Zu diesem Abend

Schulstoff, Klassiker, lässiges historisches Drama und lustige Physikstunde, geschrieben in Dänemark, überarbeitet in Hollywood und Ost-Berlin, gekennzeichnet durch die Flucht vor den Nazis, den Stalinistischen Terror und die Atombombe: Leben des Galilei von Bertolt Brecht. Das ist zu lang, zu wahr, zu doll, zu viel Politik, Diskurs, Erklärung. Geht es doch um alles: Galilei erfindet die moderne Wissenschaft, kämpft gegen die Kirche – das grösste Machtzentrum seiner Zeit – und belegt das neue, kopernikanische Weltbild, in dem, so schreibt es Brecht, «jetzt jeder als Mittelpunkt angesehen wird» – nicht mehr nur Rom, der Papst, der Vater oder Präsident.

Genau 80 Jahre vor unserer Premiere, am 9. September 1943, wurde Leben des Galilei im Zürcher Pfauen uraufgeführt. Unterdessen hat sich alles noch einmal gedreht: Wissenschaft und Technik zeigen immer deutlicher ihr Janusgesicht, das autonome Subjekt wird unaufhaltsam aus dem Zentrum verdrängt, und die Biologie erweitert unser Verständnis von Abhängigkeiten und Vernetzung. Jeder ein Mittelpunkt, «…und keiner», schiebt Brecht hinterher. Wie aber soll das gehen: Zum Niemand werden, und noch das kleinste bisschen Hollywood-Heldentum aufgeben? Galilei konnte das nicht, und auch nicht Brecht. Aber geht das im Ensemble?

Programmheft als pdf downloaden

Autor
Bertolt Brecht
Inszenierung
Nicolas Stemann
Live-Musik
Andrina Bollinger
Bühnenbild
Jelena Nagorni
Kostümbild
Ellen Hofmann
Video
Johanna Bajohr
Licht
Christoph Kunz
Dramaturgie
Moritz Frischkorn
Alle Beteiligten anzeigen
Audience Development
Silvan Gisler
Touring & International Relations
Sonja Hildebrandt
Künstlerische Vermittlung T&S
Manuela Runge
Produktionsassistenz
Mahlia Theismann
Bühnenbildassistenz
Johanna Bajohr
Kostümbildassistenz
Renée Kraemer / Anna Toni Vyshnyakova
Produktionshospitanz
Linda Hügel
Inspizienz
Michael Durrer
Soufflage
Katja Weppler
Übertitel Einrichtung
Raman Khalaf (Panthea)
Übertitel Übersetzung
Kim  Robe
Übertitel Fahrer*innen
Maya Scharf / Josephine Scheibe / Holly Werner
Weniger Beteiligte anzeigen

Dauer: 170 Minuten inkl. Pause

Premiere: 9. September 2023, Pfauen

 

Unterstützt von D&K DubachKeller-Stiftung

 

Die Musik von Hanns Eisler wurde für die Inszenierung bearbeitet von Andrina Bollinger und Nicolas Stemann

 

*** Umbesetzungen ***
Am 15., 20. und 21. September sowie 8., 12. Oktober spielt Pujan Sadri anstelle von Steven Sowah.
Am 21. September spielt Hannah Müller für Andrina Bollinger.
Am 21. November springt Regisseur Nicolas Stemann für Steven Sowah ein.

 

Aufführungsrechte : Suhrkamp Verlag AG, Berlin

Detaillierte Besetzung
Alicia Aumüller: Virginia, Galilei, Der Inquisitor, Andrea Sarti, Der Erste Junge
Gottfried Breitfuss: Frau Sarti, Der Doge, Der Theologe, Der Mathematiker, Bellarmin, Der Inquisitor, Galilei
Matthias Neukirch: Galilei, Sagredo, Der Hofmarschall, Die Soldaten, Die Alte Frau, Der Papst
Karin Pfammatter: Kurator, Cosmo de Medici, Barberini, Bellarmin, Der kleine Mönch, Virginia
Maximilian Reichert: Andrea Sarti, Federzoni, Erster Sekretär, Galilei, Der Grenzwärter
Sebastian Rudolph: Ludovico Marsili, Der Philosoph, Der Mathematiker, Barberini, Der Inquisitor, Galilei
Steven Sowah / Pujan Sadri: Galilei, Sagredo, Andrea Sarti, Der Zweite Junge

Zu dieser Inszenierung

Der gemeinsame Boden geht verloren. Die kristallenen Himmelsphären des Aristoteles bersten und fliegen als Splitter im All herum (Bühnenbild: Jelena Nagorni). Nichts ist mehr, wie es vorher war, «da ist keine Stütze im Himmel, kein Halt im Weltall». Dafür wird mit Argumenten gekämpft, der Neuerer Galilei gegen die Institution der Kirche. Galileos Entdeckung ist für die Gottesmänner keine akzeptable Aussage. Ein langer, schwerer Text, voller Argumente, Gedanken, Theorien und Verweise, von Brecht im Zusammenspiel mit Physikern erarbeitet (mit einem Schüler von Niels Bohr in Dänemark und Hermann Reichenbach in Los Angeles), mit der fein-verspielten, traurigen Musik von Hanns Eisler unterlegt.

Sieben Schauspieler*innen (Alicia Aumüller, Gottfried Breitfuss, Matthias Neukirch, Karin Pfammatter, Maximilian Reichert, Sebastian Rudolph und Steven Sowah) bewohnen diesen Text und den zunächst fast leeren Bühnenraum, ausgestattet mit Möbeln, einem Vorhang und Forschungsinstrumenten, alles Zitate der zweiten Uraufführung in den USA im Jahr 1947. Sie sind auf der Suche nach Verbindung, miteinander und mit dem Text, der nach und nach ins Fliessen gerät. Die Spieler*innen schicken die Argumente des Forschers Galilei und der Riege seiner Antipoden, vom Kurator über den Papst bis hin zum Inquisitor, wie Lichtpartikel durch den Raum. Sie weben ein Tischtuch aus Gedanken, mit dessen Hilfe abgewogen werden soll, ob der Zweifel und die Vernunft, diese grossen Kräfte der Moderne, ein neues Fundament für das Zusammenleben sein können.

Es entfaltet sich ein Geflecht aus Beziehungen, wie eine lange, grimmige und somnambule Dinnerparty, bei der bekifft die ganze Welt besprochen wird. Es werden Songs gesungen, die uns erzählen, was auf der Bühne passiert, während unsere Herzen schmelzen (Musik: Andrina Bollinger). Da ist kein Held, nur viele (Anti-)Helden*innen. Menschen, die wir dabei beobachten können, wie sie für Neues kämpfen, sich begeistern, und wie sie Angst bekommen, an ihren Privilegien festhalten, den Status Quo nicht aufgeben können. Wie sie einander kränken und sich mit Worten bekriegen. Da ist kein Himmel mehr, kein Auge, das auf den Menschen ruht, und da ist noch keine Gerechtigkeit. Da sind nur Worte, die man teilt, Gesten, Hemden, Kleider (Kostümbild: Ellen Hofmann) und Verweise, die uns zu suggerieren scheinen, wie und wer hier spricht. Und am Ende, möglicherweise, bleibt ein Gefühl der Verbundenheit zurück. Das alles, das ist Leben des Galilei von Bertolt Brecht in der Inszenierung von Nicolas Stemann. Wie es dazu kam?

