by Laura Paeteau
published on 06. April 2022

LP: Liebe Agota, mich begleitet ganz grundlegend die These, dass eigentlich keine Frauen* ins Theater gehen würden, um sich Sexismus und Gewalt auf der Bühne anzuschauen. Erfahrungen damit haben sich in die Körper eingeschrieben. Warum also ins Theater gehen, um daran erinnert zu werden? Dennoch setzen wir uns in dieser Produktion ganz explizit mit toxischer Männlichkeit, Sexismus und sexualisierter Gewalt auseinander und sind mit künstlerischen Mitteln auf der Suche nach einem fiktionalisierten Ausdruck. Denkst Du, dass wir diese Themen ins Licht und auch ins Scheinwerferlicht holen müssen, um sie zu enttabuisieren, der Scham zu begegnen und eine verbale und ästhetische Sprache dafür zu finden? Oder sollten wir das lieber sein lassen, einfach andere Geschichten erzählen und uns anderen Erfahrungshintergründen und Gefühlswelten zuwenden?

AL: Das ist eine riesengrosse Frage, die ich mir in meinem Job als Opferhilfeberaterin immer wieder stelle. Ich werde oft von Journalist*innen angefragt, ob ich ihnen ein Opfer von sexualisierter Gewalt für ein Interview vermitteln kann, damit es ihnen über die Tat und das Trauma erzählt. Oder ich selber werde gefragt, ob ich selber schon Opfer sexualisierter Gewalt wurde und darüber reden möchte. Weisst Du, was ich dann als Erstes denke? Traumaporn. Traumaporn ist eine Bezeichnung dafür, dass Menschen das Leid von anderen hautnah, quasi in der ersten Reihe sitzend, mitverfolgen können, ohne dass sie sich emotional beteiligen oder das Opfer auffangen müssen. Je schockierender, je dunkler, je krasser, desto besser. Ich frage mich dann: Wie viele Opfer-Stories braucht es noch? Wie viele Frauen müssen noch erzählen, wie traumatisierend und wie schlimm ein Erlebnis sexualisierter Gewalt war, wie viele müssen noch über die intimste und subjektiv eine der schlimmsten Formen der Gewalt erzählen, bis ihnen geglaubt wird? Das kann demütigend sein, und es kann Betroffene triggern. Das ist definitiv die negative Seite, wenn über die Erfahrungen einzelner Opfer berichtet wird. Die andere Seite ist hingegen die, dass uns sehr viele Betroffene erzählen, dass sie erst dank der öffentlichen Aufmerksamkeit, dank der vermehrten Berichterstattung seit #metoo verstehen, dass das, was ihnen passiert ist, sexualisierte Gewalt war und dass ihr instinktives Gefühl sie nicht getrogen hat. Und dass sie ein Anrecht darauf haben, sich Unterstützung zu holen. Wenn Betroffene lesen, dass andere Betroffene es auch schaffen, sich über die Taten zu äussern, sich Hilfe zu holen, sich als Opfer zu «outen», dann kann das auch Mut machen. Und so finden sie dann, oft erst Monate oder Jahre nach der Tat, den Weg zu uns. Oft kann etwas, das von aussen an die Betroffene herangetragen wird, auslösen, dass sie zum Telefonhörer greift und uns anruft. Das kommt mir halt in den Sinn, wenn mich Journalist*innen anrufen. Daher denke ich: Doch, die Auseinandersetzung braucht es. Aufklärung und Enttabuisierung zielt nicht zuletzt auch auf die Betroffenen und auf die Täter. Betroffene sollen von ihren Scham- und Schuldgefühlen entlastet werden. Denn nicht nur sind Scham und Schuld erniedrigende Gefühle, sind sind auch die besten Freunde des Täters. Es ist Zeit, dass wir uns endlich den Tätern und den gesellschaftspolitischen Aspekten dieser Thematik zuwenden. Die sogenannte Rape Culture ist auch in der Schweiz noch sehr verbreitet. In dieser wird von Frauen erwartet, dass sie sexualisierte Gewalt durch «richtiges» Verhalten abwenden können, während Männer zuweilen völlig aus der Verantwortung entlassen werden. Während wir schon von einem Kleinkind erwarten, dass es ein «Nein» versteht, trauen wir dies einem erwachsenen Mann nicht zu. Wir trauen ihm auch nicht zu, dass er weiss, was sexuelle Grenzen sind, noch dass er weiss, wie man diese einhält. Und wir trauen ihm auch nicht zu, dass er weiss, was Konsens ist, noch, dass Konsens wichtig ist. Und weisst du, was das heisst? Das wir ihn, sollte er zum Täter werden, entlasten und gleichzeitig der Frau eine Mitschuld an der Tat geben.

