Die Zündschnur brennt unbemerkt weiter

by Seraina Kobler
published on 06. May 2022

I

Ich werde sterben. Das ist nicht so schlimm. Ich bin einfach ein wenig früher dran. Was tut man, wenn man weiss, dass man bald sterben wird? Man geht nach Afrika, nach Stockholm oder Dresden. Nein, Dresden vielleicht doch lieber nicht. Was würdet ihr tun? Nachhause fahren? Natürlich! Aber was, wenn man zwölf Jahre nicht mehr da war?

II

Eine Handkamera. Eine Wohnung. Ein Tatort, auch. Erinnerungen hängen in den Räumen, wie eine ausgeleierte Platte mit Cher-Songs. Eine angebrochene Flasche Dune. Ein Parfüm. Ein Eurodance-Projekt, auch. Dune, ein Wort wie ein ganzes Jahrzehnt. Wie Glücks-Kuschelbärchen. Pinke Acryl-Fingernägel. Schlangenleder-Print. Werden Gegenstände wichtiger oder weniger wichtig, wenn man weiss, dass sie bald keine Bedeutung mehr haben werden? Lady Di. Marilyn Monroe. Sie lächeln von den Wänden, als wäre sie nicht schon längst vorbei, die Zeit der letzten grossen Superstars. Live fast. Die young. Ist es tröstlicher zu sterben, wenn man weiss, dass andere auch schon tot sind? Mutter sammelt Muscheln. Steine. Scherben. Die vertrockneten Milchzähne ihrer Kinder. Sie wird eines davon überleben. Doch das weiss sie nicht.

III

Könnt ihr mal die Augen zu machen? Denkt an etwas Banales. An ein Familientreffen zum Beispiel, so ein ganz normales Familientreffen. Man trifft sich. In der Familienwohnung. Zum Beispiel zu Champagner, mit einer Torte, extra aus der Conditorei geholt. Später gibt es Familienpizza. Willst du noch ein Stück? Wie die Zeit vergeht. Der Pullover steht dir toll. Jetzt stellst du dir die ganze Szene nochmals vor. Alles genau gleich, aber diesmal ist eine tickende Bombe unter dem Küchentisch versteckt. Noch ein Stück Pizza? Die Zündschnur brennt unbemerkt weiter…. Wie die Zeit vergeht. Der Pullover steht dir toll. Und sie brennt weiter… Nur ist die Bombe keine Bombe, sondern eine unheilbare Krankheit. Der Untergang einer Welt. Die nahende Endlichkeit verändert alles von Grund auf. Jeden Blick. Jedes Wort. Jeden Atemzug. Die ganze Zeit über fragst du dich: Warum sagt er es ihnen nicht? Unheilbar! Warum sagt er ihnen nicht? Damit ihnen die Vorwürfe später doppelt leidtun? Will er sich selbst beweisen, dass es richtig war, alles. So wie er es gemacht hat. Man geht nicht mehr zurück, man schaut nicht zurück. Weil man sein Leben nicht überdenken will. Vielleicht, weil man Angst hat, dass es anders gekommen wäre, wenn man alles richtig gemacht hätte.

IV

Wie alt warst du, als wir uns das letzte Mal gesehen haben? Du siehst aus wie die junge Mama. Zuhause. Das sind Vater. Mutter. Kind. Der Schulweg. Die Dörfer. Das Gestrüpp. Die Stadt, die man sein Leben lang nie los wird. Bis man ein eigenes Zuhause hat, das einen zuerst erstickt und dann auffrisst. Der Schulweg. Die Dörfer. Das Gestrüpp. Welcher ist der bessere Sohn? Der, der sich um die Glühbirne im Keller kümmert? Oder der, der nicht so unglücklich werden will, wie du selbst? Triviale Leben in denen die Fantasie vom Fernseher bis zum Kühlschrank reicht. Und keinen Zentimeter weiter. Du bist hier geboren. Du wirst hier sterben. Du bist nichts. Welches Recht gibt einem der eigene bevorstehende Tod? Ich wollte nicht herkommen. Ich wusste, dass es genau so werden würde. Was willst du von uns? Warum bist du so brutal? Weil du uns dazu machst.

V

Denkt man an seine erste grosse Liebe, wenn die Welt untergeht? Wie lange dauert es, bis von einem Menschen nur noch die blanken Knochen da sind? Im Krankenhaus hatte so einer die ganze Zeit seinen Radio an. Versuch mal zu sterben, wenn Ralf seine Morning Show hat. Aber dann kam da Gigi-Fucking-D'Agostino. Unser Lied. Baby, I'll always be here by your side. Es ist diese Art von vollkommenen Glück, die nur möglich ist, wenn man die Erstarrung durchbricht. Du weisst, du wirst Fallen. Weil nach dem vollkommenen Glück, da kommt immer der Fall. Keine Zweifel mehr. Denn du hättest es nicht anders machen können. Niemals.


Es ist wohl unmöglich dieser Tage, nichts zur Form zu sagen. Zum Stream. Live is live, hiess es in der Einladung. Kein Vor. Kein Zurück. Kein: Ich schau nachher weiter. Eine wohltuend kluge Entscheidung. Ebenso, wie die Kamera den Schauspieler*innen zu überlassen. Sie treffen eine mögliche Auswahl. Es ist, wie immer, wenn man Geschichten erzählt, eine mögliche Betrachtungsweise. Schauspieler*innen spielen für ihr Publikum. Selbstverständlich. Dass Emotionen aber auch ausserhalb des Raumes transportiert werden können, hat «Einfach das Ende der Welt» sehr eindrücklich vor Augen geführt. Ja sogar ganz plastisch mit ein paar Tränen. Und einem Euro-Trance- Gänsehaut-Moment. Früher spielten Filme und Theaterstücke frühestens in der Zeit, in der meine Eltern aufgewachsen waren. Ich blickte in einen Erinnerungsraum, der nicht der meine war. Doch hier kommt plötzlich der Song, den ich selbst während meiner ganzen ersten grossen Fahrt gehört habe. Mit Wind im Haar und sorglos gerauchten Zigaretten im Mundwinkel. Und mir wurde klar, dass auch ich die Hauptfigur hätte sein können. Sie hallen noch nach, die Gedanken an das früher und an das jetzt. Sie haben ein mögliches Gesicht bekommen. Was will Theater mehr?