Die vielen Versionen des Stücks

Am 28. Februar 1933 – wenige Stunden nach dem Reichstagsbrand – flieht Bertolt Brecht aus Berlin. Schon am nächsten Tag räumt die Gestapo seine Wohnung, nimmt alles in Beschlag. Brecht selbst reist über Prag, Wien und Zürich nach Dänemark, wo er sich in Svendborg ein Haus mit Blick auf das Wasser und auf Deutschland einrichtet. Er hört Radio und kann nicht fassen, was in Deutschland passiert. Zwischendurch schreibt er Stücke und notiert am 23. November 1938 in sein Journal: «DAS LEBEN DES GALILEI abgeschlossen. brauchte dazu drei wochen.» Das Stück wird am 9. September 1943, genau 80 Jahre vor unserer Premiere, hier am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt, allerdings ohne Brechts Beteiligung, der die Premiere nur aus den fernen USA verfolgt. Und das, obwohl Leben des Galilei laut Brecht außerdem «technisch ein grosser rückschritt, (…) allzu opportunistisch» sei. Man müsse das Stück «vollständig neu schreiben», meint er. Weniger Atmosphäre, weniger Einfühlung, mehr «planetarische Demonstrationen», das wäre die Lösung.

Im kalifornischen Santa Monica, wohin Brecht im Juli 1941 von Finnland aus geflohen war, bietet sich ihm die Gelegenheit, das Stück zu überarbeiten. Dort, wo er verzweifelt und ziemlich erfolglos versucht, sich mit Drehbüchern für Hollywood über Wasser zu halten, lernt er den bekannten amerikanischen Schriftsteller Charles Laughton kennen, mit dem gemeinsam er an einer neuen Fassung des Stücks für den amerikanischen Markt arbeitet. Laughton und Brecht treffen sich täglich in dessen Villa mit Blick auf den Pazifik. Hier entsteht die zweite, englischsprachige Fassung der Arbeit, die am 30. Juli 1947 in Beverly Hills aufgeführt wird. Zu den illustren Premierengästen zählen Charlie Chaplin, Ingrid Bergman und Gene Kelly. Auch Igor Stravinsky sieht die kalifornische Aufführung und beglückwünscht Eisler zu dessen Begleitmusik. Obwohl das Stück durch den Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki und die damit einhergehenden Zweifel an der moralischen Sinnhaftigkeit von Technik an Aktualität noch gewonnen hat, floppt es. Brecht gibt daraufhin den amerikanischen Theatermarkt ein für alle Mal auf. Nur drei Monate nach der amerikanischen Erstaufführung 1947 verlässt Brecht die USA. Er zieht nach Feldmeilen bei Zürich, wo ihn der Bühnenbildner Caspar Neher begrüsst. Neher bringt Brecht umgehend mit Kurt Hirschfeld vom Schauspielhaus in Verbindung, wo Brecht als eine Art externer Berater ein- und ausgeht. Doch gelingt es ihm nicht, in der Schweiz wirklich anzukommen. Die Polizei lässt ihn beschatten. Seine Antigone-Inszenierung in Chur ist kein Erfolg. Ausserdem zieht es ihn zurück nach Berlin. Am 4. Mai 1949 ist es endlich soweit: Brecht, Helene Weigel, die gemeinsamen Kinder und Ruth Berlau – seine Geliebte und Mitarbeiterin – verlassen Zürich endgültig und ziehen nach (Ost-)Berlin.

Dort, als Gründungsintendant des Berliner Ensembles, überarbeitet Brecht das Leben des Galilei schliesslich ein drittes Mal. Im Dezember 1955 beginnen die Proben für seine erste eigene Inszenierung des Stücks. Nun spielt der schon damals berühmte Ernst Busch die Hauptrolle, mit dem Brecht sich nicht gut versteht. Nach seinen Erfahrungen mit Hollywood, der leichten, feineren Art des Schauspiels von Laughton, hat Brecht den Eindruck, Busch poltere auf unglaublich einfältige Art und Weise. Das regt ihn sichtlich auf. Am 27. März 1956 findet die letzte Probe mit Brecht statt, der am 14. August desselben Jahres stirbt. Die Proben werden von Erich Engel weitergeführt. Erst am 15. Januar 1957 wird das Stück (nach der deutschen Erstaufführung an den Bühnen der Stadt Köln im April 1955) endlich auch in (Ost-)Berlin gezeigt. Ob Brecht mit dieser Inszenierung zufrieden gewesen wäre, bleibt stark zu bezweifeln. Er hätte weiterarbeiten wollen, sicherlich: mehr «planetarische Demonstrationen», weniger Atmosphäre, mehr Einsicht. Wieso aber scheint es für Brecht unmöglich, das Stück fertigzustellen, bzw. es selbst zu inszenieren? Wieso stirbt er über den Proben, wieso wird Leben des Galilei einfach nie fertig?

Das Stück als Filter für politische Ereignisse

Die Fabel des Stücks ist leicht erzählt: Die historische Figur des Mathematikers und Physikers Galileo Galilei vertritt das neue, kopernikanische Weltbild: Darin dreht sich nicht mehr die Sonne um die Erde, wie die Kirche und Aristoteles es jahrhundertelang gelehrt haben. Um das neue Weltbild zu belegen, sammelt Galilei Belege für das neue, heliozentrische Weltbild: Mit Hilfe des Teleskops, das er eigenhändig weiterentwickelt, untersucht und zeichnet er die Krater und Gebirge des Erdmondes. Und er beobachtet die vier Monde des Jupiters, die diesen offensichtlich umkreisen, und damit die unsichtbare, kristallene Himmelsphäre, an welcher der Planet dem antiken, geozentrischen Weltbild zufolge angehängt sein soll, durchstossen würden. Für seine Forschungen setzt Galilei sein eigenes Leben aufs Spiel und er opfert seine Tochter Virginia, der er eine wissenschaftliche Ausbildung verwehrt, obwohl sie Interesse an seiner Forschung bekundet. Sein politischer Fehler aber besteht darin, dass er öffentlich gegen das vom Vatikan vertretene geozentrische Weltbild argumentiert, sich damit direkt zu Fragen der Theologie äussert. Er wird daraufhin von der Inquisition gezwungen, seine eigenen Lehren zu widerrufen. Nachdem Galilei widerrufen hat, muss er den Rest seines Lebens im Hausarrest nahe Florenz verbringen. Dort schreibt er seinen abschliessenden Forschungsbericht, die sogenannten Discorsi, die seinen Weltruhm sichern werden. Dieses Buch wird, am Ende des Stücks, insgeheim von seinem Schüler Andrea über die italienische Grenze nach Holland transportiert.

