by William Stern
published on 17. June 2021

Tanz der Weisskörperträger

Kennen Sie diesen Witz? Zwei alte weisse Männer treffen sich auf Zoom und sprechen über ... Identitätspolitik!

Ist das lustig? Es geht ... (in den Galeerenstuben des NZZ-Feuilleton wärs immerhin ein subversiver Treppenwitz). Aber das war ja auch nicht das Ziel dieses Tender Talk (obwohl vor allem Ted Gaier, die Lippen rot und verschmitzt, sich zu Beginn das Lachen kaum verkneifen konnte, als er vom Einführungsbeauftragten Joshua Wicke zur Stilikone geadelt wurde).

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Ted Gaier also, Musiker bei den Goldenen Zitronen, Autor, Aktivist, Berufspunk, und Klaus Theweleit, allerälteste Instanz, eigentlicher founding father und Überfigur der modernen kritischen Männlichkeitsforschung im deutschsprachigen Wissensraum, diskutierten an diesem Donnerstagabend über Zoom. Kennen sie sich von früher? Natürlich! Sie haben sogar mal miteinander Hip-Hop getanzt. An einem Podium zum Nationalsozialismus war das, vor einer kleinen Ewigkeit.

Was hätte da alles zum Gespräch werden können: Die Gemeinsamkeiten und Überschneidungspunkte der beiden sind Legion. Sie sind weiss, links, männlich, musikaffin, rebellierten gegen die Elterngeneration und tragen beide schmucke Halstücher. Klaus hat Ted (sie duzen sich) im Vorfeld zur Vorbereitung einen Auszug aus seinem vierbändigen Pocahontas-Komplex zum Studieren gegeben, Ted Klaus ein Interview mit der schwarzen Musikerin Angel Bat Dawid zum Thema Rassismus, das er für die Woz geführt hat.

Aber eben, das mit dem gemeinsamen Tanz ist schon eine Weile her (auch wenn Theweleit versicherte, die Hüfte – oder wars das Knie? – verrichtet noch immer zuverlässig den Dienst; deutsche Wertarbeit, ups), und wie das so ist, wenn man das erste Mal seit langem wieder zusammen auf der Tanzfläche steht: Man muss den Rhythmus erst einmal finden.

Nach einem etwas holprigen Gesprächseinstieg begab sich Theweleit aber mit Blick in den (biografischen) Spiegel recht bald in medias res: „Wenn heute gesagt wird, ich bin ein alter weisser Mann, ist das auf einer Ebene nicht zu leugnen. Auf der anderen Seite war ich nie ein junger weisser Mann. Seit 14 war ich inside black. Die ganze Entwicklung lief über die Black Music.“ Klar, mit so einer Aussage ist natürlich gleich mal Zunder drin. Auf der Erregungsskala in den sozialen Medien hätte Theweleit damit mindestens einen kleinen Muschg fabriziert. Gaier, sich in diplomatischer Zurückhaltung übend, gab zu bedenken, dass gewisse Schwarze sagen würden, dass er das nie verstehen könne, das Schwarzsein: „Bei aller Identifizierung: Wir können da nicht raussteppen. Bei allem sich heimisch fühlen: Das Angebot, Bündnispartner zu sein, heisst nicht, dass dieses Angebot auch angenommen wird.“

Die Frage lautete also: Wie kann man sich als „Weisskörperträger“ (theweleitsche Wortschöpfung) solidarisch zeigen mit den Unterdrückten? Und welche Lehren kann man aus den Erfahrungen der beiden Bewegten Theweleit (mitten drin als 68er in der Auflehnung gg. die Nazi-Eltern und den Bundesrepublikanischen Bürgertums-Mief) und Gaier (antiautoritäre Erziehung, Ausläufer v. 68, Punk ff.) ziehen? Für Gaier ist die klare Kartierung unabdingbar. „Die radikalen Standpunkte, die sehr stark auf Abgrenzung basieren, scheinen mir notwendig, um sich seiner selbst zu versichern.“ Als junger Mensch brauche man erst einmal Abgrenzung, in Gaiers Fall etwa zu den „Hippie-Arschgeigen“, zu denen er in den 80ern Distanz markierte. Theweleit dagegen, auch er um originelle Invektive nicht verlegen (J.S. Bach zum Beispiel ist für ihn ein „musikalischer Terrorist“), vertrat die Ansicht, dass „Abgrenzung eine vorübergehende Sache“ sein sollte.

