Zu diesem Abend

Eine junge Frau bekommt ein Kind und alle fragen sich, wer der Vater ist. Den aber will Hester Prynne par tout nicht verraten. So viel Halsstarrigkeit darf im Amerika des 17. Jahrhunderts nicht unbestraft bleiben und so wird Hester gezwungen, jederzeit gut sichtbar ein scharlachrotes «A» auf ihrer Brust zu tragen.

Als der Schriftsteller Nathaniel Hawthorne den Roman Der scharlachrote Buchstabe schrieb, gab es noch keine Bezeichnung für Frauen, die einen freien Umgang mit ihrem Körper und ihrer Sexualität hatten. Geschweige denn Unterstützung. Ihnen zu Ehren blicken der Choreograf und Tänzer Trajal Harrell und das Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble imaginierend zurück: Was hätte in jenen Kolonialzeiten, als europäische Siedler*innen sich auf fremdem Territorium niederliessen und ihre Frauen willkürlichen Regeln unterwarfen, passieren können, wäre eine Frau mit einem unehelichen Kind tatsächlich dazu verurteilt worden, das scharlachrote «A» zu tragen? Von wo wäre Häme, wo Solidarität zu erwarten gewesen? Indem sie der reuevollen Geschichte ein Denkmal setzen, feiern Darsteller*innen und Publikum gemeinsam die Möglichkeit, die Zukunft zu verändern.

Inszenierung, Choreografie, Bühnenbild, Kostümbild, Soundtrack
Trajal Harrell
Licht
Sylvain Rausa
Co-Sound design
Trajal Harrell / Santiago Latorre
Rehearsal Directors
Stephen Thompson / Vânia Doutel Vaz
Dramaturgie
Katinka Deecke
Alle Beteiligten anzeigen
Audience Development
Mathis Neuhaus
Touring & International Relations
Björn Pätz
Produktionsassistenz
Camille Charlotte Roduit
Kostümbildassistenz
Mona Eglsoer
Produktionshospitanz
Selma Jamal Aldin
Hospitanz Kostümbild
Sally Ndiaye
Inspizienz
Aleksandar Sascha Dinevski
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Eine Produktion des Schauspielhaus Zürich mit dem Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble

Eine Koproduktion mit Festival d’Automne à Paris, Les Spectacles Vivants – Centre Pompidou Paris

 

Unterstützt von Müller-Möhl Foundation & Trajal Harrell Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble Fan Club

Zu dieser Inszenierung

Es ist die letzte Premiere von Trajal Harrell und dem Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble, bevor sie im Sommer 2024 ihren Abschied vom Schauspielhaus nehmen werden. Noch einmal kommt alles zusammen, was dieses Ensemble über fünf Jahre ausgezeichnet und ihm in Zürich und international ein breites Publikum verschafft hat: die Zugänglichkeit und die Poesie, die klare Politik und die aussergewöhnliche Sensibilität für ästhetische Setzungen. Seine Vorpremiere hatte dieser Abend im Herbst 2023 beim Festival d’Automne in Paris, nun hat er seine Weltpremiere in Zürich.