Brecht orientiert sich stark an den historischen Fakten. Leben des Galilei changiert zwischen historischem Drama und theatraler Physikstunde. In seinem theater-theoretischen Text Kleines Organon für das Theaterreflektiert Brecht diese relativ konventionelle Form des Theaters ausführlich: Neben der Verfremdung, dem zentralen Mittel seines in den 1930er-Jahren entwickelten epischen Theaters, soll auch ein wenig Unterhaltung, gar Identifikation erlaubt sein. Trotzdem dient die Figur des Galilei eindeutig als Folie, um sich mit aktuellen politischen Themen auseinanderzusetzen. So will Brecht die Kirche explizit als «weltliche Institution der Macht» verstanden wissen, die durch die politischen Energien von Faschismus, der Kommunistischen Partei, dem sich entfaltenden Grosskapitel, dem militärisch-technischen Komplex usw. gedanklich ersetzt werden kann. Zwei Aspekte von Leben des Galilei sind für die Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage zentral: Weil Brecht das Stück zum Filter für politische Ereignisse macht, die ihn als Theaterautor und politischen Menschen betreffen, verdichtet und verändert sich das Stück im Laufe seines Lebens. Einerseits funktioniert es damit in seinen unterschiedlichen Fassungen wie ein Gewebe, in dem sich immer neue politische Probleme und geschichtliche Ereignisse verfangen und zu schillern beginnen. Andererseits bleibt das Stück notwendigerweise unabgeschlossen. Was also steckt drin, in diesem unfertigen Monument?

Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann hat geschrieben, insbesondere die erste, in Dänemark entstandene Fassung sei eine Auseinandersetzung mit dem Stalinismus und den Moskauer Schauprozessen gegen «Trotzkisten und Rechte» in den Jahren 1936-38. Brecht selbst hatte Freund*innen und Bekannte, die in Russland bedroht und ermordet wurden, u.a. seine ehemalige Geliebte, die Schauspielerin Carola Neher, die im Stalinistischen Russland inhaftiert und hingerichtet wurden, und um deren Freilassung er sich zumindest nicht öffentlich bemühte. Die Moral des Stückes lässt sich dann ungefähr so beschreiben: Keep your head down. Lass dich nicht mit der Parteiführung ein. Versuche, weiter zu arbeiten, ohne zu sterben (oder sterben zu lassen). Lehmann führt dabei u.a. Gespräche von Brecht mit dem deutschen Philosophen Walter Benjamin aus den 30er-Jahren an, in denen beide sich dazu bekennen, den Stalinismus nicht öffentlich zu kritisieren, obwohl sie um dessen Verbrechen wissen. Wie Lehmann schreibt: «Galilei ist hier beides zugleich: ein Wissenschaftler, der mit List seine Forschungen weiter betreibt, andererseits Schuldiger, der selbst mitleidlos seine ‹Selbstzerstörung› verurteilt.» Zunächst aber, so formuliert es auch Hanns Eisler, blickt Brecht durchaus fasziniert auf die historische Figur des Galilei, dem es im Hausarrest gelingt, sein finales Werk fertig zu stellen. Galilei ist ein strategischer Spieler, der um seine Verfehlungen weiss.

Die zweite, amerikanische Fassung ist vom angehenden Atomzeitalter gekennzeichnet. Schon 1939 nimmt Brecht Notiz von der Nachricht, die Kernspaltung sei gelungen. Später wird er über Galilei schreiben, dessen Widerruf sei der mittelbare Vorgänger der Atombombe: «Galileis Verbrechen kann als die ‹Erbsünde› der modernen Naturwissenschaft betrachtet werden. Aus der neuen Astronomie, die eine neue Klasse, das Bürgertum, zutiefst interessierte, da sie den revolutionären sozialen Strömungen der Zeit Vorschub leistete, machte er eine scharf begrenzte Spezialwissenschaft, die sich freilich gerade durch ihre ‹Reinheit›, d.h. ihre Indifferenz zu der Produktionsweise verhältnismässig ungestört entwickeln konnte. Die Atombombe ist sowohl als technisches als auch soziales Phänomen das klassische Endprodukt seiner wissenschaftlichen Leistung und seines sozialen Versagens.» Damit aber hat sich die Deutung des Titelhelden gewendet: Da ist keine Faszination für den Strategen Galilei mehr, sondern Abscheu über dessen Zusammenbruch vor der Kirche. Nur eine standhafte Reaktion Galileis hätte zu sozialem Wandel führen können. Der Wissenschaftler ist seiner Verantwortung nicht gerecht geworden, er hat die Gesellschaft verraten.

Die Kränkung der Menschheit

Als Brecht in Ost-Berlin noch einmal an dem Stück arbeitet, ist er von weiteren persönlichen und politischen Kränkungen gekennzeichnet: 1953, in der Folge des Aufstands vom 17. Juni, sah er sich gezwungen, sich öffentlich für das DDR-Regime zu positionieren. Im Alter, so scheint es, sieht Brecht immer deutlich die eigene Schwäche und die Verletzungen, die seine Theaterarbeit, aber auch sein konfliktreiches, selbstzentriertes Liebesleben produziert haben. Er weiss um die eigene Feigheit, die eigene Angst. Keine Frage: Sein Selbstbewusstsein verlässt Brecht nicht, aber es bröckelt. All diese politischen und persönlichen Erfahrungen schlagen sich im Text nieder, die einzelnen Fassungen unterscheiden sich an entscheidender Stelle, so dass die Deutung des Stücks jeweils eine andere wird. War Galilei ursprünglich ein «Stafettenläufer der Wahrheit» (Hanns Eisler), so bezichtigt sich Galilei in der zweiten und dritten Fassung, v.a. im Endmonolog, deutlich des Verrats an der Wissenschaft und des gesellschaftlichen Fortschritts. Auf einer weiteren Ebene tritt die Frage nach der Kränkung der Menschheit hervor: Wenn der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt der Schöpfung steht, was gibt ihm oder ihr dann Halt? Wie umgehen mit den eigenen Verfehlungen?

Brechts Stück trägt das Merkmal der strukturellen Unabgeschlossenheit in sich. Je länger Brecht gelebt hätte, desto öfter hätte er Leben des Galilei umgeschrieben. Es ist sein unmögliches Alleswerk, an dem er schliesslich stirbt. Planetarische Demonstrationen sind vielleicht nichts für gewöhnliche Theatermenschen? Ein théâtre à venir, wie der französische Philosoph Jacques Derrida gesagt hätte, ein Theater im Kommen, das Theater des Kommenden, das Theater, dass noch kommen wird, aber nie schon gekommen sein kann. Ein Ruf an die Zukunft, an die Zukünftigen, damit an uns – zumindest aus Brechts Perspektive. Wie also heute weiterarbeiten?

