by Mutombo Kanyana
published on 08. February 2022

Rassismus gegen Schwarze ist eine spezifische Form von Rassismus, ebenso wie der Antisemitismus und die Islamophobie. Anhand von zehn Merkmalen, soll hier in aller Kürze aufgezeigt werden, was seine Besonderheiten ausmacht. Vor allem aber ist Anti-Schwarzer Rassismus auf semantischer Ebene höchst verwirrend und wird besonders kontrovers diskutiert.

Betrachten wir zunächst einmal den Begriff Noir [i] («Schwarz»/»Schwarzer»).

Ihm gegenüber werden andere Begriffe zum Teil bevorzugt verwendet, obwohl sie gewisse Grenzen aufweisen:

- Africain: «afrikanisch»; «Afrikaner»; als Begriff zu weit gefasst, da er auch für Nord-Afrikaner*innen und z.B. weisse Süd-Afrikaner*innen gilt, die von dieser spezifischen Form des Rassismus nicht betroffen sind

- Personne d’ascendance africaine: «Person afrikanischer Abstammung», ohne nähere Angabe dazu, auf wie viele Generationen diese zurückgeht, wobei zu erwähnen ist, dass der Ursprung der gesamten Menschheit in Afrika zu verorten ist

- Personne racisée: «rassistisch gelabelte Person»; unklar ist, ob nun eine «höhere» oder «niedere Rasse» gemeint ist, letztendlich werden alle Menschen von Rassisten rassistisch gelabelt

- Black: Anglizismus der französischen Umgangssprache; sehr verkürzt, aber durchaus wertvoll durch den Verweis auf US-amerikanische Schwarze und US-amerikanische Schwarze Kultur wie auf Jazz, Hip-Hop, usw.

- Kamite: selten, verweist auf das antike, Schwarze Ägypten mit dynastischer Hochkultur

Auch der Begriff «Anti-Schwarzer Rassismus» wird sehr kontrovers diskutiert. Manche reagieren allergisch auf das Wort «Schwarz» oder halten es für emotional aufgeladen und verwenden stattdessen softere Termini wie Afrophobie (so z.B. die NGOs und Regierungen der Europäischen Union) oder Négrophobie [ii], die den Rassismus, eine Ideologie also, mit einer Phobie gleichsetzen!

Es ist aus meiner Sicht ein grundlegender Schritt, die verwendeten Begriffe und Konzepte genauer zu untersuchen, um sie besser hinterfragen zu können. Dies ist ein Vorhaben von CRAN (Carrefour de réflexion et d’action contre le racisme anti-Noir), die als erste Organisation, die Besonderheiten des Schwarz-Seins in unserer Gesellschaft thematisierte. Bereits 2000 sorgte CRAN im Vorfeld seiner Teilnahme an der historischen Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban (2001) dafür, dass die Begriffe «Noir» (Schwarz) und «racisme anti-Noir» (Anti-Schwarzer Rassismus) im Bereich der Rassismusbekämpfung in der Schweiz eingeführt wurden. Mit der Université populaire africaine (UPAF) wurde 2008 in Genf ein pädagogisches Netzwerk geschaffen, das in Schulen und Institutionen bezüglich der Problematik des Anti-Schwarzen Rassismus sensibilisiert.

Bei unseren Untersuchungen konnten wir die folgenden zehn, spezifischen Merkmale des Anti-Schwarzen Rassismus herausarbeiten [iii]:

1. Er manifestiert sich als älteste und vorrangig ausgeübte Form von Rassismus

Der alttestamentarische «Fluch über Ham» und seine Auslegungen bilden den Gründungsmythos des Anti-Schwarzen Rassismus.[iv] Demzufolge hatte Noah, biblischer Vater der Menschheit, drei Söhne, die nach der Sintflut für die verschiedenen «Rassen» standen: Sem repräsentierte Araber und Juden, Ham die Schwarzen und Japhet die Weissen. Nachdem Ham sich gegenüber seinem Vater respektlos verhalten hatte, wurden allein seine Nachkommen zu ewiger Knechtschaft verurteilt.

2. Er gilt als gottgewollt

Der von Noah ausgesprochene Fluch wurde, angesichts von Noahs Status als Auserwählten, als Wort Gottes tradiert.[v] Auf diesem Weg verbreitete sich der Gründungsmythos des Rassismus und wurde den Afrikaner*innen im Kontext ihrer Islamisierung, Christianisierung und Kolonisierung als Wahrheit verkündet.