Hier machte sich Theweleits Erfahrung mit der Zersplitterung und Radikalisierung der studentischen 68er-Bewegung bemerkbar. „Die K-Gruppen wurden damals körperlich immer harscher und im Kopf immer dümmer.“ Die Abspaltung mündete schliesslich im Terrorismus der RAF. „Identität ....“, fasste Theweleit irgendwann etwas ratlos zusammen, „... ich weiss gar nicht, was dieser Begriff soll“. Der Kampf um (die eigene) Identität als linke Emanzipationbestrebung, das schien den „Männerphantasien“-Autor nicht wirklich zu überzeugen.

Gaier, dessen Körperhaltung – den Kopf sorgenschwer in die Hände gestützt, die Stirn ein faltiges Grenzgebiet der Unsicherheit – vielleicht mitunter auch ein Unwohlsein widerspiegelte, angesichts gewisser Äusserungen seines Gesprächspartners, teilte dann irgendwann eine „bescheidene Erkenntnis“: „Es ist leicht für Leute, die als bürgerliche Individuen einer luxuriösen eigenbeschaffenen Welt angehören. Die können sagen, 'ich verachte Identitätskrempel', aber das sieht anders aus für Leute, die kämpfen mussten.“

Und wo Theweleit mit der Anekdote, dass er vor soundsovielen Jahren einmal, genau wie die Musikerin Angela Bat Dawid auch, in einer Hotellobby von einem Hotel-Arsch die Benutzung des Hotel-Pianos verboten bekam, aufzeigen wollte, dass man eben Diskriminierung doch nachempfinden könne, zielte Gaier genauer: Vor ungefähr 10 Jahren seit ihm aufgefallen, dass er sich als Punker ja ausgesucht habe, ob er vor der Polizei wegrennen wollte. Diese Wahlfreiheit hätten black people nicht. Und weiter: „Wenn das revolutionäre Subjekt anfängt zu reden, redet es halt nicht so, wie sich das linke Umfeld das wünscht. Man muss dann anfangen, sich mit gewissen Tabus auseinanderzusetzen.“ Was heisst das? Wie damit umgehen als linke Person mit Zugang zu den Töpfen des kulturellen, sozialen und finanziellen Kapitals? Gaier, der auch aus seinen Erfahrungen in einer WG mit black people erzählte, hat eine „mantramässige“ Antwort: „Nicht judgemental sein mit Sachen, die mir ideologisch gegen den Strich gehen.“

Lag es am Alter der Gesprächspartner, dass fast jedes Argument mit der eigenen lebensweltlichen Erfahrungen unterfüttert, das Denken innerhalb des eigenen biografischen Raums stattfand? (Grosser Vorteil des Nicht-mehr-jung-seins: Man darf jeden Satz mit einer persönlichen Anekdoten aus dem reichhaltigen Anekdotenschrank einleitend würzen). Nun gut, spannend wars allemal, es ist ja nicht abzustreiten, dass Gaier und Theweleit gelebt haben.

Eine gute Stunde war da schon um, und es wäre zwar übertrieben zu sagen, man habe ein frei flottierendes Gespräch bezeugt. Dafür zog das Thema Identität allzu zuverlässig wie ein Magnet an jedem Satz, an jedem Gedanken und führte fast jedes Mal zur Frage: Wer darf was unter welchen Voraussetzungen machen/tun/sagen/schreiben/singen/unterlassen und mit welcher Reaktion muss sie/er/es rechnen? Man hätte sich gewünscht, Theweleit und Gaier hätten dabei etwas mehr übers Mannsein und etwas weniger übers Weisssein gesprochen (und dabei recht eigentlich übers Schwarzsein gemutmasst). Die Expertise dazu ist ja zweifellos vorhanden. Theweleit hat in „Männerphantasien“ unschätzbar wertvolle Pionierarbeit geleistet und Ted Gaier wurde uns vom Schauspielhaus immerhin als „ehrlichster Vertreter der kritischen Männlichkeit“ angepriesen.