Aus einer heutigen Perspektive schliessen sich an diesen kurzen historisch-kritischen Bericht über Brechts Leben des Galilei folgende Überlegungen an: Interessant ist für uns zum einen Brecht als Leser von Sigmund Freuds Text Kränkungen der Menschheit, deren erste laut Freud die kopernikanische Wende ist. Zwei weitere folgen: die biologische Kränkung der Abstammung vom Affen und die psychologische Kränkung der konstanten unterbewussten Triebsteuerung. Wie aber umgehen mit der vierten Kränkung der Menschheit (die auch Freud noch nicht formulieren konnte), mit der klar wird, dass die Souveränität und Freiheit des liberalen Subjekts eine Phantasie ist; eine Phantasie, die ausserdem immer schon auf Unterdrückung und Ausbeutung anderer Menschen und natürlicher Rohstoffe basierte? Wenn unsere Aufgabe heute ist, zu lernen, in welch grossem Masse wir von natürlichen Rohstoffen, von Pflanzen, Tieren und unseren Mitmenschen abhängig sind, wie können wir dann gemeinsam mit anderen Menschen und Lebewesen nach ökologischen Formen des Zusammenlebens suchen? Und welchen Beitrag dazu kann die Kunst leisten? Hier kündigt sich, ganz nebenbei, ein weiterer fundamentaler Paradigmenwechsel an. Während die kopernikanische Wende den Beginn der Moderne bezeichnet, so ist es diese ökologische Wende, die ihr Ende ausruft.

Zeitgenössische Wissenschaftskritik

Daran schliessen sich weitere Fragen zur Rolle von Wissenschaft am Ende der Moderne bzw. am Anfang des neuen Zeitalters des Anthropozäns an, in dem sich die unheilvolle Macht des Menschen auch auf der planetarischen Ebene der Geologie zeigt. Wissenschaft hat für Nicolas Stemann den Status einer mehrfachen Kippfigur: Längst ist klar, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt für die fortlaufende Zerstörung unserer Umwelt verantwortlich ist. Es ist dem modernen Subjekt nie gelungen, seine eigenen Kräfte zu zähmen. Dafür steht die Atombombe. Weiterhin ist moderne Wissenschaftlichkeit durch inhärente Ausschlussmechanismen gekennzeichnet: Nicht zuletzt die Figur der Virginia – Galileis Tochter, die ins Kloster verbannt wird – steht metaphorisch für die These, dass der moderne wissenschaftliche Zweifel an Autoritäten oder Institutionen sich delegitimiert, weil er Menschen anderen Geschlechts oder Hautfarbe lange Zeit und auch heute gleichberechtigten Zugang verwehrt.

Und trotzdem ist Wissenschaft eben dasjenige Mittel, das zur vorsichtigen, provisorischen Beschreibung unterschiedlicher Dimensionen von sozialer, politischer und ökologischer Wirklichkeit nötig ist. Gerade im Angesicht öffentlicher Infragestellung der wissenschaftlichen Methodik, z.B. durch die post-faktische Politik eines Donald Trump, durch militante Klimawandel-Leugner oder anti-demokratische Verschwörungstheoretiker, scheint eine Debatte über gesellschaftlich legitimierte Praktiken des Forschens wünschenswert. Die Frage wäre dann: Welche Wissenschaft brauchen wir heute? Welche Forschungspraktiken sind tatsächlich nötig, um eine bewohnbare Erde zu gestalten, in der nicht nur Menschen, und nicht vornehmlich weisse Männer zu ihrem Recht kommen, sondern alle Menschen, Tiere, Pflanzen?

Für diese Weiterentwicklung von Wissenschaft, so argumentiert die feministische Wissenschaftstheoretikerin und Biologin Donna Haraway, ist gerade die Einsicht in die produktive Situiertheit von wissenschaftlichen Perspektiven notwendig. Weil Wissenschaftler*innen eben nicht unabhängig und ausserhalb der Welt leben und forschen, sollten sie sich ihrer fundamentalen Abhängigkeit und Verbundenheit mit der Welt bewusst sein, und diese durch ihre Forschung zu erhalten suchen, statt diese vor allem kommerziellen Zwecken zugänglich zu machen. Und vielleicht kann gerade hier auch eine Art theatraler Forschung, ein Überprüfen der eigenen Arbeitsweise des unmöglichen Alltextes, des zukünftigen Welttheaters, das nie kommen wird, von Leben des Galilei also, potentiell hilfreich sein:

Das Ensemble übernimmt

Nicolas Stemann ist für seine ausdrucksstarken post-dramatischen Arbeiten bekannt, in denen sowohl Klassiker, als auch zeitgenössische Texte in einer Art maschineller Operation zerkleinert und mit popkulturellen Referenzen aufgeladen werden. Dabei steht auch die Bindung von Schauspieler*in und Figur zur Disposition. Beide werden nicht mehr als identisch verstanden, das Verhältnis von Person und Rolle wird in jedem Moment dieser schillernden Inszenierungen neu ausgehandelt.

Diese Methodik nutzt unsere Inszenierung, um folgende Hypothese theatral zu überprüfen: (Wie) Viele können Galilei sein?! Das Stück wird zugleich aufgeführt und kommentiert, wobei jeder Kommentar selbst wieder in das Stück zurückführt. Wenn Galilei zum Beispiel im 13. Bild des Stücks den zugegebenerweise etwas kitschigen Satz spricht: «Traurig das Land, das Helden nötig hat», dann ist das im Kontext des Stücks eine zutiefst paradoxe, ambivalente Äusserung, nimmt doch der Titelheld des Stücks in der Folge noch einmal das Wort an sich, um sich in einem etwa 20-minütigem Monolog zu rechtfertigen und sich selbst als (gebrochenen) Held zu stilisieren. Für unsere Theaterarbeit ist dieser Satz aus Brechts Stück eine unmögliche, aber produktive Herausforderung: Stimme ist an einzelne Körper gebunden, Erzählungen operieren mit Einzelfiguren. Zwar steht dem Helden der Chor gegenüber, aber dieser hat zumeist kommentierende oder bewertende Funktion, er ist nicht handlungsfähig. Was wäre denn ein handlungsfähiger Chor, ein Ensemble, gar ein mehr-als-menschliches Ensemble, das gemeinsam-dividuell handelte, jenseits einer einfachen Opposition von Ensemble und Solist*in, Ensemble und Figur, Ensemble und Held*in?