LP: Soviel ich weiss, hat jede vierte Frau* schon einmal sexualisierte Gewalt in ihrem Leben erlebt. Also können wir auch davon ausgehen, dass im Publikum jede* vierte Zuschauer*in eine solche Erfahrung mitbringt, man könnte quasi die Stühle abzählen. Kannst Du mich und die Zuschauenden hier einmal auf den neusten Stand bringen: Mit welchen Zahlen operiert ihr und wie hoch ist die Dunkelziffer in dem Bereich?

AL: Es ist spannend, dass Du nur die möglichen Opfer im Publikum erwähnst. Was ist mit den möglichen Tätern? Wenn jede vierte Frau schon einmal sexualisierte Gewalt erfahren hat, muss es doch zahlreiche Täter geben? Wo sind sie? Was macht diese Frage mit uns? Ich sage dir, wo sie sind: überall. In unseren Familien, in unserem Freundeskreis, an unserem Arbeitsplatz.

Aber zurück zu den Opfern: Zahlen gibt es wenige. Das ist auch eine Kritik, die wir an die Politik herantragen: dass wir mehr Zahlen bräuchten, auch, damit wir mal vergleichen können. Es gibt zwar Kriminalstatistiken, aber die sagen wenig aus, weil sehr wenige Sexualdelikte überhaupt zur Anzeige gebracht werden. Dann haben wir eine Opferhilfestatistik. Anhand derer können wir sehen, wie viele Opfer von Sexualdelikten sich schweizweit bei Opferhilfestellen gemeldet haben – das sind circa 100 Frauen pro Woche, auch das ist natürlich nur ein Bruchteil. Dann gibt es die neusten Zahlen vom gfs.bern, Markt und Meinungsforschung. Die haben 2019 eine Studie durchgeführt, in der sie knapp 4’500 Frauen ab 16 Jahren befragt haben, ob sie in irgendeiner Form schon einmal sexualisierte Gewalt erfahren haben. Dort hat jede vierte Frau gesagt: Ja. Jede achte Frau gab an, Geschlechtsverkehr gegen den eigenen Willen erlebt zu haben. Hochgerechnet entspricht das ungefähr 430’000 Frauen in der Schweiz, eine enorm hohe Zahl. Was in dieser gfs-Studie auch herauskam – und das deckt sich auch mit anderen Ländern – ist, dass nur jede achte Frau Anzeige erstattet und sich nur circa jede zehnte bei einer Beratungsstelle Unterstützung holt. Von daher: Ich denke, die Dunkelziffer ist riesig. Zahlen zu den Tätern gibt es, ausser in der Kriminalstatistik, nicht. Es ist davon auszugehen, dass neun von zehn Tätern, und diese Zahl muss man sich mal vor Augen halten, straffrei davonkommen! Sexualdelikte sind sehr risikoarme Delikte und das wissen nicht zuletzt die Täter. Täter sind in unserer Gesellschaft unsichtbar. Sie kommen in fast keiner Diskussion vor. Sie kommen nicht mal im Begriff «Gewalt gegen Frauen» vor.

LP: Was ist denn mit den männlichen Opfern von sexualisierter Gewalt?

AL: Die gibt es natürlich auch. Sexuelle Ausbeutung in der Kindheit erfährt circa jeder zehnte Bub, bei den Mädchen ist es jede vierte. Männer erfahren auch sexuelle Belästigung. Bei massiven Sexualdelikten wie Schändung oder sexuelle Nötigung gibt es sehr wenige männliche Betroffene. Aber die, die es gibt, leiden natürlich genauso darunter, auch unter der Scham und dem Gefühl, dass ihnen nicht geglaubt würde, wenn sie über die Tat erzählen würden. Für mich als Opferberaterin ist die Unterstützung von männlichen Opfern von Sexualdelikten genau so wichtig, wie die Unterstützung der weiblichen Opfern. Denn obwohl der strukturelle Aspekt der Gewalt bei männlichen Opfern wegfällt, ist es für das Individuum genau so tragisch und hat massive Folgen.

