Zu diesem Abend

Dieser Abend, liebes Zürcher Theaterpublikum, ist vielleicht für eine ganze Weile die letzte Chance, sich einen gepflegten «woken Einheitsbrei» zu Gemüte zu führen. Wir wissen doch, dass Du es jetzt schon vermisst! – Oder ist das, was wir hier zu sehen bekommen, doch Theater, wie es immer schon war und sein wird? Ein Mensch betritt die Bühne. Sie nimmt eine Rolle ein. They will etwas zeigen, und alle lesen etwas anderes darin. Er will nichts zeigen, und alle lesen ein Zeichen darin. Während unklar ist, was die Zukunft dem Schauspielhaus Zürich bringen wird, ist sicher, dass eines bleibt: Ein Netzwerk junger Menschen, das der Theaterkunst nicht so schnell den Rücken kehren wird.

Neben der Mission, in ihrer Zeit als Hausregisseurin zeitgenössische Schweizer Autor*innen zur Uraufführung zu bringen, stellte Suna Gürler sich schon immer der Aufgabe, sich ihren zukünftigen Vorgesetzten zu widmen. Für dieses Stück bilden 30 von ihnen das Ensemble.

Ein Abend über die mannigfaltigen Möglichkeiten der Verbindung und das wundersame Wesen der Zeit. Genau wie der Pfauen – ein Ort verworrener Geschichte – ist jetzt, jetzt, jetzt ein Gewusel von Einzelzielen, geteilten Wünschen und sich widersprechenden Anliegen. Mittendrin die Frage, wie aus einem Anfang ein Netzwerk wird und was dieses Netzwerk erschaffen kann.

Inszenierung
Suna Gürler
Konzept
Yunus Ersoy / Suna Gürler / Lucien Haug / Alina Immoos
Bühnen- und Kostümbild
Moïra Gilliéron / Cleo Niemeyer-Nasser
Musik
Singoh Nketia
Choreographie & Probenleitung
Suna Gürler / Alina Immoos
Text
Lucien Haug
Licht
Michel Güntert
Künstlerische Mitarbeit Video
Robin Nidecker
Dramaturgie
Yunus Ersoy
Alle Beteiligten anzeigen
Audience Development
Tali Furrer
Künstlerische Vermittlung T&S
Zora Maag / Alina Immoos
Produktionsleitung
Rosa Stehle / Jonas Junker
Produktionsassistenz
Carlotta Späni / Wilma Schapp / Dominic Schibli
Bühnenbildassistenz
Lioba Bangert
Kostümbildassistenz
Flurina Vieli / Lucien Bricola
Hospitanz Kostümbild
Melvin Tobler / Sally Ndiaye
Inspizienz
Eva Willenegger
Weniger Beteiligte anzeigen

Das junge Programm wird unterstützt von der Max Kohler Stiftung, der Elisabeth Weber-Stiftung, der Stiftung Accentus und der Landis & Gyr Stiftung

Die Rechte am Stück liegen bei den Autor*innen. Lucien Haug wird von S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, vertreten. 

Zu dieser Inszenierung

Nur wenige Menschen sind gerne alleine, die allermeisten suchen Kontakt zu anderen. Viele binden sich besonders eng an eine andere Person, bilden mit ihr ein Paar. Ausserdem sind sie Teil von Gruppen, von Freund*innenkreisen zum Beispiel. Manche treten auch in Vereine und Parteien ein, begeben sich dort in eine grosse Gruppe und bilden darin wieder Untergrüppchen. Darüber hinaus gibt es Zugehörigkeiten zu einer Gesellschaft, einer Bevölkerung. Auf allen diesen Ebenen entstehen eigene Sprachen, Codes, Verständigungsformen. Gelingt damit die Kommunikation, können Ziele verfolgt werden: Das Gründen einer Familie, die Einrichtung einer Hausgemeinschaft oder politische Veränderungen. Im Zentrum von jetzt, jetzt, jetzt steht die Beschäftigung mit dem, was sichtbar wird, wenn der Blick auf diese Verbindungen, die Menschen bilden, gerichtet wird: ein Netzwerk.