Aber dafür war dieser talk angenehm un-tender. Mit der sogenannten „neue Zärtlichkeit“, die in dieser Reihe implizit herbeigesehnt und explizit ausgerufen wurde, ist es ja eine fallstrickige Sache: Natürlich klingt das wunderbar, gerade im Pandemie-Zeitalter. Aber wenn man vor lauter Zärtlichkeit die eigenen blinden Flecken im Harmoniebad auswäscht, ist halt auch niemandem gedient. Hier waren nun zwar zwei Leute zusammengekommen, die viel teilten, sich aber nicht in wohlfeilem Verbrüderungssprech ergingen. Das lag, man muss es so festhalten, in erster Linie an Gaier. Gaier, das schmucke Tuch um den Hals geknüpft, die Haare gescheitelt, die Wimpern getuscht, war ein Mephisto der Herzen, der einem die Widersprüche wie Giftpfeile in die Brust schoss. „Das Du-wirst-das-nie-verstehen kann man ja auch erst mal so lassen. Das ist ja nicht an uns, das zu beurteilen.“ Oder mit etwas mehr Punk ausgedrückt: In gewissen Situationen vielleicht auch einfach mal die Fresse halten.

Theweleit hingegen liess keine Zweifel aufkommen, welches Gewicht er dem vornehmen Schweigen beimisst: Nullkommanull, Federgewicht. „Männerphantasien“ hat in der jüngsten Ausgabe 1278 Seiten (jede einzelne davon lesenswert!) und hätte man ihn gelassen, er hätte so lange gesprochen, wie er für die Niederschrift des Buches gebraucht hatte (sechs Jahre).

Die Vehemenz und Apodiktik, mit der Theweleit sprach, stand dabei in einem seltsamen Kontrast zu seiner kategorischen Ablehnung der (körperlichen) Gewalt. An Adorno kritisierte Theweleit einst den „Rechthabergestus“, hier nun aber erlaubte sich Theweleit auch nur spärlich die Möglichkeit, falsch zu liegen. Vielleicht müssen Macht- und Unterdrückungsmechanismen im digitalen Kommunikationszeitalter (und erst recht in einem pandemischen/postpandemischen Zeitalter), etwas von der Materie (dem Körper, der Biopolitik) weg und mehr zur Sprache (bzw. zur Sprecherinnenposition) hin gedacht werden. Im Gegensatz zu Theweleit offenbarte Gaier einen unbefangeneren Umgang mit der eigenen Ungewissheit, und bestätigte damit wieder einmal die alte Erkenntnis: Es ist tausendmal lustvoller, jemandem beim klugen Zweifeln zuzuschauen als bei der eloquenten Rechthuberei.

Apropos tenderness: Was für Männer sind das denn nun eigentlich, Theweleit und Gaier? In der Fragerunde bekam man davon eine Ahnung. Gaier, so erfuhr man, begab sich vor einigen Jahren in Therapie, um dem hartnäckigen Schweigen und Insichhineinfressen des männlichen Mannes, in den 70er-Jahren punkasozialisiert, etwas entgegenzusetzen. „50 Jahre lang haben mich die Unverletzlichkeit und die Unzerbrechlichkeit gut getragen. Dann habe ich gemerkt: Ich muss ran an diese Tenderness.“ Die Therapie hat offenbar genützt, für seine Generation sei er nun „ziemlich soft“, auch wenn es „für 20-Jährige vielleicht immer noch rauh ist“. Grosses Gelächter.