Aber weisst du, was mir auffällt? Die, die am lautesten «Was ist mit den Männern?!» schreien, sind selten die, denen es wirklich um männliche Opfer sexualisierter Gewalt geht. Viel mehr sind es die, die Frauen abwerten und das Ausmass sexualisierte Gewalt verharmlosen wollen. Dabei ist niemandem geholfen, wenn wir die unterschiedlichen Opfer gegeneinander ausspielen würden. Und was wir nicht vergessen dürfen: Auch bei männlichen Opfern sind die Täter grösstmehrheitlich Männer. Wir können es wenden und drehen wie wir wollen, das gesellschaftlich vordringliche Problem ist und bleibt: Männergewalt.

LP: Wie sieht Deine Arbeit genau aus?

AL: Ich leite eine Opferhilfestelle und berate auch selber Klient*innen. In der Schweiz gibt es das Opferhilfegesetz. Betroffene, deren psychische, körperliche oder sexuelle Integrität verletzt wurde, haben Recht auf die Unterstützung der Opferhilfe. Das gilt für viele verschiedene Straftaten. Wir sind für alle zuständig: Kinder und Erwachsene, alle Geschlechter, Betroffene häuslicher Gewalt, sexualisierter Gewalt, Drohung, Nötigung, Stalking, Raubüberfälle, Tötungsdelikte,schwere Unfälle durch Drittverschulden und weitere. Wir bieten unentgeltliche Beratungsgespräche an, man kann diese so häufig in Anspruch nehmen, wie man möchte, und sie verjähren nie. Viele, die in der Kindheit sexualisierte Gewalt erfahren haben, melden sich erst viele, viele Jahre nach den Vorfällen. Und viele sind froh, wenn sie einfach einmal erzählen können und ihnen geglaubt wird. Wir stellen das Erlebte und das Verhalten der Opfer nicht in Frage und sind geschult im professionellen Umgang mit traumatisierten Menschen und mit zum Teil sehr massiven Gewalttaten. Ich hatte schon ein paar Klient*innen, die gesagt haben, sie seien froh, dass ich jetzt nicht in Tränen ausbreche, endlich könnten sie das Erlebte jemandem erzählen, der emotional nicht völlig ausser sich gerate. Andere kommen zu uns und sagen: Ich kann nicht darüber reden, aber ich brauche Hilfe. Wir müssen keine Details über die Tat kennen, um zu helfen. Sobald für uns in Betracht fällt, dass eine Person Opfer einer Straftat geworden ist, reicht das erstmal.

Was häufig Thema ist, ist die Frage nach einer Anzeige. Soll eine Betroffene Anzeige erstatten oder lieber nicht? Wir als Opferhilfe haben die Haltung, dass das eine höchstpersönliche Entscheidung ist. Darum informieren wir sehr detailliert über den Ablauf eines Strafverfahrens. Es ist für die Betroffene wichtig zu wissen, welche Opferrechte sie hat, was von dem Moment an, in dem sie eine Polizeistation betritt und bis sie wieder rausgeht, passiert und wie ein solches – manchmal langjähriges – Strafverfahren abläuft. Manchmal erzäh-len wir auch von den Erfahrungen anderer Klient*innen. Alles in der Hoffnung, dass die Betroffene sich ein Bild machen und selbst entscheiden kann, was das Beste für sie ist.

Wir machen auch psychosoziale Beratung. Sehr viele erzählen bei der Opferhilfe zum ersten Mal, was ihnen passiert ist, und dann geht es zum Beispiel darum, wie das Erlebte im Freundeskreis oder den Eltern gegenüber offengelegt werden kann. Oder wie mit schwierigen Reaktionen auf diese Offenlegung umgegangen werden soll. Häufig geht es also nicht nur um die Folgen der Vergewaltigung, sondern um die Folgen der Offenlegung. Ausserdem können wir auch finanzielle Leistungen sprechen. Das wissen viele nicht. Wir können nicht nur an spezialisierte Fachpersonen vermitteln, sondern dieTherapie- und Anwaltskosten, medizinische Kosten und weitere Auslagen im Zusammenhang mit einer Straftat auch übernehmen. Falls die Kosten nicht von einer Versicherung wie zum Beispiel der Krankenkasse gedeckt werden, kann sie die Opferhilfe übernehmen.