Das Ensemble für dieses Stück bilden 30 junge Erwachsene aus dem Netzwerk, das sich in den letzten vier Jahren um den Knotenpunkt Schauspielhaus Zürich gebildet hat. Sie besuchten einen Jugendclub oder folgen dem Theater auf Instagram, haben das Theaterjahr gemacht oder arbeiten an der Garderobe im Foyer, standen in anderen Inszenierungen der Hausregisseur*in Suna Gürler bereits im Rampenlicht, zum Beispiel in Ich chan es Zündhölzli azünde und Bullestress, oder auf der Offenen Bühne.

Diesen Ausgangspunkt für die Stückentwicklung aufnehmend, war eine der ersten Fragen, mit der sich das Team und das Ensemble beschäftigten, jene nach dem Anfang. Einige performative Momente haben es bis ins Stück geschafft, zum Beispiel das Einatmen, das zu Beginn eines Satzes anzeigt, dass eine Person jetzt etwas sagen möchte, oder das Runterzählen bis Null wie beim Sport oder zu Silvester. Ausserdem haben Suna Gürler und die Probenleiterin Alina Immoos immer wieder auch Elemente eingebaut, mit denen die Spieler*innen ihren Bewegungsraum austesten und überprüfen, wie die Bühnensituation die Körper bewegt.

Und wie es die Natur eines Netzwerks so will, ist es gar nicht so einfach, den Anfang dieser Stückentwicklung zu beschreiben. Teil der Proben war jedenfalls auch die Lektüre eines Auszugs aus Gerald Raunigs Dividuum, das wiederum die Denkfigur des «Beginnen in der Mitte» (Gilles Deleuze) aufnimmt:

«Aller Anfang ist dividuell. Wie ein beliebiges Buch seine Autorschaft teilt, wie ein Denken immer schon auf den Schultern von Riesen steht, die aber ihrerseits wieder ganzen Schwärmen von durchschnittlich Hochgewachsenen und angeblich vernachlässigbaren Grössen verpflichtet sind, wie ein Intellekt von vielen Geistern bewohnt wird, nie Individuum allein, so beginnt alles in der reissenden Mitte des Dividuellen. Die Mitte ist reissend, weil in ihr die Dinge Geschwindigkeit aufnehmen, ein Strom, der in alle Richtungen überfliesst,

das Gegenteil von reguliertem Mainstream, Mittelmass und Vermittlung. Die Mitte liegt nicht einfach auf dem Weg zwischen einem Anfang und einem Ende, in ihren Strudeln geraten Linearität und Ursprungsmythen ins Stocken. Die Mitte ist dividuell, weil sie ein Teilen der Teile impliziert. Selbst wenn hier ein Ich spricht, so wird dieses Ich nie ganz allein gewesen sein. Geteilt und teilend, teilt dieses instituierende Ich sein Werden mit den vielen Instanzen des Anfangens in der Mitte.»

Ein einfaches Gedankenexperiment dazu ist der Blick auf das eigene Leben, bei dem schnell klar wird, dass auch die eigenen Eltern bereits Eltern hatten, die wiederum ihrerseits Eltern hatten, die wiederum … Ebenfalls zeigt sich in dem kleinen Gedankenspiel, dass es nie den einen Anfang, den einen Ursprung gibt.

Exponierte Architektur

Den Gedanken zum Anfang folgend, geschieht der Übergang vom Einlass zum Stückbeginn unmerklich. Ohne dass sich das Licht verändert, tritt eine Person in scheinbarer Alltagskleidung auf, geht über die Bühne – und verschwindet wieder. Dann ist wieder die leere Bühne zu sehen. Hat nun das Stück begonnen? War das eine Schauspieler*in oder ist die Idee, dass auch das Publikum über die Bühne geht? Hätte dann das Stück bereits begonnen, als Sie zuhause aufgebrochen sind? Oder als Sie Ihr Billett gekauft haben?

Nach einiger Zeit ist ein Rascheln zu hören, dieselbe Person geht erneut durch den Gang neben dem Publikum. Wie hat diese Person durch die dem Blick verborgenen Gänge des Theaters wieder ins Foyer gefunden? Was erlebt sie auf dem Weg, während das Publikum auf die Bühne guckt oder sich suchend umschaut? Mit wem hat sie Kontakt?