Genau diese Fragen werden in dieser Inszenierung überprüft. Sie gelingt immer dann, wenn mehrere sprechen, wenn mehrere Spieler*innen miteinander handeln, wenn Figuren zwischen den Spielenden entstehen, wenn das Spiel der Gedanken wie beiläufig von einer Person zur nächsten wechselt, nicht ohne dass die Präsenz jeder anderen Person auf der Bühne die Situation energetisch mitbestimmte. Der Einzelne, das Individuum wäre dann vor allem eine Art Bote, ein messaging effect des Ensembles und des Stücks. Gruppe und Individuum hörten auf als Gegensätze zu existieren, sie wären unterschiedliche Ausdrücke derselben sozialen Energie, genau wie Teilchen und Welle Ausdruck derselben physikalischen Energie sind. Von einer solchen Form des sozialen Miteinanders, einer solchen Form des Theaters hat vielleicht auch der Autor und Theatermacher Brecht geträumt. Der Held von Leben des Galilei sei nicht Galilei, sondern das Volk, soll jedenfalls Walter Benjamin zu Brecht gesagt haben. Das Volk, oder, so könnte man weniger pathetisch sagen: ein Ensemble aus allen möglichen Formen von Mithandelnden. Weiterträumen jedenfalls, das ist erlaubt. (mf)

«Alleine kann man die Welt sowieso nicht retten»

Der Dramaturg Moritz Frischkorn im Gespräch mit dem Klimaforscher Reto Knutti

Moritz Frischkorn: Sehr geehrter Herr Knutti, Sie sind einer der Leitautoren des Vierten und Fünften Sachstandsberichts des jährlich tagenden IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) und ein ausgewiesener Experte für die Entwicklung von Klimaszenarien und -projektionen. Sie haben sich in ihrer Funktion als Wissenschaftler immer wieder öffentlich geäussert, auf Twitter, im Radio und im Fernsehen, so z.B. in Bezug auf die Eidgenössische Abstimmung zum CO2-Gesetz und zum Klimaschutzgesetz. Woher kommt der Impuls, öffentlich und mit Bezug auf politische Fragen Stellung zu beziehen?

Reto Knutti: Die Wissenschaft hat die Aufgabe – neben der Ausbildung – Forschung zu betreiben und Lösungen für gesellschaftliche Probleme bereitzustellen. Es gibt Bereiche, wo das relativ Grundlagen-lastig ist, oder unpolitisch. Und dann gibt es Bereiche, wo die Forschung direkt in die politische Debatte hineinläuft. Klima und Energie sind solche Bereiche, aber nicht die einzigen, auch die Digitalisierung, public health, etc. Ich bin der Überzeugung, dass es in diesen Bereichen mehr braucht als Zahlen. Wenn man den Leuten einfach einen Haufen Zahlen gibt, dann sind sie verloren. Die Leute brauchen jemanden, der diesen Zahlen synthetisiert, Kontext liefert, und erklärt, wie man auf diese Zahlen reagieren könnte. Was könnten gesellschaftlich-politische Reaktionen darauf sein? Wie könnte man diese Probleme lösen? Die Wissenschaft kann das nicht entscheiden, dafür hat sie die Legitimation nicht, dafür gibt es eine Demokratie. Aber sie kann zeigen, welche Szenarien zu welchen Zielen führen und welche nicht.

Wir beobachten ja zum Teil ziemlich aufgeladene Debatten, mit Fake News und ChatGPT. Es geht dabei um mehr als nur Fakten. Ich habe das Gefühl, in vielen Bereichen der Gesellschaft ist heute gar nicht mehr die Frage, was ist oder was nicht ist, sondern es ist einfach egal. Trump hat das sicherlich salonfähig gemacht, dass man sich gar nicht mehr die Frage stellt, ob etwas stimmt oder nicht. Also: Jede und jeder baut sich seine Welt zusammen, wie er oder sie sie gerne hätte. Der Unterschied zwischen Fakten und Meinungen verschwimmt total. Und da braucht es Expert*innen, die sagen: Das stimmt, und das wiederum stimmt nicht. Diese Rolle finde ich ganz entscheidend und das habe ich mir zur Aufgabe gemacht, mit allen den Nebenwirkungen, die das mit sich bringt.

MF: Wir beschäftigen uns in der Inszenierung von Leben des Galilei von Bertolt Brecht mit ganz ähnlichen Fragen, nämlich: Was ist die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft? Wie stark sollen sie sich zu gesellschaftlichen und politischen Themen äussern und wo bestehen Grenzen für Äusserungen von Wissenschaftler*innen?

RK: Die Grenze liegt dort, wo es darum geht, zu entscheiden. Die Wissenschaft kann eigentlich nur mögliche Antworten aufzeigen, mit Kosten, Nutzen, Risiken und Nebenwirkungen. Aber die Entscheidung, die muss in der Gesellschaft passieren, in einem demokratischen Prozess. Ottmar Edenhofer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat das mal mit einer Karte verglichen und gesagt, die Wissenschaft ist ein map-maker und die Entscheidungsträger*in ist der navigator. Also der eine zeichnet die Karte, und der andere entscheidet, wo das Ziel ist und wo man durchläuft auf der Karte. Die Wissenschaft versucht diese Karte so genau wie möglich zu machen, z.B. da hat es einen Wasserfall, vielleicht einen Felsen... Irgendjemand muss dann aber sagen: Okay, dorthin gehen wir. Idealerweise würde natürlich die Person, die entscheidet, wohin man geht, mit der Person sprechen, die die Karte gezeichnet hat und nachfragen: Ja, Moment mal, denkst du der Wasserfall ist gefährlich, oder nicht?

MF: Könnte man dann sagen: Immer dann, wenn Wissenschaftler*innen besonders laut in der Öffentlichkeit sprechen, zeigt sich ein Entscheidungsdefizit?

RK: Das können verschiedene Gründe sein, warum es laut wird. Es kann sein, dass es entweder zeitlich sehr akut ist, es drängt, oder es kann sein, dass die Entscheidungsträger*innen und oder die Gesellschaft die Problematik nicht verstanden haben. Und dann braucht es mehr Engagement. Es kann aber auch sein, dass die Wissenschaft vielleicht gar nicht so laut wäre, aber das Ganze in einer medialen Debatte wahnsinnig aufgeheizt wird. Man muss ganz klar sagen: Was wir effektiv äussern und formulieren ist das eine, und das andere ist, was die Medien, Twitter und andere soziale Medien daraus machen. Und da ergibt sich manchmal eine Eigendynamik, die schwierig zu kontrollieren ist, da kann man noch so freundlich und differenziert formulieren. Da kommt dann die Weltwoche auf der einen Seite und Extinction Rebellion auf der anderen Seite und dann gibt es ein bisschen Feuerwerk. Das hat nicht unbedingt immer damit zu tun, dass die Wissenschaft laut sein will, sondern vielleicht mehr damit, um was es geht und wie viel Geld auf dem Spiel steht.

MF: Der historische Galileo Galilei kämpft gegen die Kirche und den Vatikan, die ein überholtes geozentrisches Weltbild vertreten: Mit welchen gesellschaftlichen Beharrungskräften sind Klimaforschende heute konfrontiert?

