Zu diesem Abend

Welche Spuren hinterlässt ein Abschied? Ausgehend von dieser Frage liest Alexander Giesche in seinem neuen Visual Poem Tennessee Williams letzten Roman. Denn Moise und die Welt der Vernunft ist die Geschichte eines Abschieds: Die Malerin Moise veranstaltet eine Party, um sich aus der Welt der Vernunft zurückzuziehen – und mit der Kunst zu brechen. Der namenlose Erzähler, Moises bester Freund, schlägt sich daraufhin durch das New Yorker Nachtleben, bis er auf dem Dach eines Lagerhauses den Sonnenaufgang beobachtet, der das Schwarz-Weiss der Welt der Vernunft in ein Grau verwandelt.
Ein Visual Poem von Alexander Giesche ist in Raum gegossene Poesie: Mit den Mitteln von Musik, Licht, Video und Technik und gemeinsam mit den vier Schauspieler*innen schafft Giesche dichte Atmosphären, die nicht den Anspruch haben, eine Nacherzählung von Tennessee Williams Roman zu sein. Stattdessen werden dessen Spuren aufgenommen und assoziativ in Bilder verwandelt, eine emotionale Landschaft für Moise, und vielleicht für uns alle, um sich von der Welt der Vernunft zu verabschieden.

Inszenierung
Alexander Giesche
Bühnenbild
Nadia Fistarol
Kostümbild
Felix Siwiński
Sound design
Singoh Nketia
Video
Pata Popov
Grafik
Clemens Piontek
Licht
Christoph Kunz
Dramaturgie
Bendix Fesefeldt
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Audience Development
Mathis Neuhaus
Touring & International Relations
Sonja Hildebrandt
Produktionsassistenz
Dominic Schibli
Bühnenbildassistenz
Chih-Ying Lin / Manuel Halblützel
Kostümbildassistenz
Marcus Karkhof
Videoassistenz
Timon Däster
Inspizienz
Michael Durrer
Soufflage
Gerlinde Uhlig-Vanet
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Zu dieser Inszenierung

«Wisst ihr, meine Welt ist überhaupt nicht eure Welt. Es erscheint mir wie eine Beobachtung von unerträglicher Banalität, dass jeder von uns der einzige Bewohner seiner eigenen Welt ist. Es scheint mir, dass eure Welt vergleichsweise eine Welt ist, die irgendeine Vernunft enthält. Ich glaube, ich habe einst in etwas gelebt, das mehr wie eure Welt war, ich meine eine Welt der Vernunft, doch die Zustände wurden immer unhaltbarer, und ich fing an, den Raum jener Welt zu verlassen und mich in diesen hier zurückzuziehen.»

Mit diesen Worten verabschiedet sich die mittellose Künstlerin Moise auf einer Party von der Welt der Vernunft. Die Welt der Vernunft, das ist die Welt der Anderen, «die nur unterscheidet zwischen krank und gesund, zwischen verrückt und normal, eine Welt, die auf anderen Werten basiert als die, nach denen Williams strebte», schreibt Kurt von Hammerstein, Herausgeber der Neuübersetzung des Romans, die in der Edition Salzgeber erschienen ist. Erstmalig erschien Moise und die Welt der Vernunft 1975, fünf Jahre nach einem denkwürdigen Fernsehauftritt des damals bereits weltberühmten Autors Tennessee Williams in der US-amerikanischen David Frost Show. Die Show wurde kurz nach einem Klinikaufenthalt von Williams aufgezeichnet, der dem Autor von seiner Mutter und seinem Bruder angeordnet wurde. Tennessee Williams ersten Erfolg, Die Glasmenagerie, 1947 schrieb er noch allein mit starkem Kaffee. Bald aber brauchte er am Nachmittag, um vom vormittäglichen Schreiben herunterzukommen, immer mehr Drinks, die ihn schleichend in eine gravierende Alkoholsucht trieben. In den fünfziger Jahren kam dann eine Tablettensucht hinzu, wobei es sich dabei immer, wie er betonte, um verschreibungspflichtige Medikamente handelte; an Schlaf ohne beruhigende Barbiturate und an das morgendliche Schreiben ohne aufputschende Amphetamine war nicht mehr zu denken. In den 1960er Jahren paarte sich seine Sucht dann mit einer schweren Depression, vor allem ausgelöst durch den Tod seines langjährigen Partners Frank Merlo. In seinen Memoiren bezeichnet Williams dieses Jahrzehnt als sein stoned age, das schlimmste Jahrzehnt seines Lebens.
In der David Frost Show lächelt der angetrunken wirkende Tennessee Williams und erzählt, wie gut sein Alkohol- und Tablettenentzug funktioniere. Und neben dem Thema Sucht kommt auch seine Sexualität zur Sprache: Auf die etwas umständlich gestellte Frage «What about things like the homosexuality» weicht Williams erst einmal aus und antwortet dann doch mit «I’ve covered the waterfront», was sich mit in etwa «ich habe alles mitgenommen» übersetzen lässt. Bis dahin war Tennessee Williams’ Homosexualität ein offenes Geheimnis: Er versteckte seine Partner nicht bei Interviews und wenn er Menschen durch eines seiner Häuser führte, in dem er mit einem seiner Partner wohnte und diese fragten, warum es nur ein Schlafzimmer gäbe, dann sagte er einfach, dass das Platz sparender sei. Dennoch war Anfang der 1970er Jahre in den USA und auf fast der gesamten Welt Homosexualität nicht nur ein Tabu, sondern immer noch strafbar. Das Interview im Fernsehen fand erst sechs Monate nach Stonewall statt, einer Serie von gewalttätigen Konflikten zwischen der LGBTQ*-Community und Polizeibeamten in New York City. Die Ausschreitungen wurden vor allem von Schwarzen Transfrauen und Dragperformer*innen angeführt und sind heute Symbol des langen Kampfes gegen die Unterdrückung der Community, welcher noch bis heute andauert. Tennessee Williams öffentliches Bekenntnis zu einem Schwulsein im Fernsehen war das erste dieser Art eines grossen amerikanischen Autors.