1850 hat Nathaniel Hawthorne seinen ersten grossen Roman geschrieben. Der scharlachrote Buchstabe ist ein «page turner» voller Leidenschaft, ein sprachlich und psychologisch ausgefeiltes Kunstwerk, das Geschichte in menschliches Leben und Erleben übersetzt. In den Vereinigten Staaten ist der Roman Schullektüre, viele Menschen, die in Nordamerika aufgewachsen sind, kennen das Buch und haben, wenn der Name Hester Prynne fällt, gleich Erinnerungen im Kopf. Hester Prynne heisst die Hauptfigur von Hawthornes Roman und auch aus nichtamerikanischer Perspektive ist sie eine erstaunliche Gestalt. Anfang des 17. Jahrhundert fährt sie zusammen mit ihrem Ehemann und vielen anderen Menschen aus Europa über den Atlantik, um ein neues Leben anzufangen. Auf der Überfahrt geht ihr Ehemann über Bord, seitdem gilt er als vermisst. Alleine also beginnt Hester ihr neues Leben an der Ostküste des anderen Kontinents, als Teil einer kleinen Gemeinschaft, die erst im Laufe der Jahrhunderte zur blühenden Metropole Boston heranwächst. Nicht nur ist das Leben in der Kolonie hart, sondern unter den Siedler*innen wächst auch die Erkenntnis, dass das «neue» Land gar nicht so neu ist, sondern längst besiedelt war von Menschen, die mangels Feuerwaffen und bösen Absichten schnell den Kürzeren zogen. Hester gliedert sich in die kleine Gemeinschaft ein bis ein Ereignis eintritt, das ihr Leben aus der Kurve wirft. Sie wird schwanger und ist nicht bereit, den Namen des Kindesvaters zu nennen. Die radikalen Puritaner*innen, die angesichts klimatischer und sonstiger Unbill in der «Neuen Welt» das biblische Wort als einzig gültige Autorität betrachten, um über richtig und falsch, über angemessen und verwerflich zu urteilen, bestrafen Hester hart. Nach einigen Monaten im Gefängnis wird sie entlassen und erneut verurteilt: Sobald sie das Haus verlässt muss sie zeitlebens auf ihrer Brust gut sichtbar den leuchtend roten Buchstaben A tragen. Wofür genau das A steht, wird in dem Roman nicht verraten, aber von «Adultery» (Ehebruch) bis «Angel» (Engel) hat es viele Interpretationen gegeben. Der Hauptteil des Romans besteht dann in der Beschreibung der vielen Jahre, die Hester Prynne nach der Geburt ihrer Tochter in dieser unerbittlichen Gemeinschaft verbringt, am Rande der Ortschaft lebend, von allen geächtet, verachtet und ohne menschlichen Beistand. Und immer das leuchtende A auf der Brust.

Der Roman ist nicht nur das packende Psychogramm einer willensstarken und prinzipientreuen Frau, sondern auch die sehr genau beobachtete Schilderung, wie sich eine Gemeinschaft den Körper und die Seele dieser Frau aneignet und sich das Recht herausnimmt, über sie zu verfügen. Aus heutiger Sicht mag die Moral, die dieser Ächtung zugrunde liegt, veraltet erscheinen, aber es bleibt der Verdacht, dass die Grundlagen, nach denen auch heute Frauen in der Öffentlichkeit und häufig auch im Privaten beurteilt werden, nicht ganz frei von den pseudomoralischen Prinzipien dieser menschenfeindlichen Gesellschaft sind.

Wenn nun Trajal Harrell sich dieser «great american novel» annimmt, ist keine Nacherzählung des Romans zu erwarten. Vielmehr sind es einzelne Motive, vielleicht ein Geist des Romans, eine Haltung, die den Weg auf die Bühne finden, ein Affekt, ein Gefühl der Verwandtschaft, eine Haltung. Trajal Harrell und das Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble erfinden eine Welt, die unter Hawthornes Welt in der salzigen Erde der amerikanischen Ostküste vergraben gewesen sein mag oder über ihr in der atlantischen Luft schwebte, eine Welt, in der Geschichten und Geschichte anders erzählt werden, als in Romanen und Geschichtsbüchern.

Bei Hawthorne beginnt die Geschichte damit, dass der Erzähler in einer Abstellkammer ein altes Manuskript findet, in dem die «wahre» Geschichte der Hester Prynne minutiös nacherzählt ist. Ein unerhörtes historisches Fundstück, findet der Erzähler, das er der geneigten Leserin durch den darauffolgenden Abdruck des Fundstücks zugänglich macht. Es ist die Fiktion einer vergangenen Wirklichkeit, die dem Roman seine ästhetische Grundlage verleiht. Trajal Harrell kennt sich aus mit Fiktionen vergangener Wirklichkeiten. Sogenannte «historical fictions», in denen die Möglichkeit einer anderen Vergangenheit aufgerufen wird, liegen den allermeisten seiner Bühnenarbeiten zu Grunde. Für Tambourines erfindet er der historischen Welt des kolonialen Nordamerikas eine Parallelwelt, die vielleicht stattgefunden hat, hätte stattfinden können, vielleicht sollen. Es ist eine Welt, in der Hester Prynne nicht alleine ist, sondern begleitet wird von Wesen, Wesenheiten, Körpern, Geistern, die ihr zur Seite stehen und mit ihr zusammen der Tragödie ins Auge blicken.