RK: Bei Galilei geht es ja zunächst um die Frage: Was ist die naturwissenschaftliche Faktenlage? Es geht dann erst in einem zweiten Schritt um die gesellschaftlichen Konsequenzen. Diese erste Frage hatten wir im Klima vor 20 Jahren: Gibt es einen Klimawandel und ist der Mensch verantwortlich? Heute ist der Streit um den Klimawandel nicht mehr eine Frage darüber, ob es den Klimawandel gibt und ob er menschengemacht ist. Es ist die Frage von: Was tun wir? Wie tun wir's, und wer zahlt? Und das ist dann wirklich eine unmittelbar gesellschaftlich relevante Frage, weil die Menschen ihre Art zu leben verändern müssen. Ich habe es einmal ein wenig provokativ formuliert, als ich gesagt habe, der Mensch sei ein bisschen dumm, faul, egoistisch und kurzsichtig. Natürlich ist er nicht generell dumm, aber er versteht die Komplexität, Dringlichkeit und Tragweite seines Handelns nicht immer. Und er ist ein bisschen faul in dem Sinne, dass er ungerne auf seine Privilegien verzichtet und lieber an sich selber denkt als an das langfristige Wohl der ganzen Welt. Und das kreiert Widerstand, weil der Mensch sich in seinem Verhalten ein bisschen verändern müsste. Und viele wollen das nicht. Oft ist Klimaschutz dann so eine Frage von Freiheit des Individuums versus Rolle des Staates. Und das gibt dann eine sehr unangenehme Rechts-Links Spaltung der Gesellschaft, obwohl ja eigentlich eine funktionierende Umwelt keine Rechts-Links Frage sein sollte. Wir brauchen Alle sauberes Wasser. In diesem Sinne sollte die natürliche Grundlage unseres Planeten keine politische Sache sein. Aber sie ist es eben doch.

MF: Eines der zentralen Themen in der Deutung des Stücks von Brecht ist die Frage nach dem Widerruf von Galilei: Ist dieser als strategisches Manöver zu werten, so dass der Titelheld die Arbeit an seinem Hauptwerk, den Discorsi, beenden kann, oder ist es ein Verrat am gesellschaftlichen Aufbruch gegen die Kirche, als dessen Galionsfigur Galilei angesehen wird? Wie strategisch operieren Sie in der Frage, inwiefern und wann Sie sich zu gesellschaftlichen Themen öffentlich äussern?

RK: Ich glaube, da gibt es Parallelen und Unterschiede. Was wir nicht tun, das ist, zu lügen, nur um zu überleben. Das tun wir nicht. Alles, was ich sage, ist so, wie es ist. Und es ist zu 100 % ehrlich. Ich verheimliche nichts. Ich beschönige nichts. Das ist unsere Verantwortung gegenüber dem wissenschaftlichen Prozess, dass wir sagen, wie die Dinge sind. In diesem Sinne ist es anders als bei Galilei. Aber was natürlich ähnlich ist, ist die Frage: Wie kann man jetzt mit diesem Wissen etwas bewegen? Und dann kommt es durchaus darauf an, wie man es sagt und wem man es sagt und zu welchem Zeitpunkt man etwas sagt. Und wenn man in einem politischen Prozess etwas bewegen will, zum Beispiel, dann muss man sich gut überlegen, wie man das verpackt und wer der Absender ist. Es macht einen Unterschied, ob ich als Physiker etwas sage oder ob die Organisation Protect Our Winters das gleiche sagt. Es gibt auch Kirchen, die etwas sagen könnten. Es gibt also verschiedene Akteur*innen, die auf verschiedenen Ebenen etwas einbringen könnten. Das ist ein bisschen wie Schachspielen, da muss man durchaus versuchen, zu überlegen, was ist jetzt strategisch vielleicht günstig? Meine Erfahrung ist, dass man die Menschen nicht bewegt, indem man sagt, die Welt gehe unter. Man bewegt sie auch nicht unbedingt, indem man mit dem Finger auf sie zeigt und sagt, Du bist ein schlechter Mensch, Du darfst alles nicht. Das kreiert nur Ablehnung und Hilflosigkeit. Stattdessen muss man die Leute an die Hand nehmen und sagen: Schau, das ist alles ein Problem. Aber da gibt eine Lösung, zu der du beitragen kannst, das wäre eigentlich ganz positiv. Wenn dieser Brückenschlag gelingt, dann sind die Leute plötzlich bereit, das zu tun. Dann wird es spannend. Wenn dieses positive Framing, wie man so schön sagt, reinkommt, dann ist es normalerweise viel effektiver, als wenn man es nur negativ macht. Ich glaube, es braucht das Negative schon ein bisschen zum Aufrütteln, aber dann braucht es eben auch die Alternativen dazu.

MF: Da ist dann, nebenbei, vielleicht die Kunst wieder gefragt?

RK: Absolut. Ich habe schon lange gesagt, dass es ein Problem ist, dass fast nur die Naturwissenschaften diese ganze Kommunikation machen. Es bräuchte viel diversere Botschaften. Es braucht aber auch diverse Botschafterinnen und Botschafter. Möglicherweise kann eine andere Person in einem anderen Medium die gleichen Fakten viel effektiver transportieren, als es ein trockener Physiker kann.

MF: In einem SRF-Interview vom Mai 2021 erzählen Sie davon, dass Sie eigentlich ein schüchternes Kind gewesen wären, dass auch ihr Doktorvater ihnen von öffentlichen Positionierungen abgeraten hätte, dass also die öffentliche Äusserung zu politischen Themen für Sie ein Lernprozess gewesen sei. Wie ist dieser Lernprozess vonstattengegangen?

RK: Früher hat man sehr deutlich gesagt: Die Wissenschaft produziert die Zahlen und die Politik entscheidet. Also quasi, und um an das Bild von oben anzuschliessen: Wir zeichnen die Karten und dann wird die Karte kommentarlos oder sogar ohne Legende was die Symbole bedeuten, an das Bundesamt oder an den Bundesrat geschickt und fertig. Man geht dann davon aus, dass die schon verstehen, was diese Karte zeigt, und das dann schon gut machen. Diese strikte Trennung von Fakten und Politik, die war lange eigentlich sehr ausgeprägt. Das ist vielleicht auch ein Resultat vom IPCC, d.h. dem internationalen Klimarat, wo es ganz klar immer hiess: Ihr dürft nicht Politik vorschreiben, die Länder wollen das nicht. Bis man irgendwann gemerkt hat, vielleicht geht es so nicht. Und ich bin überzeugt, dass es so nicht geht. Die Politik und die Gesellschaft verstehen die Karte nicht, wenn man ihnen die Karte nicht erklärt. Das war auch bei COVID so. Man kann eine Kurve zeichnen mit COVID-Fallzahlen, aber das heisst noch lange nicht, dass der Herr Berset dann weiss, was wir tun sollen. Sondern irgendjemand muss dann Szenarien vorschlagen - entweder das oder das oder das und das kombiniert. Das ist dann ein vieldimensionaler Prozess. Und ich bin überzeugt, dass die Wissenschaft Teil von diesem Prozess sein muss. Es kann nicht sein, dass Interessensvertreter*innen von Gastrosuisse und der Bauernverband dabei sind, und die Wissenschaft nicht, obwohl sie viel mehr davon versteht. Zur Frage: Ja, ich war ein schüchternes Kind. Aber man lernt im Leben.