Nun betritt sie erneut die Bühne, überquert sie, verschwindet schon wieder.

Wer war das? Wohin ist dieser Mensch gegangen? Die Wiederholung schärft den Blick, die Bewegungen werden zu Gesten, zu Zeichen, zu ersten Anhaltspunkten für eine Geschichte. Und nicht zuletzt kommt Zeit ins Spiel, ihr unerbittliches Vergehen – gerade im Theater: «Werd ich zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön!» (Faust I, Johann Wolfgang von Goethe), oder eben: jetzt, jetzt, jetzt – und gleichzeitiges Stillstehen, ihre Spiralförmigkeit, die stets Neues bringt, das doch dem Alten gleicht. Entsprechend arbeitet die Inszenierung mit Loops, deren Wiederholungen und Varianten den Blick immer weiter schärfen.

Und neue Fragen ergeben sich: Ist diese Bühne wirklich leer? Zumindest ist sie ein Ort voller Geschichte. Und wenn Sie genau darauf achten, werden Sie sehen, dass dieses Stück genau auf den Pfauen zugeschnitten ist, auf dieses geschichtsträchtige Theaterhaus, entstanden aus einem Biergarten mit kleiner Bühne für Schwänke, das später Exil für jüdische und kommunistische Theaterschaffende wurde und bis heute Gegenstand hitziger Diskussionen ist. Nur ein Beispiel von vielen, mit denen der Abend auf ästhetischer Ebene umgeht: Scheint der Pfauen – wenn man ihn als Publikum betritt – ideal auf das Theater ausgerichtet, zeigt der Blick ins Innere einen Flickenteppich. Da erst nach französischem Vorbild ein breiter Saal fürs sprichwörtliche Sehen-und-Gesehenwerden gebaut wurde und dann die schmale Bühne bald nicht mehr den künstlerischen Wünschen entsprach und durch eine sogenannt «deutsche» Raumbühne ersetzt wurde, ist diese nun nicht besonders gut einsehbar. Unter dem Balkon ist zudem die Akustik so schlecht, dass das Bühnenportal standardmässig mit Mikrofonen versetzt ist, damit die Schauspieler*innen die erste Reihe nicht anschreien müssen und trotzdem alle erreichen.

Wie sie dagegen arbeiten erzählen Moïra Gilliéron und Cleo Niemeyer, die gemeinsam Bühne und Kostüm entworfen haben, im Interview, in dem sie auch Denkanstösse zum Kostüm mitgeben. Und nicht nur auf der Ebene der Bühnengestaltung begreift diese Inszenierung die Bühne als Möglichkeitsraum, als Ort, an dem alles stattfinden kann, als Ort, der zu jedem anderen Ort werden kann. Wird mit der Inszenierung zunächst eine Architektur ins Bewusstsein gerückt, zu der das Publikum keinen Zugang hat und die den meisten verborgen bleibt, verschiebt sich der Fokus nach und nach auf die Protagonist*innen.

Allein im Netzwerk

Eine der ersten Fragen, mit der sich das Ensemble in den Proben beschäftigt hat, war: «Was möchte ich auf der Pfauenbühne gerne machen?» Einige haben sich darauf besonnen, was sie besonders gut können, andere wollten die Erwartung brechen, als junge Menschen eine Antwort auf die Fragen der Gegenwart zu haben, andere ihre Wut darüber hinausschreien, dass es so verdammt schwierig ist, in dieser Welt zwischen Klimakatastrophe und Femizid zu überleben. Enno Rennenkampfs Wunsch, eine Drag-Performance zu zeigen, ist Teil des Stücks geworden – inklusive all der Fragen, die sich daran stellen und die in eine kleine Szene mit Sora Ndiaye überführt wurden. Von der Überforderung durch die Vorstellung, alles tun zu können, die in den Gesprächen mit dem Ensemble immer wiederkehrte, erzählen die von Onur Kurtulmuş und Rosa-Lin Meessen gesprochenen Texte, während Fayrouz Gabriel konkrete ökonomische und Mira Guggenbühl strukturelle politische Verhältnisse ansprechen. Denn selbstverständlich ist nicht alles möglich, und schon gar nicht für jede*n.