Tambourines hat drei Teile, denen jeweils ein Titel und ein Tempo zugeordnet sind:

Fornication (Unzucht) allegro
Education (Erziehung) moderato
Celebration (Fest) andante

Die drei Teile sind sehr unterschiedlich und es gibt unzählige Wege, sich über sie zu verständigen, ihnen Bedeutungsebenen zu erfinden und sie zu kontextualisieren. Deswegen kommt es auch diesem Text hier nicht zu, den Deutungsrahmen festzulegen, innerhalb dessen sich der Abend bewegt. Allen Deutungsversuchen öffnet sich der Abend und widersteht ihnen gleichzeitig, indem er immer sowohl das Eine als auch das Andere ist, sowohl das Vorantreibende, Suchende, Strebende, als auch das Gehaltene, Fragende, Ruhende. Tambourines, dessen Titel das Schlaginstrument aufruft, das in vielen Kulturen Tänze begleitet, ist keine vertanzte Romanadaption, sondern eine poetische Auseinandersetzung mit den Fundamenten, auf denen wir heute Beziehungen und Politiken entwickeln. Nicht nur im kolonialen Amerika des 17. Jahrhunderts wurden Frauen erniedrigt und gequält, sondern natürlich war es auch mitten in Europa, in der Schweiz, in Frankreich, in Deutschland ganz alltäglich, Frauen, die nicht den von den mächtigen Männern vorgegebenen Verhaltensweisen folgten, aus den Gemeinschaften auszustossen. Gefängnisstrafen, Leibeigenschaft, als «Hexenverbrennung» beschönigte Morde – das ist auch bei uns die Geschichte, auf der wir unsere Gesellschaft und die Regeln ihres Zusammenlebens aufgebaut haben. Ein lebendiges Bewusstsein dieser Vergangenheit wächst erst langsam. Natürlich ist es schwer, über Verbrechen zu trauern, die scheinbar so lange schon Geschichte sind. Aber ist das wirklich so lange her? Noch heute müssen wir kontinuierlich eingelernte Denk- und Fühlmuster in den Griff bekommen, die sich aus einer anderen Zeit in unsere Schweizer Gegenwart hinübergerettet haben. Nicht nur Frauen, auch zahllose andere, die der Angst standhalten und der Scham nicht das Feld überlassen, sind nach wie vor abfälligen Moralurteilen ausgesetzt, wenn sie nicht sogar mit der Verletzung ihrer physischen Unversehrtheit bedroht werden oder die Drohung sogar in die Tat umgesetzt wird. Es ist nach wie vor gefährlich, nicht so zu sein, wie die Allgemeinheit es erwartet. Tambourines ist ein untergründiges Netz zu Ehren der Personen, die sich nicht der Gewalt beugen, die der Angst nicht stattgeben, die die Demütigung nicht akzeptieren, in Vergangenheit wie Gegenwart.

