusst, dass das ununterbrochen stattfindet und man davon ja auch abhängig ist. Im Leben, ausserhalb des Theaters, ist es dann vor allem wichtig, offen zu sein, nicht voreingenommen, nicht den eigenen Blick auf andere urteilend zu richten. Das klingt jetzt zwar total klischeehaft, aber ich glaube da wirklich fest dran. Auch in Gesprächen muss man sich bereithalten, überzeugt zu werden, muss man sich bereithalten, die eigene Meinung zu ändern und sie nicht auf Biegen und Brechen durchsetzen zu wollen. Das ist ja das grosse Problem der Figuren in dieser Inszenierung und vor allem des Protagonisten: Der Typ ist einfach nicht in der Lage, seine Leute anders zu sehen als er sie sich vorgestellt hat. Er hat ein fertiges Bild von ihnen und davon will er keinen Zentimeter abrücken.

CR: Das mit dem Schauspielersein und dem Blick der Anderen ist eine interessante Frage. Eine Schauspielerin, die nicht weiss, dass sie beobachtet wird, ist in dem Moment einfach keine Schauspielerin. Wenn man nicht weiss, dass man beobachtet wird, ist es kein Theater, kein Spielen. Eine Schauspielerin allerdings, die weiss, dass sie beobachtet wird und das zum bestimmenden Massstab ihres Tuns auf der Bühne macht, ist höchstwahrscheinlich eine schlechte Schauspielerin. Wenn du beim Spielen nur damit beschäftigt bist, was andere von dir denken, kriegst du keinen Ton mehr raus.

BL: Ja, das stimmt voll!

CR: Gut ist man doch dann, wenn man zwar weiss, dass man beobachtet wird, diesen Fakt also akzeptiert, aber gleichzeitig nicht diese Beobachtung von aussen zum bestimmenden Faktor des eigenen Tuns macht. Im Leben ist das nicht anders, denke ich. Ab einem gewissen Alter ist einem völlig klar: Man wird beobachtet und man wird bewertet. Das ist einfach so. Wenn man nur damit beschäftigt ist, diese Bewertungen zu managen und das zum massgeblichen Kriterium der eigenen Lebensentscheidungen zu machen, wird man sehr, sehr unglücklich und wahrscheinlich nicht mal unbedingt ein guter Mensch. Der Versuch ist doch, um den Blick der anderen auf einen selbst zu wissen und ihn trotzdem nicht so wichtig zu nehmen.

Der Protagonist des Stückes kommt nach Hause, um seinen bevorstehenden Tod anzukündigen, kann sich aber dann doch nicht dazu entschliessen, es auszusprechen. Und schweigt. Wieso ist der Tod in der bürgerlichen Kleinfamilie ein so grosses Tabu, habt Ihr dazu eine Meinung?

JM: Ich weiss nicht, ob das nur was mit dem Familienumfeld zu tun hat. Es gibt eher einen gesamtgesellschaftlichen Imperativ: Du darfst nicht sterben! In meinem Leben ist Tod bisher kein großes Thema gewesen, aber ich würde sagen, der Tod ist in allen sozialen Beziehungen ein Tabu. Man kann damit nicht pragmatisch umgehen, der Tod ist irgendwie verboten.

CR: Es ist einfach sehr schwer, über den Tod zu reden. Was soll man auch angesichts des Todes sagen? Über etwas zu sprechen, bedeutet ja immer auch, dieses Etwas in den Griff zu bekommen und der Tod ist halt einfach nicht in den Griff zu bekommen.

Kann das Sprechen darüber nicht auch Erleichterung verschaffen?

CR: Klar. Deswegen ist die Situation in dem Stück ja so zugespitzt: Der Protagonist hat angesichts seines nahenden Todes nur noch diese eine Chance auf eine Begegnung mit seiner Familie. Wenn er sich Erleichterung ver-schaffen will mit der Ankündigung seines bevorstehenden Todes, dann muss das jetzt geschehen. Aber es gelingt ihm nicht. Es kommt zu keinem Gespräch über das Leben, über die Vergangenheit, über den Vater – es wird die ganze Zeit eigentlich über nichts gesprochen, Worte werden produziert, Sprechmuskeln werden bewegt; es ist selten still, aber es wird wenig gesagt. Und das liegt, glaube ich, eben daran, dass es so, so, so, so, so, so verdammt schwer ist, sich wirklich zu begegnen, wirklich über irgendetwas zu sprechen – und dann auch noch über den Tod, das geht gar nicht!