Wie sehr ein Leben immer beides ist, eingebettet in ein Netzwerk und äusserst individuell erlebt, erinnert nicht nur, wer die Bewegung Samira Grafs durch das Stück verfolgt. Diese Gleichzeitigkeit wird auch immer in kleinen Solo-Momenten sichtbar, zum Beispiel wenn Alina Rehsteiner, Gizem Baruk, Moubarak Djibril, Lionel Schwägli, Dominik Schüepp, Jascha Harke, Flynn Jost oder Valerie Tveiten jeweils alleine einen neuen Anfang setzen, sich eingegliedert und doch deutlich abgesetzt bewegen, aus der Gruppe lösen oder gar alleine übrig bleiben. Die Tragik dessen wird spätestens dann deutlich, wenn Dariia Yelahina das Publikum bittet, die Augen für die Realität des Krieges in der Ukraine zu öffnen, aus dem geflohen sie zwar nun Teil dieses Netzwerks, aber doch auch mit dieser Erfahrung darin alleine ist.

Für Atempausen, aber auch Atemlosigkeit, für die stillen Momente wie für das Herzklopfen ist die Musik von Singoh Nketia mitverantwortlich. Sie greift die Themen des Anfangs und des Netzwerks als ästhetisches Prinzip auf und zeigt eindrücklich, wie aus der Kollaboration gar Transformation entstehen kann, wenn beim Zusammentreffen mehr geschieht als nur das Aufeinanderschichten der einzelnen Teile: Nicht nur ist die Musik aus komplex ineinander verschachtelten Loops aufgebaut, sie lässt sich zudem von den Geräuschen auf der Bühne beeinflussen – bis sich die Frage stellt, was zuerst war.

Von dem gleichzeitigen Glück und der absoluten Traurigkeit, dass ein Mensch nie vollkommen die eigene Gedankenwelt teilen kann, kündet Tamiris Dos Reis mit ihrem Alleingang. Dass die zweisame Verbindung wiederum für sich besonders ist, übersetzt sich in kurzen choreografischen Episoden beispielsweise bei Elias Kim Müller und Xhenisa Demiri sowie Mila Knapp und Minou Mafalda Taghavi.

Willy Krähenbühl mit Gesten und Anina Steiner, Timon Däster, Lee Fischer, Yanike Mica Becklas, Amanda Lucia Dos Reis, Lara Fuchs, Vanessa Meyer und Helene Bott führen mit Texten – die Lucien Haug ausgehend von Schreibaufträgen an die Gruppe in Form gegossen hat – mit ihren Stimmen wieder zurück in den kollektiven Möglichkeitsraum, der aufgeht, wenn im Konjunktiv auf die Bühne geblickt wird.

Die Arbeit an der Institution

Dass die Pfauenbühne für ein Ensemble von 30 Menschen die Bühne sein kann bedarf viel Vorarbeit. Schon die Architektur des Pfauens gibt kaum einen Raum her, in dem sich eine so grosse Gruppe gemeinsam besprechen kann, geschweige denn essen. Die räumlichen Kapazitäten der Kantine wären gesprengt worden, wären die Darsteller*innen wie alle anderen in den Pausen dort aufgeschlagen – und in den engen Räumen wohl so einige auch an ihre nervlichen Grenzen gekommen. Entsprechend wurde über Monate mit Kolleg*innen aus allen künstlerischen und technischen Bereichen nach Lösungen gesucht und in langen Prozessen auch gefunden. Standen teilweise bloss Gewohnheiten im Weg, waren es mitunter behördliche Bestimmungen und nicht zuletzt finanzielle Fragen, wo wiederum die Sponsoring-Abteilung wichtig wurde.