Und doch verurteilt der Abend nicht, auch nicht diejenigen, die an der Aufrechterhaltung des gewaltvollen Miteinanders festhalten. Oft wissen diejenigen, deren Moral und Politik das ganze patriarchale Schlamassel angerichtet haben und es aufrechterhalten, es nicht besser. Manchmal ist es tiefer Glaube oder nie korrigierte Gewohnheit, die die Regeln unausweichlich erscheinen lassen; manchmal ist es die tiefsitzende Angst, selber verletzt zu werden; und manchmal ist es der kindliche Wunsch, stark und unbesiegbar zu erscheinen. All das rechtfertigt natürlich nicht die Gewalt, die von vielen Menschen ausgeht. Aber so wie Tambourines sich auch der religiösen Grundlagen der kolonialen Gemeinschaft von Hester Prynne annimmt und darin grosse Schönheit findet, mag es manchmal auch im echten Leben helfen, das ungeliebte Gegenüber als Menschen in all seiner Komplexität anzuerkennen und anzunehmen.

Tambourines ist im besten Sinne ein Abend für alle – sofern denn die tänzerische Erfassbarkeit der Welt für alle ist. KD

Ein Höheres Sein

Dramaturgin Katinka Deecke im Gespräch mit Trajal Harrell

Katinka Deecke: Tambourines ist ein weiterer Baustein innerhalb Deiner sogenannten «historical fictions» (historische Fiktionen), die immer neue und unzählige Antworten auf die Frage geben: «Was, wenn es anders gewesen wäre?». Wie situiert sich Tambourines in diesem «Was wäre wenn...»?

Trajal Harrell: Beim Machen von Tambourines, hatte ich das koloniale Amerika im Kopf. Ich lebe seit einigen Jahren hauptsächlich in Europa, aber ich merke, dass ein grosser Teil meiner Fantasie immer wieder in die Vereinigten Staaten zurückkehrt. Tambourines ist amerikanisch wie Monkey off my Back or The Cat's Meow (Premiere 2021/22 in der Schiffbau-Halle) oder wie Maggie the Cat (Premiere Sommer 2019 Manchester International Festival). Man könnte die drei Stücke zusammen als eine amerikanische Trilogie betrachten, da alle drei mit einer gewissen Distanz auf die amerikanische Kultur blicken. Ich habe unter Anderem Amerikanistik studiert, somit war es sehr wahrscheinlich, dass ich diese Fragen irgendwann auch in meine Arbeit mitbringen würde. Hawthornes Der Scharlachrote Buchstabe kam mir immer wieder in den Sinn, vor allem, weil der Roman sich mit «Slutshaming» beschäftigt. Der Roman ist für mich einer der grundlegenden Texte zum Thema Slutshaming. Ich habe mich gefragt, was wäre, wenn Hester Prynne, die Protagonistin des Romans, eine Gemeinschaft gehabt hätte, von der sie Unterstützung erfahren hätte; was wäre, wenn Hester eine Gemeinschaft gehabt hätte, die sie nicht beschimpft und ausgestossen, sondern ihr Zuspruch und Ermutigung gegeben hätte? Tambourines ist für mich wie eine Ausgrabung von Geschichte und Geschichten und von Ritualen. Im ersten und zweiten Teil der Inszenierung schaffen wir einen historischen Rahmen, der im dritten Teil einen Ausdruck im Ritual findet.

KD: Wenn wir grad über die drei Teile sprechen – jeder von ihnen hat einen Titel: «Unzucht» (fornication), «Erziehung» (education) und «Feier» bzw. «Fest» (celebration). Wie kam es zu diesen Titeln?

TH: Nun, zunächst einmal ergeben sie sich aus der Erzählung im Buch. Darüber hinaus haben sie viel mit dem amerikanischen Puritanismus zu tun. Hester Prynne muss dieses scharlachrote «A» tragen, weil sie sich dafür schämen soll, ausserhalb der Ehe Sex gehabt zu haben. Unzucht ist der Auslöser für die Erzählung. Ich versuche mir vorzustellen, wie die verschiedenen Konflikte zwischen Begehren und puritanischer Moral im Körper zum Ausdruck kommen und wie diese Konflikte sich in gesellschaftlichen Strukturen und Fragen der Privatsphäre äussern. Mir ist wichtig, dass nicht auch ich Hester slutshame, denn auch heute noch gibt es gesellschaftliche Kräfte, die unbedingt die Scham aufrechterhalten wollen. Gleichzeitig möchte ich versuchen, den verschiedenen Arten, wie Menschen ihre Glaubenssysteme leben und erleben, Raum zu geben. Auch im Privaten kann es Kämpfe mit dem eigenen Glaubenssystem geben. Ich will nicht mit dem Finger auf andere zeigen und denke, dass der Tanz einem dabei helfen kann. Die Konflikte existieren als etwas Lebendiges im Körper und mit Hilfe des Tanzes möchte ich dem Publikum einen Raum öffnen, in dem es sich mit diesen Konflikten auseinandersetzen kann, ohne mit dem Finger auf andere zu zeigen. Das ist mir sehr wichtig.