Später fand man dann zur ewig spannenden Frage nach der Jugend und der Revolte; und wie das so ist, wenn das eigene Wirken in der Rückschau beurteilt und Generationenvergleiche angestellt werden: Es steht alles etwas schief. „Die Jugend von heute braucht keine Rebellion mehr, wir waren ja nicht solche Idioten wie unsere Väter“, befand Theweleit mit einem etwas gar gönnerhaften Blick auf die Abschlussrechnung seiner Generation. Natürlich, die Väter und Grossväter der deutschen Millenials haben sich gehütet, einen neuerlichen Weltkrieg anzuzetteln und Menschenvernichtungsfabriken hochzuziehen. Das muss man ihnen zugute halten. Allerdings hat ihre Generation nun auch nicht übertrieben grosse Anstrengungen unternommen, um den Planeten vor dem finalen Kollaps zu bewahren. Immerhin: Sie haben Puls gefühlt und - ganz einfühlsame Ärzt*innen - dem Erdball die infauste Prognose gestellt, sodass ihre Kinder und Enkelkinder nun wissen, was die Stunde geschlagen hat. Statt die rostig gewordene Welt der Eltern im furiosen Glitzerregen unter-, und eine neue Welt aufgehen zu lassen, dürfen sie sich nun mit der gebotenen Ernsthaftigkeit um die finale Abwicklung kümmern.

Aber gut, auch das ist nur eine Vermutung, und persönlich wird wohl gar nichts davon zutreffen; als Kind von Theweleit jedenfalls (er hat zwei erwachsene Söhne) müssen teuflisch-verlockend antiautoritäre Zustände geherrscht haben (man durfte im Hause Theweleit z.B. straflos kiffen, wie er gegen Ende des Gesprächs erzählte); und als Sohn von Ted Gaier kann man sich mit seinem Vater über Stylefragen, beschissene Rock-Musik und Kendrick Lamar unterhalten. Das muss man sich mal vor Augen halten. Mein Vater hält Kendrick Lamar für einen Basketballspieler aus den 70er-Jahren.

Die Fragerunde hielt weitere Überraschungen bereit: Unter anderem wurde über Brechts Schauspieltheorie (Theweleit über Brecht: „Dichten konnte er fantastisch, als politische Figur finde ich ihn eklig und gemein“) und die hegemoniale Architektur vieler Theaterhäuser gesprochen. Die Folie, vor der dieses Gespräch spielte, ist die neubarocke Fassade des Schauspielhauses am Heimplatz (ich lese auf der Website: das Gebäude am Pfauen beherbergte früher eine Kegelbahn und einen Biergarten. Unebenes Terrain für Akademikerinnen und Schöngeister mit Sentiment). Theweleit schaltete sich von Sylt zu, Gaier spiegelte sich wohl von Hamburg aus rein, mit effektvoll-farbigem Bachstein-Hintergrundambiente. Aber spielte Geographie hier überhaupt eine Rolle? Immerhin durchquerte man in diesem Gespräch schon die halbe Welt (Nazi-Deutschland, den afrikanischen Kontinent, USA) und handelte insgesamt sicherlich 300 Jahre Anthropozän ab und bewegte sich doch kein Jota weit.

Ganz am Schluss war dann nur noch Theweleit zu sehen. Last man zooming, während sich die sichtbaren und unsichtbaren Gäste dieser Tanzdarbietung längst (Internet-Zeitalterlängst, sprich: vor einigen Sekunden) zerstoben hatten. Sein Gesicht näherte sich der Computer-Kamera, bis er das ganze Bild riesenhaft ausfüllte. „So. Gut.“ Und weg war das Bild.

Damit war dann eigentlich alles gesagt.

P.S. Es bleibt doch noch etwas Zeit für eine Bilanz des Nichtgesagten. Was gefehlt hat in diesem Gespräch: Die Corona-Pandemie. Ich habe gezählt (Fehler nicht ausgeschlossen), das Wort „Corona“ fiel: null Mal. Das Wort „Pandemie“, bzw. „Pandämonie“(theweleitsche Wortschöpfung) immerhin ein Mal (Trost der Verdrängung).

PPS: Frauen kamen – mit Ausnahme einer lobenden Erwähnung d. Ehefrau Theweleits - auch nicht vor.

PPPS: Herzlichen Glückwunsch zum Adorno-Preis, Herr Theweleit!


Leseliste

„Männerphantasien“, Matthes & Seitz

„Die Arroganz der Jugend hat erst einmal Recht“, Woz-Interview

„Um in dieser Hölle zu überleben, muss ich mich neu programmieren“, Woz-Interview

Chronik des Schauspielhauses: https://www.schauspielhaus.ch/de/1397/chronik

„Der Feminist“, FAZ-Interview