In diesem Sinne reiht sich jetzt, jetzt, jetzt ein in viele Arbeiten, die Suna Gürler in den letzten Jahren am Schauspielhaus Zürich produziert hat. Denn während sie sich mit ihren Bühnenstücken um junge Schweizer Autor*innen verdient machte, schuf sie für junge Spielende unzählige Möglichkeiten, am Schauspielhaus anzudocken. Zusammen mit den Intendanten Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann hat Suna Gürler die Spartentrennung ‹Erwachsenes› und ‹Junges› Schauspielhausabgeschafft, was zunächst als Affront wahrgenommen wurde. Tatsächlich geschah dies aber aus der Einsicht, dass die Trennung – einst höchst verdienstvoll, um auch jungen Menschen einen Platz im Theater einzuräumen – nicht mehr passt. Dass es natürlich Jugendclubs braucht, dass da aber noch weitergedacht werden muss, wenn das Theater für viele unterschiedliche Menschen zugänglich sein soll. Ausgehend von diesen Gedanken sind zum Beispiel das Theaterjahr, viele Inszenierungen für und mit jungen Menschen auf allen Bühnen, die Offene Bühne, bezahlte Hospitanzen und vieles mehr entstanden. Und eben auch: ein Netzwerk junger Theaterschaffender. Dieses soll mit dieser Inszenierung noch einmal gestärkt werden und weiterwachsen. Wenn nämlich die Intendanz im Sommer 2024 endet, werden viele dieser Menschen weiterhin Theater machen wollen. Wie sich die Türen des Schauspielhauses dann öffnen, ist noch unklar. Umso bedeutender ist es, dass die Vernetzung ins und mit dem Haus noch einmal gestärkt werden konnte, sei dies mit einem Workshop von Ensemblemitglied Songhay Toldon, sei dies durch die Führung des technischen Direktors Dirk Wauschkuhn durch den Pfauen, sei dies durch alle anderen Begegnungen, in der Schneiderei, in der Maske, mit der Inspizientin Eva Willenegger In diesem Sinne ist dieses Stück ein Anfang als Antwort auf die Ansage des Endes. (YE)

Interview

«Der Kostüm-Fundus ist ein politischer Ort»
Das Ausstattungs-Duo Moïra Gilliéron & Cleo Niemeyer-Nasser im Gespräch über Aneignung und Kritik mit Dramaturg*in Yunus Ersoy

Yunus Ersoy: Für diese Produktion macht ihr gemeinsam Bühne und Kostüm. Wie kam denn der Gedanke auf, dass ihr zusammenarbeiten würdet?

Moïra Gilliéron: Das ist schon ganz lange ein Traum!

Cleo Niemeyer-Nasser: Ja! Also, dass wir zusammenarbeiten wollen, als Team. Die Idee dazu kam schon, als wir zusammen am Maxim Gorki Theater in Berlin in der Ausstattung assistiert haben.

MG: Weil wir da ja auch schon zusammengearbeitet haben im Studio Я. Also dieses Projekt New Voices mit Nora Abdel-Maksoud, András Dömötör und Daniel Kahn waren das, wo es das schon gab, dieses Zusammendenken.

CNN: Auf einer anderen Ebene als mit der Regie und dem Team.

MG: Ich finde diesen Austausch so toll, also bereits einen Schritt davor, bevor man in den Austausch mit Regie, Performer*innen, Dramaturgie und so weiter kommt. Den Entwurf nochmal mit zusätzlichen Augen zu präzisieren, die auch aus dem Gestalterischen kommen. Es ist sehr bereichernd, bereits im Vorlauf Zeit zu haben für Gedanken wie: «Ah, es gibt noch einen Link zu diesem Werk». So wie das ja nachher im Team eh auch ist, dass das aber im Kleinen schon mal in diesem räumlichen Denken verzweigter wird.

YE: Wenn wir jetzt konkret über die Bühne von jetzt, jetzt, jetzt sprechen. Wie seid ihr da vorgegangen?

Moïra Gilliéron: Ein Augangspunkt war, dass dieses Netzwerk, diese Gruppe auf die Pfauenbühne kommt mit einem Auftrag von: Warum stehe ich hier? Was habe ich zu erzählen? Was ist dieser Raum? Wer ist hier schon vorher gestanden? Und was machen wir jetzt damit?

CNN: Und dann stellte sich die Frage: Wie gehen wir mit dem Raum um, mit dieser Guckkastenbühne, und auch mit dem Ort an sich und was der bedeutet fürs Schauspielhaus Zürich. Also was findet im Pfauen statt? Was findet im Schiffbau statt? Es war klar, dass man Bühne und Saal anders miteinander verbinden muss, dass es nicht nur der klassische Vorgang ist, dieses «ich setze mich jetzt da in meinen roten Sessel und lass mich mal berieseln», sondern dass ein konkreter, direkter Austausch stattfinden kann. Dass man eine andere Nähe erzeugt, als man gewohnt ist vom Guckkasten.