3. Er ist universell

Der alttestamentarische Mythos des Fluchs erfuhr eine allgemeine Verbreitung durch das Judentum, den Islam und das Christentum, die weltweit den grössten Einfluss auf Geisteshaltungen hatten und Schwarze Menschen auf Schritt und Tritt begleiten. Die stigmatisierenden Stereotype, die ihnen als Identität dienen müssen, sind überall auf der Welt in den Köpfen verankert.

4. Die historische Markierung durch beispiellose Verbrechen

Zwei schwerwiegende Verbrechen an der Schwarzen Menschheit, zwei verschiedene Genozide: Zunächst die mit der Deportation und Versklavung von Schwarzen einhergehenden Raubzüge der Araber ab dem 7. Jahrhundert, anschliessend jene der Europäer, ab dem 15. Jahrhundert, die mit mehr als 400 Millionen Toten noch massiver und industrieller ausfielen.[vi] Darauf folgte die ebenso völkermörderische, kolonialistische Ausbeutung, in deren Kontext die europäischen Kolonialmächte Afrika zerstückelten und unter sich aufteilten.[vii]

5. Die sichtbare Markierung der Opfer

Rassismus funktioniert vor allem auf visueller Ebene. In dieser Hinsicht erfährt Schwarz-Sein eine Markierung sondergleichen, die auch Weisse, die sich als Schwarze verkleidet haben, durch die ständigen «hasserfüllten Blicke» von Weissen auf frappierende Weise erlebten.[viii] Es ist zudem diese visuelle Markierung, die allzu oft zu einer voreiligen Kriminalisierung von Schwarzen führt, ganz einfach, weil da jemand das «falsche» Aussehen hat. Ab welchem Punkt das Aussehen als «falsch» betrachtet wird, das kann in der rassistischen Wahrnehmung nach Belieben variieren.

6. Die unauslöschliche Markierung der Opfer

Die äusseren Merkmale Schwarzer Menschen lassen sich nicht entfernen. Die rassistischen Vorurteile heften sich an bleibende Eigenschaften, die schlicht und ergreifend Teil eines Menschen sind. In diesem biologischen Parameter sind Schwarze Menschen tatsächlich gefangen.[ix] Ein Araber, ein Roma oder ein Jude können unauffällig in der Menge verschwinden. Ein Schwarzer bleibt Schwarz. Selbst Obama konnte dem nicht entkommen – auch er wurde als Affe beschimpft.

7. Die systematische negative Besetzung des Schwarz-Seins

Schwarze werden systematisch mit negativen Attributen belegt, namentlich in vielen Sprachen der jüdisch-christlichen und der arabisch-muslimischen Kulturräume. In einer verfestigten Dichotomie sind Schwarze dazu verurteilt, den Weissen einen Spiegel hinzuhalten, in dem diese, im Lichte ihrer Privilegien und in Abgrenzung zu einem sehr negativen Bild, das sie sich von Schwarzen machen, ihr nun besonders positiv wirkendes Antlitz bewundern können. Durch diesen Transfer eines äusserst positiven Selbstbildes und dessen Mystifizierung konnten sich Weisse aufwerten, indem sie sich einen «zivilisatorischen Auftrag» gaben, der vor allem auf Schwarze abzielte.

8. Schwarze Kämpfe, weisse Helden

Als wäre der Spiegel, der Schwarzen zum Zweck weisser Selbstaufwertung aufgebürdet wird, nicht genug, werden Schwarze zusätzlich noch ihrer eigenen, aufwertenden Errungenschaften beraubt. So gilt, dass Schwarze sich nie selbst befreien. Sie werden befreit oder es wird ihnen dabei geholfen. Dass Haiti dieses ungeschriebene Gesetz brach und dazu, noch die damals Weltruf geniessende Armee Napoleons demütigte, muss die Bevölkerung bis heute auf verschiedenen Ebenen teuer bezahlen.

9. Die krankhaft verlogene und unerschöpfliche Erneuerung des Anti-Schwarzen Narrativs

Auf den Gründungsmythos des Fluchs über Ham (bzw. über Schwarze) folgten weitere, die sich addierten und Ideologien stärkten, mit denen die Enteignung und Herabwürdigung von Schwarzen jedes Mal aufs Neue gerechtfertigt wurde:

  • Der Mythos «Schwarz = seelenloses Wesen, Lasttier» (16. Jahrhundert) diente als ideologische Rechtfertigung, um guten Gewissens grosse Teile der afrikanischen Bevölkerung zu versklaven und für den Sklavenhandel zu deportieren.
  • Der Mythos «Schwarz = Primitiver Wilder» (19. Jahrhundert) rechtfertigte die kolonialistische Ideologie der Herabsetzung und Ausbeutung, die zu Genoziden und Vernichtung auf diversen Ebenen führte (so z.B. die «zivilisatorische Mission» auf kultureller Ebene)
  • Der Mythos «Afrika = Kontinent mit Entwicklungsrückstand» (1960er-1970er Jahre) rechtfertigte die im Norden entworfene (Unter-) Entwicklungsideologie und Politik, mit der die von aussen abhängigen, kolonialistischen Strukturen beibehalten wurden –­ mit all ihren verheerenden Auswirkungen.
  • Der Mythos «Afrika = überbevölkerter Kontinent» (1980er und 2000er Jahre), der sich hielt, obwohl Afrika nach wie vor unterbevölkert ist, rechtfertigte eine völkermörderische, geburtenfeindliche Ideologie, in der die Ängste vor einer weniger weissen und zunehmend Schwarzen Weltbevölkerung zum Ausdruck kommen.
  • Der Mythos «Afrika = ein vom Aussterben bedrohter Kontinent» (ab den 1980er Jahren) entstand angesichts apokalyptischer Plagen (AIDS, Ebola, Armut), die «ein verfluchtes Volk auf gesegnetem Boden» heimsuchten und die Wahnvorstellung eines «Afrikas ohne Afrikaner»[x] aufkommen liessen. Dieser Mythos rechtfertigte eine humanitäre Ideologie, die ein «Recht auf Einmischung» begründete.
  • Der Mythos «Afrika = Kontinent der schlechten Regierungsführung und der Korruption» (seit den 2000er Jahren) rechtfertigt die aktuelle re-kolonisatorische Ideologie, die darauf abzielt, Afrika einer äusserst kolonialistischen «internationalen Gemeinschaft» (UNO, EU, Internationaler Strafgerichtshof usw.)[xi] zu unterjochen.

10. Der gegen sich selbst gerichtete Anti-Schwarze Rassismus als Folge

Der Triumph von Rassismus ist die Verinnerlichung durch das Opfer. Der Selbsthass, der durch die rassistische Ideologie und ihre verschiedenen Multiplikatoren (die äusserst ideologisch geprägte, koloniale Schule, die in der Regel sehr euro-zentrischen Filme, literarischen Werke, Fernsehsendungen usw.) auf Schwarze übertragen wurde, ist mittlerweile tief verwurzelt. Dieses Phänomen geht manchmal so weit, dass es für Schwarze unmöglich wird, sich selbst einen Wert zuzuschreiben. Und wenn ein Mensch mit «schwarzer Haut, weisser Maske»[xii] sich einen Wert zuschreibt, dann geschieht dies oft anhand dessen, wie weit er sich weissen Idealen annähert. Durch die geballte Wirkung der Islamisierung, Christianisierung und Kolonisierung wurde Schwarze Identität zu etwas Vorgefertigtem, das Schwarze aus dem Westen und/oder Osten importieren müssen.

Perspektiven

Während für die westlichen und arabisch-muslimischen Gesellschaften der Kampf gegen Rassismus eine hochaktuelle Herausforderung darstellt, ist in Gesellschaften und Communitys mit afrikanischen Wurzeln der gegen sich selbst gerichtete Anti-Schwarze Rassismus ein zentrales Problem. Oft jedoch wird er von Schwarzen nicht beachtet oder kaschiert. Dabei verbirgt sich in dem gegen sich selbst gerichteten Anti-Schwarzen Rassismus nicht nur ein innerer Feind, der den Kampf gegen Rassismus und die dazu erforderliche Dekonstruktionsarbeit erschwert. Er verhindert auch das Zurückfinden zu einer ganz persönlichen Identität, zur Authentizität, zum Ubuntu der Vorfahren und seinem humanistischen Credo: «Ich bin, weil du bist», statt des völkermörderischen «Ich bin, weil du nicht bist». Dieser Missstand äussert sich auf fatale Weise in den Völkermorden unter Schwarzen, wie sie in Ruanda (Hutu gegen Tutsi, 1994) oder Burundi (Tutsi gegen Hutu, 1972) stattfanden – Gipfel des gegen sich selbst gerichteten Anti-Schwarzen Rassismus und Folge der Verrohung durch das kolonialistische System. Er ist auch psychiatrisch relevant. So charakterisiert der Essayist Bwemba Bong Afrika als «die grösste Freiluft-Psychiatrie der Welt»[xiii].