LP: Wohin kann sich eine Betroffene, die das hier jetzt liest, wenden? Genauso, wenn jemand einer Freund*in, Partner*in, Nachbar*in oder Kolleg*in einen Kontakt vermitteln möchte: Wie findet man euch?

AL: Das Stichwort ist: Opferhilfe Schweiz, es gibt schweizweit 50 Opferhilfestellen. Es existiert eine freie Opferhilfestellenwahl, die nicht an den Wohnort gebunden ist. Ich kann in Bern wohnen und mich in Zürich beraten lassen. Manchmal macht es aber Sinn, sich im Wohnkanton beraten zu lassen, beispielsweise wenn man ein Strafverfahren anstrebt. Je nach Kanton sind die Stellen unterschiedlich organisiert, in gewissen Kantonen sind die Stellen thematisch aufgeteilt, so beraten gewisse Stellen ausschliesslich Opfer häuslicher und sexualisierter Gewalt. In anderen Kantonen, beispielsweise Luzern oder Solothurn, hat es eine Opferhilfestelle für alle Betroffenen aller Straftaten.

LP: Ich möchte mit Dir noch über das diesen Sommer ausgesprochene Vergewaltigungsurteil in Basel sprechen, das ich als Politikum wahrnehme. Das Appellationsgericht hat das Strafmass für einen Sexualstraftäter herabgesetzt, mit der Begründung, die Frau habe «falsche Signale» gesendet und «mit dem Feuer gespielt», ausserdem habe die Vergewaltigung nur 11 Minuten gedauert. Das Urteil wurde in der Presse massiv kritisiert, es hat in Basel eine Demonstration von 500 Menschen vor dem Gericht gegeben. Problematisiert wird hier vor allem, die Begründung und Sprache der Urteilsverkündung. Was sagst Du zu diesem Fall?

AL: Es ist ein Fall mehr, der uns aufzeigt, dass Vergewaltigungsmythen auch in der Schweizer Rechtssprechung zementiert werden. In diesem Fall ging es vor allem um den Mythos, die Frau trage durch ihr Verhalten Mitschuld an der Vergewaltigung, weshalb die Schuld des Täters vermindert sei. Ich habe es so satt, ständig die vielfältigen Gründe hören zu müssen, wieso Mädchen und Frauen eine Mitschuld an Männergewalt tragen sollen. Ich habe es satt, dass Mädchen und Frauen immer noch das Gefühl gegeben wird, sie müssten sich verändern, damit Männergewalt gestoppt werden kann. Und ich habe es satt, dass wir einen entscheidenden Punkt ignorieren: dass einem Belästiger oder einem Vergewaltiger egal ist, ob die Frau «nein» sagt oder nicht oder ob die Frau aufreizend angezogen ist oder in einem Rollkragenpullover unterwegs ist. Ich habe es satt, dass wir die Täter zuweilen nicht in die Verantwortung ziehen für ihre Gewalttaten. Dass das immer noch so ist, hat damit zu tun, dass Vergewaltigungsmythen tief verankert sind in unseren Köpfen. So stellt man die Glaubwürdigkeit der Frau immer noch reflexartig in Frage – immer und überall. «Was, wenn sie gelogen hat?» ist eine sehr mächtige Waffe des Patriarchats.und der Rape Culture In einer Rape Culture geht man davon aus, hätte sich die Frau anders verhalten, wäre es nicht zu dieser Vergewaltigung gekommen. Dann existiert immer noch ein Bild von dem typischen Vergewaltiger, das eben nicht der Realität entspricht, dass ein Vergewaltiger irgendein unbekannter, völlig gestörter oder psychisch kranker Psychopath sei, dem man das auch ansieht. Wir hören so oft von Betroffenen, dass sie irritiert und sehr verunsichert sind, weil die Vergewaltigung von einem guten Freund, ihrem Partner oder einem Arbeitskollegen ausging, der eben alles andere als ein Psychopath ist. 80% der Betroffenen kennen den Täter. «Sowas würde er nie tun» ist ein mächtiges Mittel, um Opfer abzuwerten und Täter zu entlasten. Weitere Mythen betreffen das Verhalten von Opfern, während und nach der Tat. Viele Betroffene sagen uns, man hätte ihnen nicht geglaubt, weil man der Meinung war, wenn es so schlimm gewesen wäre, hätten sie eine Anzeige gemacht, oder früher über die Tat erzählt, oder eine Therapeutin aufgesucht. Schlussendlich sind diese Mythen stereotype oder falsche Bilder. Allen Mythen gemeinsam ist, dass sie die Opfer abwerten und die Täter entlasten. Und das ist genau das Thema bei dem Basler Urteil. Indem dem Opfer gesagt wird, sie hätte mit dem Feuer gespielt und falsche Signale gesendet, wird nicht nur sie enorm abgewertet, sondern gleichzeitig auch er entlastet. Er trägt zwar schon noch Schuld, aber eine etwas verminderte, weil sie sich «falsch» verhalten habe. Das ist absolut verheerend. Und es gibt weitere Mythen: Männer seien triebgesteuerte Wesen und Sexualdelikte seien Triebdelikte, bei denen es um Sex und um die unbändige Lust des Täters gehe. Dieser oft reflexartig eingeworfene Einwand «Das hat er bestimmt nicht so gemeint!» heisst eigentlich nichts anderes als: Du übertreibst, trau deinen instinktiven Gefühlen nicht, du tust ihm Unrecht, denk nicht mehr darüber nach. Es ist eine wirksame Aussage, die dazu führt, dass Frauen an sich und ihrer Wahrnehmung zweifeln, statt den Männern die Verantwortung für das grenzverletzende Verhalten zu geben. Die konstante Infragestellung der Wahrnehmung von Frauen*, wenn es um sexuelle Grenzüberschreitungen und Gewalt geht, ist basically the story of our lifes.