MG: Es braucht eine Setzung, die architektonisch sehr klar ist und die eine Funktion hat, also nicht dekorativ ist. Eine Setzung, die die Sicht auf den Raum verändert.

CNN: Daraus entstand dann der Gedanke von der Startrampe, dieser Absprungrampe, dem Sprungbrett als Verbindung in den Saal. Um so das Portal zu durchbrechen.

YE: Und dann kam als weitere klare Setzung diese Rückwand dazu.

MG: Wir suchten nach einer perspektivischen Verzerrung, die aber auch funktional ist. Und haben diese dann kombiniert mit der Möglichkeit, dass im Bühnengeschehen durch die Rückbeleuchtung Schattenrisse entstehen können.

CNN: Genau, damit haben wir die Möglichkeit geschaffen auch bildnerisch mit den Spielenden als Gruppe umzugehen.

YE: Die spielt ja auch bei den Kostümen eine wichtige Rolle.

CNN: Es war ganz wichtig, dass es ein Kostüm sein muss, was gleichzeitig Gruppe erzählt, eine Atmosphäre kreiert und die Individualität der einzelnen Personen vermittelt. Wir wollten niemand verkleiden.
Wir haben aus dem Prozess der Stückentwicklung Dinge aufgenommen und auch aus der Bühne heraus und auch aus diesem Moment, aus jetzt, jetzt, jetzt. Wir fanden es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es um eine Aktion geht, um ein sich bereitmachen, ohne dass es aber was mit Kampf zu tun hat. Und in den Trekking- und Sport-Referenzen, die wir mit einem Alltagslook kombiniert haben, konnten wir das verbinden.

MG: Und dann wollten wir, dass diese Gruppe eine Verwandlung, einen uniformen Moment erlebt. Da haben wir uns noch einmal auf den Pfauen besonnen: Was ist das für ein Ort? Wer ist da drin? Wer guckt da zu?
Dadurch entstand die Idee mit dem Kleidungsstück des klassischen Anzugs zu arbeiten. Das ist im Schauspiel ein viel genutztes Kleidungsstück – was darauf referiert, was von wem gespielt wird in einem klassischen Spielplan Kanon. Dementsprechend ist der Fundus gut ausgestellt mit einer Vielzahl an klassischen Herrenanzügen (369 Herrenanzüge, 539 Sakkos, 100 Doppelreiher). Der Gegensatz zu Alltagskleidung ist im Fundus frappant – zeitgenössische Kleidung ist sehr viel weniger vorhanden.

CNN: Es ist ausserdem wichtig zu betonen, dass es ein sehr konkreter, bewusster Moment ist, dass die nicht alle den gleichen Anzug tragen und vor allem nicht den, perfekten, zeitgenössischen Powersuit, sondern Anzüge aus unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlicher Weise. Durch die Kombination dieser unterschiedlichen Anzugschnitte aus dem 20. Jahrhundert wird sichtbar, dass es nicht der ernst gemeinte Anzug ist, sondern eher eine Metapher mit Augenzwinkern, ein «ich nehme mir dieses Kleidungsstück, ich mache etwas anderes daraus. Ich mache ihn lässig, durchaus auch elegant, aber auf meine Art».

MG: Vielleicht ist es auch wichtig, kurz auf die Geschichte einzugehen: In der westlichen Welt ist der Anzug über lange Zeit die formelle Kleidung, nicht nur der Power- und der Macht-Anzug, sondern auch als typische Arbeitskleidung für «den Mann» einer gewissen sozialen Schicht. Er ist dann übernommen worden, zum Beispiel von Frauen als Berufsbekleidung, vor allem in Leitungspositionen – es gibt ja das weibliche Pendant, das Kostüm oder Deux-Pièce, das aber eben im Sinne seiner Zeit nicht Macht erzählt, sondern klar untergeordnet ist. Dieser Schritt der Aneignung wird wichtig für alle nicht-privilegierten Positionen.

