Tender Talk Nr. 3
Carolin Emcke & Vaginal Davis

Diskurs trifft Drag: Carolin Emcke trifft Vaginal Davis! In ihrer Kunst arbeitet Vaginal Davis mit einer explosiven Fülle an Medien und Materialien, mit ihren Performances politisierte sie Generationen an queeren Künstler*innen und ihre Vorlesungen brachten sie bis in die Hörsäle von Harvard. Dort, wo Vaginal Davis sich einer Eindeutigkeit zu entziehen scheint, findet Carolin Emcke eine Sprache für das Unsagbare. Wie kaum jemand anderem gelingt der Philosophin und Autorin eine radikale Analyse unserer Gegenwart ohne dabei die Zärtlichkeit des Einzelschicksals zu verlieren.

Neben der Aufzeichnung des Tender Talk #3 veröffentlichen wir an dieser Stelle einen Text der Autorin Anne Waak, die das Gespräch zwischen Emcke und Davis verfolgte und ihre Eindrücke mitschrieb.  


by Anne Waak
published on 17. March 2021

Über die Dringlichkeit von Gemeinschaft

Was geht verloren, wenn unser Alltag auf das Private beschränkt bleibt? Was unterscheidet diese virusbedingte Krise von einer, die die Welt vor mittlerweile vier Jahrzehnten erfasste?

Das waren Fragen, die die US-amerikanische Performancekünstlerin Vaginal Davis und die Publizistin Carolin Emcke, Autorin von Büchern wie «Gegen den Hass», «Was wir begehren» und zuletzt den Pandemie-Aufzeichnungen «Journal», in der dritten Ausgabe der Tender Talks besprachen.

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Die beiden, deren erste Begegnung trotz ihres gemeinsamen Wohnortes Berlin an diesem Abend stattfand, verbindet ihre Queerness – verstanden weniger als Identität denn als etwas, das sie jeweils praktizieren. Die queere Praxis sollte dann auch zum bestimmenden Thema der Konversation werden, die stark von gegenseitiger Sympathie und Wärme geprägt war.

Zunächst galt es jedoch, den Beginn der mittlerweile zwölf Monate anhaltenden Pandemie zu rekapitulieren. Wie fühlte sich das eigentlich damals an, im März 2020, also vor einer Ewigkeit? Während Miss Davis, die sich vorausschauend schon im Dezember 2019 mit Lebensmittelvorräten ausgestattet hatte, sich aufgrund diverser Vorerkrankungen vor allem an das Gefühl der eigenen Verletzlichkeit erinnert, setzten bei Carolin Emcke Mechanismen ein, die sie aus ihrer Zeit als Reporterin aus Krisenregionen kannte: eine Anspannung, die ein gesteigertes Gefühl von Lebendigkeit nach sich zog. Als hätte die Gefahr die Sinne geschärft.

Dazu kam jedoch bald für beide die Sorge um die Freunde vor allem in den USA – dem Land, in dem bis heute weltweit die meisten Covid-Opfer zu betrauern sind. Für Emcke bedeutet das gewissermassen einer Umkehr der Sorgerichtung: von der Furcht um das Wohlergehen der Freude im Westjordanland oder dem Libanon zu denen in Harlem oder New Orleans. Vaginal Davis erlebt dabei etwas, was man vielleicht vorauseilende Überlebensschuld nennen könnte: ein schlechtes Gewissen angesichts der Tatsache, dass sie in Deutschland eine Krankenversicherung hat, während dieser vermeintliche Luxus der eigenen Schwester in L.A. nicht zur Verfügung steht.

Es liegt nahe, einen Vergleich des Diskurses über die derzeitige Pandemie mit dem über die Aids-Epidemie seit Mitte der 1980er-Jahre zu ziehen. Wo damals Stigmatisierungen gegenüber den Betroffenen geherrscht hätten, sei anfangs kollektive Empathie zu spüren gewesen. Habe damals kaum Interesse geherrscht, die Krankheit zu erforschen, sei das im Fall von Covid-19 vollkommen anders. (Wobei die Bemerkung erlaubt sei, dass sich beide Krankheiten in ihren – um mit Susan Sontag zu sprechen – Metaphern fundamental voneinander unterscheiden. Während das in den Anfangsjahrzehnten unweigerlich zum Tod führende HIV/Aids lange als «Schwulenseuche» galt und damit leicht zur Stigmatisierung ohnehin schon marginalisierter Bevölkerungsgruppen diente, kann Covid in der öffentlichen Wahrnehmung potenziell jeden und jede treffen. Auch wird das Corona-Virus über die Luft und nicht beim (zumal damals) als widernatürlich, promiskuitiv und damit pervers geltenden Sex übertragen. «Die Krankheit beleuchtet blitzartig eine Identität, die man Nachbarn, Arbeitskollegen, Angehörigen und Freunden sorgsam verheimlicht hatte», schrieb Sontag 1988. Corona tut das nicht, es ist in diesem Sinne demokratisch.)