LP: Gerade wird das Sexualstrafgesetz in der Schweiz reformiert und ich höre immer wieder von der Kampagne «Ja heisst ja!». Was passiert hier aktuell? Kannst Du mir erklären, in welchem politischen Moment wir uns damit in der Schweiz befinden?

AL: In der Schweiz erkennt das Gesetz zurzeit Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung nur dann als solche an, wenn der Täter oder die Täterin Gewalt anwendet oder androht, zum Beispiel mit einer Waffe oder durch ein erzwungenes Festhalten der betroffenen Person. Das Problem hierbei ist, dass die meisten Täter gar keine physische Gewalt anwenden müssen, weil die Frau sich nicht wehrt oder wehren kann, zum Beispiel weil sie Angst hat, weil sie völlig überrumpelt oder komplett gelähmt ist. Das Bild vom pathologisch gewalttätigen Vergewaltiger entspricht eben nicht der Realität. Unser Ziel ist, dass alle nicht-einvernehmlichen sexuellen Handlungen angemessen bestraft werden können und dass anerkannt wird, dass das hauptsächliche Unrecht in erster Linie die Verletzung der sexuellen Integrität ist, und nicht die Nötigung. Zudem erhoffen wir uns von der Reform des Sexualstrafrechts, dass der Fokus bei einem Strafverfahren nicht mehr primär auf den Betroffenen liegt. Dass nicht mehr im Zentrum steht, wie sie sich verhalten, ob sie sich gewehrt hat, ob sie genug gemacht haben, um ihr Nein kundzutun. Neu soll der Fokus viel mehr auf dem Beschuldigten liegen und der Frage, ob er das Einverständnis eingeholt hat oder nicht, oder wieso er davon ausgegangen ist, dass sie eingewilligt hat. Weiter wollen wir, dass der Straftatbestand «Vergewaltigung» neu definiert wird. Heute gilt nur die vaginale Penetration mit dem Penis als Vergewaltigung. Wir wollen, dass jede Penetration, ob vaginal, oral oder anal, egal mit welchem Körperteil oder Gegenstand, als Vergewaltigung gilt. Das Schweizer Sexualstrafrecht ist vor 30 Jahren das letzte Mal reformiert worden. Das ist eine grosse Problematik, denn vor 30 Jahren hatte unsere Gesellschaft leider noch ganz andere Ansprüche an das soziale Verhalten eines Mannes. Was vor 30 Jahren vielleicht noch als mehr oder weniger entschuldbares Verhalten galt, ist es heute einfach nicht mehr. Es geht letztlich um die Frage, welche Anforderungen wir an das soziale Verhalten eines Menschen stellen: Und das ist nun einmal der absolute Respekt vor einem Nein. Das muss auch ins Gesetz.