KD: Du zeichnest diese Gemeinschaft mit sehr viel Liebe, vor allem in «Education», eine Gemeinschaft, die aus unserer heutigen Perspektive vor allem durch ihre Gewalt, durch die Rigorosität ihrer Regeln, durch die Striktheit ihres Verhaltens und den Mangel an Freiheit für den Einzelnen gekennzeichnet ist. In «Education» sehen wir dieser Gemeinschaft zu, wie sie Liebe und Genuss finden, vor allem in ihrem Glauben und ihrer Beziehung zu Gott. Trotz der Gewalt, die sie ausüben, zeichnest du sie mit Liebe und Zärtlichkeit und ehrst sie gewissermassen.

TH: Das wird vor allem in der Figur der Lehrperson verkörpert. Die Lehrperson gibt ihre sehr eingeschränkte Sichtweise darüber weiter, wie sich Menschen in Gesellschaft verhalten sollten und wie nicht. Ich wollte sicherstellen, eine Figur zu zeigen, die ein Glaubenssystem weitergibt, mit dem ich selbst vielleicht nicht einverstanden bin, aber in dem es dennoch Raum gibt. Wieder führt es zurück zum Tanz. Es ist schwierig, Worte dafür zu finden. Es gibt einen Raum des Miteinanders, wo Unterscheidung nicht mehr wichtig ist. Das ist es, was die Sprache leider nicht so gut kann. Im Tanz haben wir diesen klaren Sinn für Bedeutung nicht, aber der Körper kann die Wahrheit sagen. Manchmal können wir dort sogar einen Ort des Friedens finden, eine Möglichkeit des Friedens unter Menschen. Es gibt eine Möglichkeit der Zusammengehörigkeit, eine Möglichkeit des Verstehens, bei der potenziell die Unterschiede tatsächlich wegfallen. Was übrigbleibt, kann ich nicht benennen. Das geschieht nur im Moment der Aufführung. Es geht immer darum, den Tanz zu finden. In «Education» sehen wir den Glauben und die Pädagogik des Glaubens, aber wir können in der Lehrperson auch etwas anderes sehen und damit kann ich mich identifizieren. Ich glaube, es hat etwas mit ihrer Menschlichkeit zu tun. Vielleicht ist es Liebe, die ich in den Konflikten, den Unvollkommenheiten und Eigenheiten zu finden versuche. Menschlichkeit.

KD: Als eine heutige Perspektive auf Hawthornes Scharlachroter Buchstabe reflektiert Tambourines auch den Blick auf Frauen in unserer heutigen westlichen Gesellschaft. Natürlich ist unsere Gesellschaft heute ganz anders als die koloniale Gesellschaft des 17. Jahrhunderts an der amerikanischen Ostküste. Wir leben heute in einer liberalen Gesellschaft, in der die stark einschränkenden Restriktionen von Körper und Begehren nicht mehr in Kraft sind. Siehst du trotzdem in unserer heutigen westlichen Welt Spuren der Regime, denen die Frauen in den kolonialen Gemeinschaften unserer Vergangenheit unterworfen waren?