MF: In Ihrer Arbeit in und mit der Öffentlichkeit, so scheint es mir, sind eine ganze Reihe von Fähigkeiten gefragt – z.B. die Fähigkeiten unterschiedliche Akteur*innen zu vernetzen, Argumente von Affekten zu trennen, vorsichtig und konstruktiv zu formulieren, usw. – die erst mal nichts mit den Fähigkeiten zu tun, die man als Physiker*in braucht. Haben Sie sich diese Fähigkeiten nebenbei angeeignet?

RK: Ja, das stimmt, diese Fähigkeiten hat man nicht automatisch. Und das ist vielleicht auch okay für viele Naturwissenschaftler*innen. Aber wenn man sich in einer öffentlichen Debatte bewegt, dann braucht es diese Fähigkeiten. Man kann sie erlernen. Und ich habe gemerkt, dass ich mindestens so viel bewegen kann, wenn ich mich in diesem öffentlichen Raum bewege, wie wenn ich «nur» Wissenschaft betreibe. Ich wäre immer noch ganz, ganz, ganz schlecht im Theater oder Improvisationstheater. Das würde ich gar nicht gerne tun. Aber wenn es um mein Fachgebiet geht, bei dem ich Bescheid weiss und Argumente habe, da kann ich mich inzwischen gut bewegen.

MF: Am Ende von Brechts Stück ist der Titelheld Galileo Galilei ein gebrochener Mann. Er ist verzweifelt darüber, nicht genug für den gesellschaftlichen Wandel hin zu einer gerechteren Gesellschaft getan zu haben. Kennen Sie dieses Gefühl, vielleicht nicht genug für den Erhalt einer bewohnbaren Erde getan zu haben?

RK: Ja, das Gefühl hat man schon. Ich habe zwei Kinder und frage mich manchmal: Wie werden diese Kinder noch leben? Oder die darauffolgende Generation? Und man hinterfragt sich immer wieder, ob man es richtig macht, ob man es besser hätte machen können. Es gibt Leute, die daran zerbrechen. Ich hoffe, dass ich das nicht tue, und glaube, einen guten Weg gefunden zu haben. Es gibt dieses Zitat des deutschen Soziologen Max Weber, der einmal gesagt hat: Politik ist das lange Bohren harter Bretter. Es ist einfach so, dass es eine Reihe von gesellschaftlich schwierigen Themen gibt – u.a. auch die Frage von Einkommensverteilung, von Gleichheit, von Gender, von Migrationspolitik, usw. – wo man nie eine vollständige Lösung findet. Man kann einfach nur versuchen, weiter zu arbeiten. Da geht es drei Schritte vorwärts und zwei zurück. Manchmal geht auch lange, lange gar nichts. Plötzlich öffnet sich dann irgendwo ein Fenster, und dann sieht man: Aha, jetzt gibt es einen Moment, um vielleicht einen Schritt weiterzukommen. Man darf sich nicht frustrieren lassen durch all das, was nicht geht, sondern muss einfach immer wieder weiterkämpfen. Es steht zu viel auf dem Spiel, als dass man nichts tun könnte. Die Option wäre, einfach aufzugeben und ein gebrochener Mann zu sein. Aber dann habe ich auch nichts bewegt. Also arbeiten wir weiter, im Wissen, dass man die Welt alleine sowieso nicht retten kann. Aber ich kann vielleicht sagen, ich habe irgendwo ein bisschen beigetragen.

Artist Profiles

Die folgenden Interviews mit dem Regieteam von Leben des Galilei wurden etwa 3 Wochen vor der Premiere geführt. Sie erzählen darin über zentrale Motivationen für ihre Arbeit.

Andrina Bollinger (Musik)

Was interessiert Dich an der Musik von Hanns Eisler zu Leben des Galilei?

Als ich zum ersten Mal die Partitur von Eisler angeschaut und seine Musik gehört habe, war ich zunächst ein bisschen erschrocken und habe mich gefragt: Wie setze ich das um? Die ursprüngliche Instrumentierung – also drei Knabenstimmen, Cembalo und Bläserstimmen – sind eigenartig und stilistisch nicht ganz mein Metier. Dann habe ich aber Parallelen zu meiner Musik entdeckt und festgestellt, dass Eislers Musik an vielen Stellen wie Popmusik funktioniert. Ich war erstaunt, wie gut ich der Partitur Akkorde entnehmen kann und Drei- und Vierklänge finde, die sich mit der Melodie verbinden. Da wird Eisler beinahe zu eine Art Singer-Songwriter-Material. Die Musik ist spielerisch und leicht, und auch mir war bei der Adaption wichtig, diesen Gestus zu übernehmen, d.h. der Grundintention und Emotionalität der Musik treu zu bleiben. Gleichzeitig wollte ich diese Musik in meine Sprache übersetzen, vor allem was die Instrumentierung angeht: Ich bin eigentlich keine klassische Singer-Songwriterin, bezeichne meine Musik eher als Avantgarde-Pop, aber ich habe viele Songs, die an der Gitarre und am Klavier funktionieren. Und da ist meine Arbeitsweise auf das Material gut anwendbar.

Welche Qualität oder Farbe gibst Du der Inszenierung durch Deine Musik?

Die Sanftheit meiner Stimme ist eine Seite von mir, die das Stück sicherlich prägt. Und dann gibt es auch diese energetische, performative Seite, die ich sehr mag und von der ich hoffe, dass ich sie in der Inszenierung noch mehr zeigen kann. Als Multi-Instrumentalistin kann ich schnell zwischen den Instrumenten hin und her wechseln und die Musik vielseitig wiedergeben. Weil ich gewohnt bin, viel zu experimentieren, kann ich das Stück gut ergänzen.

Nicolas ist selbst Musiker und arbeitet improvisativ. Wie empfindest Du die Zusammenarbeit?

Das ist eigentlich genauso, wie ich Musik mache. Ich experimentiere und improvisiere bis etwas passiert, das mir gefällt, und dann verfolge ich das. Ich habe Jazzgesang studiert und bin es gewohnt, improvisativ zu arbeiten. Aber ich musste auch meinen Platz finden und herausfinden: Wie genau diene ich dem Stück und ziehe nicht einfach mein Ding durch? Wie finde ich mich da ein? Das hat eine Zeit lang gedauert. Grundsätzlich aber mag ich den Prozess sehr. Er dauert ein bisschen länger, als ich das in meiner künstlerischen Arbeit oder mit meiner Band gewohnt bin, aber das ist auch spannend. Es entstehen dabei neue Dinge.

Gibt es einen bestimmten Aspekt des Stücks, der Dir besonders wichtig ist?