CNN: Wir haben uns dann überlegt, damit zu spielen, dass wir genderübergreifend Knopfseiten wechseln, weil wir bewusst mit Herrenanzügen gearbeitet haben, als Symbol von Macht und Status.
In unserem Kostümbild spielen wir mit Insignien, von denen gerade eine ältere Generation weiss: «Die Kravattenlänge stimmt nicht!» Oder: «Wieso ist die Knopfleiste bei der männlich aussehenden Person auf der falschen Seite?» Das sind Codes, bei denen mir in meiner Arbeit als Kostümbildnerin total aufgefallen ist, dass sie die älteren Generationen erkennen.
Wir wollen so auch einen Zugang schaffen für eine andere Generation, für die unsere anderen Themen scheinbar nicht zuvorderst sind.
Und es war auch schön, wie teilweise die Gewandmeister*innen auf die Anzüge reagiert haben: «Das ist doch der von dem und dem» und aus welcher Inszenierung er war, was damit passiert ist, wie wichtig die Kostümbildnerin war, die den entworfen hat. Da trifft man auf die ganze Geschichte, die bis zum heutigen Moment geführt hat. Wenn wir sagen: «Hey, wir wollen die Knöpfe verändern!», muss man deswegen manchmal lange diskutieren, ob das geht oder nicht, weil die Anzüge wieder in den Fundus gehen und dann weiss man nicht, wo man die hin ordnen soll, denn der Fundus folgt auch hier wie an den meisten Theatern noch einer binären Geschlechterlogik.

MG: Das ist aber so wichtig, dieses System zu crashen.

CNN: Ja, und ich möchte betonen, dass sie alle total mitgemacht haben. Ich find es interessant, dass sie aus ihrer beruflichen Perspektive, dieser Struktur, sofort diese Dinge abfahren. Also dass wir das auf Anhieb gemeinsam thematisieren und hinterfragen.

MG: Klar, weil das halt super binär aufgebaut ist. Es gibt einen Herren- und ein Damenfundus und es gibt Herrenschneider*innen und Damenschneider*innen.
Und einfach aufgrund der Anzahl der spielenden Personen konnten wir gar nicht so binär zuteilen, wir mussten einfach nach terminlichen Möglichkeiten schauen. Und das fand ich auch noch mal einen guten Moment: Was löst diese Produktion eigentlich in den Strukturen des Theaters aus? Gibt es Folgereaktionen, die vom System her bisher nicht gedacht wurden?

CNN: Ja, das ist zum Beispiel auch cool, dass wir dann eben auch weiblich gelesene Personen hatten, die in der Herrenschneiderei ihr Kostüm bekamen.
Wir sind mit dieser Arbeit so in die Eingeweide dieses Theaters eingedrungen, das natürlich historisch gewachsen ist und in der Organisationsform den entsprechenden Codes folgt, dass auch die Spielenden anders behandelt werden können. Dass also eine nicht binäre Person nicht als einzige vor der Frage steht: «Gehe ich zur Herren- oder zur Damenschneiderei?»

MG: Sondern dass es für alle Personen einfach aufgelöst ist. Diese Bilanz zeigt ja auch, dass es Sinn macht, den Fundus auch als politischen Ort wahrzunehmen. Als Ort, wo diese Themen von Gender, Identität, Herkunft ausgetragen werden. Und sehr schön, dass diese Produktion eben ermöglicht, in ganz vielen Bereichen des Theaters Steine ins Rollen bringen kann.

Alle Textbeiträge sind Originalbeiträge für dieses Programmheft.
Für die Erlaubnis, das Zitat aus Dividuum zu nutzen, bedanken wir uns herzlich bei Gerald Raunig und transversal text Wien.

Redaktion: Yunus Ersoy
Mitarbeit Interview: Emilia Wehrli
Fotografie: Zoé Aubry
Video-Teaser: Lisa Gertsch

Spielzeit 2023/24
Intendanz: Benjamin von Blomberg / Nicolas Stemann

Offizielle Ausstatter des Schauspielhauses Zürich:
MAC Cosmetics, Optiker Zwicker, Ricola, Südhang Weine, Tarzan Swiss Streetfashion