Echte Perspektiven zeigt das mythische Königreich Wakanda aus dem Spielfilm Black Panther auf. Sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit Afrikas verweisend, motiviert Wakanda neue Generationen von Schwarzen, von Kamites, die sich auf die grosse Suche nach positiven Vorbildern begeben und eine afrikanische Renaissance anstreben, inspiriert durch das antike Schwarze Ägypten, das ihr erhabener Mentor Cheikh Anta Diop[xiv] bekannt gemacht hat.

Aus dem Französischen übersetzt von Katja Roloff.


[i] Die begrifflichen Verhandlungsprozesse verlaufen in jedem Sprachraum unterschiedlich und haben zum Teil auch unterschiedliche etymologische und geschichtliche Hintergründe. Daher werden in diesem Themenkomplex die vom Autor angeführten französischen Begriffe übernommen und ggf. mit einer Übersetzung oder einer Erläuterung versehen. (Anm. d. Ü.)

[ii] Der Begriff «négrophobie» wird im französischen Sprachraum u. a. von Teilen der anti-rassistisch engagierten Schwarzen Community verwendet, so z. B. durch die Brigade anti-négrophobie (BAN;https://www.facebook.com/BrigadeAntiNegrophobiePageOfficielle ). Dies ist in deutlicher Abgrenzung zu dem im deutschen Sprachraum als herabwürdigend und beleidigend geltende N-Wort zu beachten. (Anm. d. Ü.)

[iii] Hierzu seien zwei ebenso grundlegende wie einschlägige Publikationen genannt: «Racisme anti-Noir et Enjeux Noirs à Durban», Sonderausgabe, in: Regards Africains (Genf), Nr. 46/47, Sommer 2002; Racisme anti-Noir, Actes de la 1re Conférence européenne sur le racisme anti-Noir (Genf, Juni 2006), Hg. CRAN, 2008, 293 S.

[iv] Vgl. Philippe Lavodrama, «Archéologie du racisme anti-Noir: Cham, le maudit de la Bible, Victime première et unanime», in: Regards Africains Nr. 46/47, Sommer 2002

[v] Vgl. Doumbi Fakoly, L'origine biblique du racisme anti-noir, Ed. Menaibuc, 2005

[vi] So die Schätzung der Geografin Louise-Marie Diop-Maes (und Witwe von Cheikh Anta Diop) zum Demografischen Einbruch in Subsahara-Afrika zwischen 1750 und 1850. Siehe Afrique Noire, démographie, sol et histoire, éd. Khepera & Présence africaine, 1996, 387 S.

[vii] Jedoch wurde allein der durch den Sklavenhandel organisierte Genozid an Schwarzen auf der Weltkonferenz gegen Rassismus (Durban 2001) als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» anerkannt, einschliesslich der Tatsache, dass er zu allen Zeiten als solches hätten gelten sollen (Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranz, Erklärung, Vereinte Nationen, 2002, Punkt 13; https://www.un.org/depts/german/conf/ac189-12.pdf; Stand : 27.01.2022)

[viii] Vgl. J.H. Griffin, Dans la peau d’un Noir, Gallimard, 1962; Günter Wallraff in dem Dokumentarfilm Schwarz auf Weiss, Regie: Pagonis Pagonakis et Susanne Jäger, Deutschland 2009

[ix] Vgl. Bassidiki Coulibaly, Du crime d’être Noir. Un milliard de Noirs dans une prison identitaire, éd. Homnisphères

[x] Vgl. Stephen Smith, Négrologie: Pourquoi l’Afrique meurt, Calman-Levy, 2003. Mehrere Autor*innen wandten sich gegen diese falsche Behauptung, insbesondere Boubacar Boris Diop, Odile Tobner und François-Xavier Verschave, Négrophobie. Réponse aux «négrologues», éd. les arènes, 2005, 200 S.

[xii] Vgl. Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs. Seuil, Paris, 1952. (Schwarze Haut, weisse Masken. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1980)

[xiii] Bwemba Bong, Quand l’Africain était l’or noir de l’Europe. Démontage des mensonges et de la falsification de l’histoire de l’hydre des razzias négrières transatlantiques, éd. Dagan, 2014

[xiv] Der in verschiedenen Disziplinen beheimatete, senegalesische Ägyptologe Cheikh Anta Diop wurde in akademischen Kreisen Frankreichs – erfolglos – stark angefochten und ist in der Schwarzen Community eine echte Kultfigur. Vgl. insbesondere: Nations nègres et cultures, Présence Africaine, 1954 ; L’unité culturelle de l’Afrique Noire, Présence Africaine, 1959; usw.