Habt ihr eine Theorie, wieso in der westlichen Welt die allermeisten Künstler*innen aus bürgerlichen, höchstens noch kleinbürgerlichen Familien kommen? Ist Kunst ein bürgerliches Phänomen?

JM: Für mich persönlich war das Kunststudium genauso naheliegend wie eine Ausbildung zum Molkereitechniker. Kunst ist ein Teil des Lebens meiner Eltern und war auch für mich immer zugänglich. Kunst kannst du machen, wenn du bereit bist, freiwillig wenig Geld zu haben. Und das ist natürlich viel einfacher, wenn du über Geld nicht nachdenkst oder nach-denken musst, weil du Auffangnetze hast. Superbürgerlich.

CR: Bürgerlichkeit ist kein Eignungskriterium für künstlerisches Tun. Aber wenn jemand 24/7 mit dem Überleben beschäftigt ist, wird er*sie nicht unbedingt Zeit dafür haben, ein Bild zu malen. In 90% aller Fälle ist Kunst nur möglich, wenn man eine gewisse Form von Luxus im Leben hat, nämlich den, nicht die ganze Zeit mit dem eigenen Überleben beschäftigt sein zu müssen.

«Eine leere Stelle»

Habt Ihr irgendeine Theorie, warum es in dem Stück keinen Vater gibt?

CR: Nein, das bleibt Spekulation. Vielleicht ist er gestorben, vielleicht hat er seine Familie verlassen, vielleicht gab es nie einen Vater. Fakt ist: die Abwesenheit des Vaters erzeugt im Abgleich mit der konventionellen bürgerlichen Familie ein Vakuum. Die Familie, die Largace zeigt, ist um ein Vakuum herum gebaut, um eine leere Stelle, und dadurch wird jede andere Verbindung innerhalb dieser Familie zerbrechlicher. Das ist narrativ klug; es ist klug, dass die Beziehungen nur deswegen Bestand haben, weil sie sich gegenseitig stützen, und nicht, weil sie aus sich heraus stabil wären.

Benjamin, telefonierst Du seit Probenbeginn häufiger mit Deiner Familie als sonst?

BL (lacht): Ja, aber nicht aus dem Grund, den ihr meint, also nicht, weil wir hier ein Stück über eine Familie machen. Im Moment telefoniere ich häufiger mit meinen Eltern als sonst wegen der Pandemie, denn meine Eltern sind schon älter und ich muss mich erkundigen, ich will mich erkundigen. Deswegen telefoniere ich häufiger, ja. Aber boah, wenn das jetzt meine Mutter und mein Vater lesen und finden, dass das gar nicht stimmt…? Wobei, bis jetzt habe ich schon öfter angerufen, glaub ich. Sagen wir mal so.

Am Ende der Inszenierung, wenn das Familientreffen –

BL: Stopp, nicht jetzt alles spoilern!!

CR: Ja! Wobei – wann liest man eigentlich so ein Programmheftinterview? Hat man die Inszenierung da nicht längst schon gesehen?

BL: Na, spätestens in der Pause! Aber ich glaube schon, dass manche da auch beim Einlass mal reinlinsen, wenn sie auf ihren Plätzen auf den Beginn warten.

CR: Aber da gönnt man sich doch nicht das ganze Interview, wir reden jetzt ja schon 51 Minuten!!

BL: Hallo Zuschauer*in (winkt), Du guckst gleich unsere Inszenierung!

CR: Ja, hallo Zuschauer*in!! Wenn Du dieses Interview wirklich grade beim Einlass zu unserem Stück liest, also während Du in der Schiffbau-Halle auf den Beginn der Vorstellung wartest – dann ruf.