Allerdings habe, so Emcke, die gesellschaftliche Solidarität ausserhalb der Freundeskreise seit Beginn der Pandemie spürbar nachgelassen. Eine Lehre aus der Aids-Krise sei, gerade angesichts der Ungeschütztheit der queeren Community, das Wissen um die Dringlichkeit von Gemeinschaft und die Wichtigkeit, sich auf einander verlassen zu können.

Stichwort Solidarität: Ebenfalls ins erste Pandemie-Jahr fielen die Black-Lives-Matter-Proteste anlässlich der Tötung George Floyds durch eine weissen Polizisten in Minneapolis. Vaginal Davis, deren Mutter lange einer radikalpolitischen Frauengruppe angehörte und die auf diese Weise «per Osmose» politisiert wurde, erinnert sich an die Unruhen in L.A. in den Jahren 1965 und 1992, die sich ebenfalls an Gewalt weisser Polizisten gegenüber Afro-Amerikaner*innen entzündeten. Die Proteste im vergangenen Jahr seien im Vergleich dazu intersektional gewesen. Angesichts der neuen US-Regierung unter Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris sagt Davis: «Ich würde gern versuchen, so optimistisch wie möglich zu bleiben».

Zur anfänglichen Erleichterung über die Zwangspause vom Reisen und der Freude über die entspanntere Taktung des Alltags, gesellten sich schnell die Trauer: um die verlorene Queerness des Lebens, die geschlossenen Orte, in denen diese Queerness bis dahin ihren Platz hatte, die weggefallenen Gelegenheiten, anderen zu begegnen. «Ich vermisse Performances», sagt Carolin Emcke, und meint damit sowohl die von anderen bei Veranstaltungen in Theatern, Clubs und Buchläden, als auch die Möglichkeit, selbst zu performen – als ein mit anderen verbundener Mensch in der Welt. Die Wichtigkeit von Performances, auch in Hinblick auf die eigene Persönlichkeitsbildung, ist ohnehin ein wiederkehrendes Thema des Talks. Für die achtjährige Vaginal Davis war eine Aufführung von Mozarts Zauberflöte und dort der Auftritt der Königin der Nacht, den sie im Rahmen eines Begabtenprogramms während eines Schulausflugs in die Oper sah, ein entscheidendes Erlebnis in ihrer Entwicklung zur Drag Queen. «Das war dieser Höhepunkt in meinem Leben, der mich wohl in eine Königin der Oper verwandelte.» Für Carolin Emcke war es Händels Oratorium Belshazzar und dort besonders der Auftritt des Countertenors, der sie als Teenager regelrecht erschütterte: «Ich hörte eine Stimme, die sich zwischen den Gendernormen bewegte». Es sind also auch Performances als Gelegenheiten, etwas zu entdecken, von dessen Existenz man vorher nichts ahnte, die derzeit so fehlen. Und es sind diese Begegnungen von Kindern mit Kultur, die es über die Pandemie hinaus unbedingt zu erhalten gilt. Weil sie junge Menschen aller Gesellschaftsschichten ermöglichen, in Kontakt mit etwas ausserhalb ihrer momentanen Lebensrealität zu kommen. «Wir sollten diese Räume schaffen, in denen junge Menschen sich zugehörig fühlen können», so Emcke.

Eine über Zoom gestreamte Veranstaltung ist, auch das ist inzwischen schmerzhaft deutlich geworden, eben nicht vergleichbar mit einem Abend, an dem Menschen in einem tatsächlichen Raum physisch zusammenkommen. Und so endete das Gespräch mit dem beiderseits dringend geäusserten Wunsch, dem virtuellen Treffen baldmöglichst ein echtes folgen zu lassen.