Diese neue öffentlich geoutete Identität und die halbwegs überwundene Depression erlaubten es Williams, sich im Schreiben neu zu erfinden. «I’m quite through with the kind of play that established my early and popular reputation. I am doing a different thing, which is altogether my own [. . .] I like breaking out of the conventional forms», schreibt er 1975. Vorbei sind die Zeiten der verkorksten Männer aus den Dramen, mit denen Williams in den 1940er und 1950er Jahren berühmt geworden ist, die Toms, Bricks und Stanleys, die die Frauen unglücklich machten, weil sie vielleicht besser schwul wären. Stattdessen schreibt er in einem fast indiskreten Ton seine Memoiren auf, eine äusserst unterhaltsam zu lesende Autobiografie, in der Williams offen über Liebe, Sex, Alkohol und Drogen spricht. Und dabei zwar immer wieder betont, dass die Leser*innenschaft wahrscheinlich mehr über Theater lesen möchte, er aber gerade mehr Interesse daran habe, im heiteren Plauderton über seine Techtelmechtel zu schreiben. Gleichzeitig veröffentlicht er seinen zweiten und letzten Roman Moise und die Welt der Vernunft, «gewissermassen der dunkle Zwilling der Memoiren, ungleich schwuler als alles, was Williams davor oder danach geschrieben hat, und auch sehr viel düsterer», wie von Hammerstein schreibt.
Neben den expliziten Themen beschäftigt sich Tennessee Williams auch mit neuen Formen des Schreibens, die sich bei einem ersten Lesen des Romans vielleicht einer oberflächlichen Vernunft entziehen, und sich erst wieder auf der tieferliegenden Ebene des empfindenden Verstehens begreifbar machen. Ein teilweise wirrer Lesefluss ergibt sich, in dem frei assoziativ von Erinnerung in die Gegenwart und wieder zurückgesprungen wird, Sätze unvollendet bleiben und Williams sich immer wieder über das Schreiben als künstlerischen Vorgang auslässt. Erst bei intensiverem Lesen lässt sich dieser neue Stil als bewusste künstlerische Entscheidung erkennen, als formales Experiment, um auch in der Form eine Kampfansage gegen die Welt der Vernunft zu sein.

