Sibylle Berg über die Corona-Passion von Nicolas Stemann

Die Corona-Passion von Nicolas Stemann versammelt Kolumnen und Liedtexte des letzten Jahres, in denen sich der Regisseur mit dem immer noch grassierenden Virus auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene auseinandersetzte. Gerahmt wird das Buch von einem Vorwort von Sibylle Berg, das wir an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung des Alexander Verlags veröffentlichen dürfen. Wir haben die Gelegenheit ausserdem genutzt, Frau Berg ein paar Fragen zur derzeitigen Situation zu stellen.


by Sibylle Berg
published on 20. January 2021

I

Frau Berg, im Vorwort des Buches Corona-Passion von Nicolas Stemann schreiben Sie: «Vielleicht sollte diese Krise Anlass sein, etwas Neues zu wagen.» Möchten Sie all den Neu-Anfänger*innen, die hoffentlich da draussen sind, etwas mit auf den Weg geben?

«Durchhalten. Ist doch egal, warum.»

Was, oder wen, oder weshalb, vermissen Sie, im Januar 2021?

«Italien. Anarchie. Lautstärke.»

Was, oder wer, oder weshalb, gibt Ihnen Hoffnung, im Januar 2021?

«Nix.»

Wofür fehlt Ihnen das Verständnis im, Sie ahnen es, Januar 2021?

«Quängeln.»

Möchten Sie, trotz etwaiger digitalitätsbedingter Ermüdungserscheinungen, Ihre derzeitigen Lieblings-YouTube-Clips oder Twitter-Threads oder Hyper-Links mit uns teilen?

«Alles von Tom Vercetti lesen.
Alles von Bob Vylan hören.»

II

Wie wichtig ist uns Kunst? O.k., gut, andere Frage, weil der Begriff zu schwammig ist. Wie wichtig ist das Stadttheater noch, heute, in der Zeit der Zeitknappheit, der Endrunde des wettbewerbsgetriebenen Kapitalismus, in dem sich die Menschen maschinengleich perfektionieren wollen, um zu überleben, im Kampf gegen Codeketten. Wie wichtig ist da also das Theater, das manche noch aus der Kindheit kennen oder von ihren Eltern, die ein Abo hatten und…unglaublich wichtig, würden fast alle sagen – die Zugang zur Kultur haben. Die gelernt haben zu sagen: Theater ist so wichtig wie ein gutes Buch. Das auch kaum mehr einer liest, denn da ist der Wettbewerb und der Job und das Netz und die Familie und immer irgendwelche Menschensorgen. Vielleicht ein, zwei Mal im Jahr gehen Menschen, die sagen, ich gehe gerne ins Theater, ins Theater. Wenn sie Glück haben, schlafen sie nicht ein.

Und dann war es weg. Zugeschlossen vom ersten Tag des Ausnahmezustandes – für viele der erste ihrer Lebenszeit. Das erste Mal begreifen, wie wenig man ist, der Wegfall aller eingebildeten Stärke und Autonomie. Das Ende der Gewohnheiten.

Plötzlich wurde deutlich, was seit Jahren verschwommen fühlbar war. Fast täglich neue Naturkatastrophen, aussterbende Tierarten, aussterbende Demokratien, eine Katastrophe nach der anderen, und die meisten schüttelten sich und machten weiter, weiter wie immer, solange es das Immer noch gäbe. Die Theater als kleine Inseln aus der Kindheit waren da wie alles, was stets da war, der Sommer, der Geburtstag, das Schauspiel, die Oper, kleine Oasen des Sich Ausruhens, Sich-Treffens, gemeinsamen Genießens oder Denkens oder Staunens oder Sich Langweilens. Plötzlich war jeder alleine mit sich in einem unruhigen offenen Meer, in dieser Zeit, die eine fundamentale Änderung unserer aller Leben bedeutet. Nichts wird mehr werden wie es war.

Fast scheint es, als hätten sich die meisten Länder entschlossen, in einen faschistischen Kapitalismus zu marschieren. Die Demokratien brechen weg, schneller als das Klima die Meere steigen lässt.

Und das Theater – war weg. Alle Vorbereitungen, Proben, die neuen Stücke, die großen Pläne – verschwunden. Die Schauspieler*innen, deren selbstgewählter, schlechtbezahlter Lebensinhalt es ist, auf Bühnen stattzufinden, die Tänzer*innen und Musiker*innen hatten kein Publikum mehr, keine Bühne, keine Auseinandersetzung mit irgendwelchen Stoffen – verschwunden. Rasant füllte sich das Internet mit Darstellenden, die Gedichte vortrugen, mit alten gestreamten Aufführungen und mit großer Verzweiflung. Manche sahen zu. Manche sagten: Ja, das Theater, das funktioniert doch nur live, wissen Sie, das Zusammenspiel Publikum, Schauspieler*innen, das ist Magie. Magie, die leider oft nicht mehr stattfinden kann in der immer höher drehenden Schlagzahl von stattfindenden Premieren, so dass sich viele Theaterschaffende, aber auch Zuschauer*innen seit langem fragten, ob diese Kunstform noch zeitgemäß ist mit ihrer Überzahl homogener Darsteller*innen, Regisseur*innen. Kaum Intendantinnen, kaum ein klassisches Stück ohne weinende, keifende, geschundene Frauenrollen, was soll uns das noch. »Ich vermisse es, mir so richtig fett zehn Stunden Castorf reinzuziehen«, sagte auf jeden Fall keiner. All die Bemühungen, das Theater in unsere Zeit zu transportieren, es zu einem Ort zu machen, an dem sich die Menschen heute wiederfinden, mit ihren Problemen, ihren Sorgen, mit ihrer Diversität, hatten gerade erst zaghaft begonnen und dann –Shutdown. Ein paar Versuche, das analoge Medium ins Digitale zu überführen, gelangen. Das Experiment von Herrn Stemann zum Beispiel. Da ging etwas, da war keine Verzweiflung, fast konnte man wieder hoffen, aber nun sehen wir weiter. Die schwere Zeit der Theater wird noch lange dauern. Vielleicht wurde durch die Pandemie nur deutlich, dass nun der Moment für etwas Neues, Gerechteres, Moderneres, Diverseres gekommen ist. Ohne Hierarchie und Bühnenverein und Intendantenverein (Frauen, die wenigen, mitgemeint). Vielleicht sollte diese Krise Anlass sein, etwas Neues zu wagen. Einer, der das versucht, ist sicher der Autor dieser Texte.

Sibylle Berg