TH: Die Frage hat etwas mit meiner Arbeit an Butoh zu tun. Im Butoh geht es darum, einen Platz für Menschen zu schaffen, die seit dem frühen japanischen Volkstheater nicht mehr im japanischen Theater vertreten waren: Sexarbeiter*innen, Drogenabhängige, Kriminelle, Menschen mit Behinderungen, auch ältere Menschen. Butoh schuf einen Platz für die Marginalisierten. Und Tambourines handelt abstrakt von diesen Menschen, die wir aus der Gesellschaft ausschliessen und für die wir immer noch keinen Platz haben, die wir in unseren Köpfen delegitimieren. Menschen, die mit Sucht zu kämpfen haben, und Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit Sex verdienen. Ich glaube, dass es eine enge Beziehung zwischen der Suche von religiös Gläubigen und von Süchtigen gibt. In beiden gibt es ein transzendentales Streben, eine Suche nach einem hohen oder höheren Sein. Ich will nicht behaupten, dass alles dasselbe ist, aber es ist interessant, die Verbindungen zu sehen. Wir wissen nicht, wie wir in unserer Gesellschaft eine vorurteilsfreie Sprache für Menschen schaffen können, die auf der Suche nach diesem Hochgefühl in seinen vielen Formen sind. Diese Fragen machen den Kern meiner Arbeit aus und es ist auch für mich schwierig, Worte dafür zu finden. Aber ich würde sagen, dass die Spuren, von denen du sprichst, in diesen beiden Bereichen zu finden sind: in der Art und Weise, wie wir als Gesellschaft Sexarbeiter*innen behandeln, und wie wir mit Drogen und den vielen Formen der Sucht umgehen.

KD: Neulich hast du gesagt, dass du das Ende deiner Butoh-Phase am Horizont aufblitzen siehst, eine Phase, die nun schon seit 11 Jahre andauert. Wo ist Butoh in Tambourines?

TH: Ich denke, mittlerweile tanzen wir eigentlich immer im Geist von Butoh. In den letzten Jahren haben wir uns bemüht, uns Butoh nicht auf eine schlechte Art und Weise zu anzueignen, sondern es wirklich in unsere Körper eingehen zu lassen. Für mich ist «Education» ganz und gar Butoh. Nicht das Klischee von Butoh, aber der Punkt, von dem aus wir tanzen, ist tief mit dem Butoh-Geist verbunden. Wir betonen zum Beispiel auch sehr die die Rolle des Gesichts und der Mimik, was ebenfalls aus dem Butoh und aus dem Voguing stammt.

KD: Tambourines hat auch viel mit Minimalismus zu tun – die sich wiederholenden Bewegungen, der Rhythmus, der mit Gleichmass und Variation spielt...

TH: Mit Minimalismus hab ich mich schon ganz am Anfang meiner Laufbahn beschäftigt. In meinem ersten Stück, dem ersten kleinen Solo, das ich 1999 gemacht habe, ging es unter anderem darum, wie man Voguing und Minimalismus zusammenbringen kann. Ich denke auch, dass die puritanische Ästhetik sehr minimalistisch ist, der Puritanismus trägt einen gewissen Minimalismus in sich, und damit wollte ich spielen. Ohne dogmatisch zu sein habe ich versucht, die Ästhetik einer puritanischen Welt zu artikulieren, mit der wir uns identifizieren können. «Fornication» zum Beispiel ist nicht minimalistisch in seinem Ausdruck, aber in der Art und Weise, wie es als skulpturales Objekt den Raum einnimmt, es ist ein einzelnes, sich bewegendes Etwas im Raum. Es ist nicht monochrom, aber man sieht diese sich wiederholenden Gesten und Strukturen in einem abstrakten Raum. In «Education» wird es dann noch skulpturaler und gestischer, aber der Raum ist weniger abstrakt. Ich habe mich während der Proben von Tambourines viel mit Sol LeWitt beschäftigt, also da gibt es bestimmt eine Nähe. Allzumal einer meiner ersten Einflüsse die Choreografin Lucinda Childs war, die mit LeWitt zusammengearbeitet hat und für ihre Beschäftigung mit Minimalismus bekannt ist.

