Ausnahmezustand-
theater

by Michelle Steinbeck
published on 31. March 2020

Meine Nachbarn sind in Quarantäne. Es sind nun schon fast drei Wochen, seit sie das Haus nicht verlassen haben. Heute stehen sie als Clowns verkleidet auf dem Balkon. Sie spielen eine Szene und filmen sich dabei. Immer wieder brechen sie ab und beginnen die Szene von vorn: Sie schauen einander an, halten sich eine Haushaltpapierrolle wie ein Fernrohr ans Auge und spannen auf die Strasse. Weiter kommen sie nicht. Nie sind sie mit ihrer Performance zufrieden. Am Anfang lachen sie noch, bald nicht mehr.

Für den kanadischen Soziologen Erving Goffman ist die ganze soziale Welt Theater. Im Wissen darum, dass wir beobachtet werden, spielen wir den andern etwas vor, um ein bestimmtes Bild von uns zu vermitteln. Wir bewegen uns bewusst in einem Bühnenbild, handhaben die zugehörigen Requisiten, und spulen unser eingeübtes Repertoire ab.

Kein Wunder, werden wir im Ausnahmezustand ein wenig verrückt. Es ist ein weitverbreiteter Albtraum, in einer Schulaufführung auftreten zu müssen, und beim Betreten der Bühne zu merken: Scheisse, ich kenn das Stück gar nicht.

Wenn wir nun plötzlich in den alltäglichsten Situationen Bühnenbild und Kostüme nicht mehr erkennen und rundherum mit neuen Requisiten gefuchtelt wird, wissen wir schnell nicht mehr, wie uns richtig gebärden. Wenn in der heilen Welt des Demeterladens plötzlich eine Plexiglasscheibe vor der Kasse steht und du am Eingang von einer Maskierten aufgefordert wirst, dir die Hände zu desinfizieren – spielst du einfach mit? Oder hast du keinen Bock auf Impro-Theater, denkst, den Traum zu erkennen und zu durchschauen, regst dich auf, schreist rum, dass das alles eine Verschwörung sei und Rudolf Steiner sagt, wir sollen uns alle mit dem Virus auf einer höheren Ebene vereinigen? Oder bist du in deinem Element und spielst – mit Schutzausrüstung besser ausgestattet als jedes Krankenhaus – alle andern an die ausverkaufte Wand?

Gerade proben wir also Corona. Die Regie ist nicht sehr klar, ein windiges Kollektiv, das sich nicht einig ist. Auf wen sollen wir hören? Und doch scheinen viele ihre Rolle schon gefunden zu haben. Grimmig schreiten sie Spazierwege ab, blind für die Bäume, die Rüschen tragen und den Himmel, der heute ein Heidelbeerjogurt ist. Sie spielen Krise, und das ist ein ernstes Stück; im Drehbuch steht, sie müssen auf der Hut sein, sie übertreiben das misstrauische Gesicht. Ihr ganzer Körper zischt das Publikum an: Ich spaziere, weil es gesund ist fürs Immunsystem, ich bin hier nicht zum Spass!

Das Schöne an Proben ist ja, dass sich bis zur Premiere noch alles ändern, im Idealfall sogar verbessern kann. Wir werden in den kommenden Wochen Zeit haben, die Entwicklung des Stücks von unseren Fenstern und Balkonen aus zu beobachten. Dabei können wir uns auch fragen, welche Rolle wir darin spielen wollen.

Eine andere Nachbarin stellt sich jeden Tag um dieselbe Zeit ans Fenster und schaut betrübt hinaus. Dann zieht sie ihren Pullover hoch und betrachtet für eine geraume Zeit ihren Bauchnabel, bevor sie den Vorhang wieder zuzieht.