Alexander Giesche und das künstlerische Team machen sich diese formale Setzung für das Visual Poem Moise und die Welt der Vernunft zu nutze. Mit den Mitteln von Musik, Licht, Video und Technik werden dichte Atmosphären geschaffen, die nicht den Anspruch haben, eine Nacherzählung von Tennessee Williams Roman zu sein. Stattdessen werden dessen Spuren aufgenommen und in Bilder verwandelt und entsprechen damit dem assoziativen Stil von Tennessee Williams letzten Roman. So lassen sich alle Elemente auf der Bühne in den Roman zurückführen, beginnend bei dem Bühnenbild:
Moises Wohnung, in der sie die Party austrägt, um ihren Abschied aus der Welt der Vernunft zu verkünden, ist gleichzeitig auch ihr Atelier, in dem sie ihre Bilder malt. Das Atelier des Schauspielhaus Zürich ist der Malsaal im Schiffbau. Dort werden Kulissen bemalt und Stühle blau gestrichen. Der Bühnenboden und die Stufen des Bühnenbildes von Moise und die Welt der Vernunft sind der ausgebaute Boden des Malsaals, auf dem die Farbspuren der letzten fünf Jahre zu sehen sind.
Als erstes auf der Bühne zu hören ist ein Heizlüfter. Der Roman beginnt am «bitterkältesten Tag des Winters» und Kälte als Leitmotiv führt Tennessee Williams immer wieder an, um die prekären Verhältnisse von Moise Lebensentwurf als Künstlerin in New York der 1970er Jahre zu beschreiben. Auf die Frage des Erzählers, ob «es überhaupt noch Heizungen auf der Welt» gibt, stellt Alexander Giesche einen Heizlüfter auf die Bühne, der klassischerweise in Ateliers verwendet wird, um nasse Leinwände zu trocknen – oder um sich an kalten Tagen zu wärmen.
Ausserdem wird in dem Roman immer wieder über Ungeziefer gesprochen, oft in Zusammenhang mit Geschlechtskrankheiten, die die schwule Community auch schon vor HIV/AIDS plagten. Ratten, Tauben und Kakerlaken, die die armen Behausungen New Yorks gemeinsam mit mittellosen Künstler*innen bewohnten, stehen sinnbildlich für das Aussätzige, das der queeren Community von der Welt der Vernunft angehaftet wird. Und gleichzeitig taucht das Tier in Tennessee Williams Erzählung auch immer wieder als Gefährte des Menschen auf: Beim Betrachten eines «Kerls auf Speed, der einen widerstrebenden Hund» mit einer Kette schlug, kommt dem Erzähler die Erkenntnis, dass «zwei verzweifelte Lebewesen, wenn sie denn ein Leben miteinander teilen, häufiger dazu tendieren, sich gegenseitig zu helfen als zu misshandeln.»
New York findet auch auf der Videoebene Einzug in das Stück: Auf einer der Leinwände auf der Bühne im ersten Teil des Stücks ist ein Live-Stream des Times Square zu sehen. Dieser hängt neben der Abbildung eines iPhone Bildschirms, der eine Playlist zeigt. In seinem Roman verweist Tennessee Williams immer wieder auf Musik: «Zu dieser ursprünglichen Plattensammlung war nichts hinzugekommen, bis vor einem Monat der Besitzer der nahe gelegenen Bar die Platten in seiner Musikbox austauschte und mir meine Lieblingsplatte überreichte, eine unvergessliche Pop-Nummer namens Killing Me Softly With His Song. Der Plattenspieler steht direkt neben dem Bett, und die neue Platte ist immer aufgelegt. Ich stelle ihn immer an, bevor ich zu Bett gehe, und Charlie macht sich über mich lustig, weil es mich zu Tränen rührt.» Ausgehend von diesem Lied erstellte Alexander Giesche eine Playlist mit ausschliesslich queeren Künstler*innen, die dem Abend einen Takt gibt und in Dialog mit den Bildern auf der Bühne tritt und diese zu Atmosphären verdichtet.
Ein weiteres Mittel dieser Verdichtung ist das Licht. Immer wieder gibt es in Williams’ Roman Beschreibungen von Farbverläufen, meist von Weiss zu Schwarz, von Schwarz zu Weiss oder von Grau zu Blau. Auch das Licht und die Farben auf der Bühne folgen dieser Dramaturgie: Mit wenigen Ausnahmen wird beides immer dunkler, bis am Ende nur noch eine einzelne Kerze flackert. Die Farbe Blau verweist dabei auch noch auf einen anderen Künstler, der als Referenz für Alexander Giesche eine wichtige Rolle spielt: Derek Jarman. Dessen letzter Film, bevor er 1994 an Komplikationen seiner AIDS-Erkrankung starb, behandelt metaphorisch anhand der Farbe Blau Jarmans zunehmende Blindheit.
Ein Unterbruch in dieser Licht- und Musikdramaturgie wird von den Spieler*innen auf der Bühne selbst gesteuert. Es ist das Bild eines vorbeifahrenden Zugs, genauer das einer U-Bahn. Es entstammt einem Satz, den Moise immer wieder anbringt: «„Die unverhoffte U-Bahn“ war Moises Bezeichnung für all diese verhängnisvollen Unachtsamkeiten, wie [sie] sie gerne provoziert, weniger bei sich als bei anderen, oder ist es vielleicht andersrum: In jedem Fall ist es ein Drahtseilakt, zu – Ja, dieser Satz ist auf seine Art vollendet.» Auch ein anderes Element auf der Bühne verweist auf eine Geschichte, die Moise erzählt: «Als ich anfing zu malen, sagte [meine Mutter], ich sei zur Prostitution berufen oder zum Wahnsinn oder beidem, und sie warf einen Koffer nach mir und setzte mich auf die Strasse.»
Natürlich sind die Koffer am Anfang des Abends noch auf viel mehr als ein Auf-die-Strasse-gesetzt-werden von Menschen, deren Lebensentwurf nicht dem der Welt der Vernunft entspricht. So wie alle Bilder des Abends ihren Ursprung im Roman haben, laden sie gleichzeitig zu freien Assoziationen ein; es sind Bilder des Abschieds, des letzten Mals, wie wir sie uns alle ausmalen können, unabhängig davon, ob wir Moise und die Welt der Vernunft gelesen haben.
In diesem Sinne vielleicht noch ein letztes Wort über den Cocktail, der auf der Bühne zubereitet wird. Er besteht aus der perfekten Summe vier gleicher Teile, die Alexander Giesche im Probenprozess gerne den vier Schauspieler*innen auf der Bühne zuteilte: Gin (Karin Pfammatter), Chartreuse Verte (Thomas Wodianka), Maraschino (Dominic Hartmann) und frischer Limettensaft (Maximilian Reichert). Diesen ziemlich starken Cocktail nannte Tennessee Williams immer wieder als sein Lieblingsgetränk. Und er trägt den bezeichnenden Titel: Last Word.