KD: Tambourines ist dein erstes Stück nach dem Ritterschlag mit The Romeo im Papstpalast vom Festival d’Avignon im Sommer 2023. Wie lief die erste neue Arbeit nach dieser Auszeichnung?

TH: Es war schwierig… (lacht) Das Schwierigste war, dass ich nach dem Papstpalast wirklich, wirklich, wirklich etwas riskieren wollte. Und ich wollte etwas machen, das einen Bogen zu einigen meiner früheren Arbeiten schlagen würde. Viele dieser Arbeiten haben sich beim Minimalismus inspiriert, aber sie waren in ihrer Ästhetik nicht entschlossen. Die drei Teilen von Tambourines sind sehr unterschiedlich und durch diesen Unterschied entsteht etwas Ungelöstes, es verursacht Reibung. Das war riskant für mich. Es war schwierig, nach so einer grossen und erfolgreichen Inszenierung wie The Romeo weiterzumachen und zu sagen: Okay, wenn ich jetzt kein Risiko eingehe, werde ich vielleicht nie wieder ein Risiko eingehen können. Es wird mit der Zeit nicht leichter, Risiken einzugehen, es wird schwieriger. Für Tambourines habe ich versucht, mir selbst die Erlaubnis zu geben, etwas zu riskieren und etwas zu machen, das Reibung verursacht. Ich dachte, jetzt oder nie. Ich hatte Angst, aber ich habe es getan.

KD: Was bedeutet es, dass Tambourines das letzte Stück des Schauspielhaus Zürich Dance Ensembles ist?

TH: Nun, das Leben geht weiter... Aber eine Sache ist wichtig: Mit Tambourines wollte ich die Kostümabteilungen am Schauspielhaus Zürich feiern. Die Kostümabteilungen haben mich während meiner Jahre am Schauspielhaus wirklich unterstützt – oh mein Gott, ich fang gleich an zu weinen. Von Anfang an haben sie mich mit offenen Armen empfangen und meine Arbeit angenommen, obwohl meine Arbeitsweise ganz anders ist, als Abteilungen an einem Stadttheater es eigentlich gewohnt sind. Sie haben mich nie verurteilt, sondern mich auf jede erdenkliche Weise unterstützt. Auch die technischen Abteilungen haben mich unterstützt, aber weil Kostüme in meiner Arbeit eine besondere Rolle spielen, waren die Kostümabteilungen besonders gefordert. Die Beziehung zwischen der Kostümabteilung und mir ist im Laufe der Jahre sehr eng geworden und mit Tambourines wollte ich zum Abschluss ihre Arbeit einmal wirklich zur Geltung bringen. Die eigenwilligen «colonial dresses», die in der Inszenierung eine wichtige Rolle spielen, wurden speziell für Tambourinesangefertigt und sind für uns zum Symbol der Inszenierung geworden. Es war das erste Mal, dass ich das Handwerk der Schneider*innen des Schauspielhauses Zürich in den Mittelpunkt stellen konnte und das ist ein guter Abschluss unserer Zusammenarbeit. Aber natürlich werde ich auch die anderen Abteilungen vermissen. Sie alle haben meine Arbeit auf unerwartete Weise unterstützt und sehr dazu beigetragen, dass ich mich am Schauspielhaus willkommen gefühlt habe.

KD: Gibt es etwas, das du noch sagen möchtest?

TH: Ich bin beeindruckt, was unser Lichtdesigner Sylvain Rausa geschafft hat. Das Licht für Tambourines in unserer Spielstätte, in der Box, ist etwas ganz Besonderes. Ich glaube nicht, dass das an vielen Orten gelingen kann. Es ist wirklich einzigartig.

Impressum

Redaktion: Katinka Deecke
Fotografie: Orpheas Emirzas

Offizielle Ausstatter des Schauspielhauses Zürich:
MAC Cosmetics, Optiker Zwicker, PKZ Men & Women, Ricola, Südhang Weine, Tarzan Swiss Streetfashion