Es gibt verschiedene Aspekte, die mich berühren, wenn ich zuschaue. Ich finde das Stück super lustig und ich schaue jeder Person wirklich sehr gerne zu, wie sie spielt. Wie die Spieler*innen mit der Sprache umgehen und ihr Humor, das gefällt mir. Und dann gibt es für mich im Stück und in unseren Diskussionen Themen, die jetzt gerade aktuell und wichtig sind, zum Beispiel feministische Fragen: Was ist die Rolle der Frau im Stück? Oder auch der Kampf um Wissenschaftlichkeit, der mit COVID wieder aktuell wurde. Also Themen, bei denen sich Parallelen zu heute schlagen lassen.

Ellen Hofman (Kostümbild)

Was sind die zentralen Aspekte von Leben des Galilei, aus denen Du das Kostümbild entwickelt hast?

Für mich ist der zentrale Aspekt der Forscher Galilei, der eine neue Weltordnung schafft. Für die Produktion habe ich mir ein eigenes Forschungsprojekt gesucht und mich mit relativ neuen LED-Stoffen beschäftigt, die für die Verarbeitung zu Kleidungsstücken entwickelt wurden. Sie können mit einer App gesteuert werden und in unterschiedlichen Variationen leuchten. Ich arbeite dafür mit den Kolleg*innen der Beleuchtungsabteilung zusammen, weil sie die Kostüme gerne vom Lichtpult ansteuern möchten. Sollte dies funktionieren, wäre es etwas ganz Neues an einem Theater. Darüber hinaus habe ich drei verschiedene Kostümsets erfunden, die den zeitlichen Verlauf des Stücks und dessen Bewegung vom Dunklen ins Helle abbilden. Dabei verwende ich heutige Schnitte und Stoffe, bleibe aber in der Auswahl eher schlicht, weil sich die Inszenierung stark auf schauspielerische Mittel konzentriert.

Welche Qualität oder Tonalität gibst Du der Inszenierung durch die Kostüme?

Parallel zu den Kostümen, die die Spieler*innen als Gruppenset anhaben werden, entwickele ich drei Unikate für das utopische Moment der Inszenierung. Diese sind angelehnt an Kreaturen, die mögliche Umweltkatastrophen besser überleben können als Menschen, zum Beispiel Pilze oder Medusen. Zum jetzigen Zeitpunkt der Proben wissen wir noch nicht, ob diese Kreatur-Kostüme überhaupt zum Einsatz kommen. Ein Kostüm oder eine Maske sollte Schauspieler*innen unterstützen oder beschützen. Als «Pilz» oder mit einem Schnurrbart können sie andere Sachen spielen als ohne. Da wir ihnen in dieser Inszenierung nur wenige Kostüme oder Versatzstücke zum Verwandeln zur Verfügung stellen, müssen sie die Rollenwechsel über Haltungswechsel spielen. Das ist für alle Beteiligten eine grosse Herausforderung. Es macht aber in den Proben viel Spass, diesem Prozess zuzuschauen: Die Spieler*innen ändern ihren Gang, die Stimmlage oder einfach die Position auf der Bühne, und schon sind sie jemand anders.

Wir arbeiten improvisativ und stark prozessorientiert: Wie reagierst Du mit Deinem Kostümbild auf die Proben, welche Herausforderungen bestehen gleichzeitig?

Prozesshaftes Arbeiten im Schauspiel ist für Kostümbilder*innen insofern eine grosse Herausforderung, als man mit den Kostümen länger auf die Entwicklungen in den Proben reagieren kann als beispielsweise das Bühnenbild. Da ich die Arbeiten von Nicolas seit 25 Jahren kenne, konnte ich mir aber ganz gut vorstellen, was da auf mich zukommt. Ich lasse mich auf seine offene Arbeitsweise ein, in der wir immer wieder neue Ideen produzieren. Das erfordert neben der Betreuung der Spieler*innen eine konstante Kommunikation mit «meiner» Abteilung, und ich bin froh über die grosse Unterstützung durch die Kostümabteilung bei der Entwicklung des Kostümbilds für Leben des Galilei.

Gibt es ein bestimmtes Thema des Stücks, das Dir besonders wichtig ist?

Wir leben in einer Zeit kurz nach der digitalen Revolution, deren Auswirkungen wir noch nicht in Gänze kennen, so zum Beispiel veränderte Kommunikationsformen oder neue soziale Strukturen, die durch soziale Medien entstanden sind. Aktuell drängt die KI in alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche ein, ohne dass wir um die Konsequenzen wissen. All diese Themen finden wir auch in Leben des Galilei. Daher ist es heute immer noch ein relevantes Stück, das in neuer Interpretation unbedingt angeschaut werden soll.

Jelena Nagroni (Bühnenbild)

Was sind die zentralen Gedanken von Leben des Galilei, aus denen heraus Du das Bühnenbild entwickelt hast?

Für mich war ein zentraler Aspekt zunächst der Übergang von einem statischen zu einem dynamischen Weltbild und damit das Motiv der Bewegung: Im Stück wird immer wieder konstatiert, dass es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Himmel und Erde, zwischen Oben und Unten. D.h. das, was vermeintlich sicher ist, wird unsicher. Der Boden, auf dem man steht – und damit auch die Gedanken, die man denkt – kommen in Bewegung oder geraten ins Wanken. Der zweite Aspekt, den ich spannend fand, war das Bild von Galilei als Zertrümmerer des Himmels. Das alte theologische Weltbild mit seinen an Kristallsphären aufgehängten Planeten wird zerschmettert, diese Splitter werden im Raum durch die Materialität des Spiegels aufgegriffen. Sie fliegen wie physikalische Teilchen durch die Luft.

Welche Qualität oder Farbe gibst Du der Inszenierung durch Dein Bühnenbild?

Beim Lesen erschien mir der Text durch seine hohe intellektuelle Dichte fast körperlos. Einerseits fand ich es spannend, den Spieler*innen und den Gedanken des Textes den grösstmöglichen Raum zu geben, andererseits wünsche ich mir, dass der Raum auch zu einer Art Mitspieler wird, der ganz konkrete Widerstände produziert, mit denen die Spieler*innen umgehen müssen, dass also den Argumenten und theoretischen Denkfiguren des Brecht'schen Textes eine sinnlich-räumlich Wirklichkeit entgegengesetzt wird.

Wir arbeiten stark prozessorientiert, d.h. die Inszenierung ist bis zum Schluss im Fluss: Inwiefern kann der Raum während des Probenprozesses noch auf die Inszenierung reagieren?

Über eine weite Strecke arbeiten wir mit der Leere des Raumes und einer Reihe von Bühnenelementen, die Bezug nehmen auf die (zweite) Uraufführung von Leben des Galilei in Kalifornien: Möbel, das Fernrohr, eine Armillarsphäre, der bekannte Brechtvorhang, usw. Diese skizzenhaften Bilder sind sehr offen und können gut auf die Inszenierung reagieren. Gleichzeitig entwickelt der Raum über den Abend hinweg eine installative Qualität, wird selbst sehr stark zum Bild. Ich stelle mir vor, und freue mich darauf, dass sich dann die Perspektive ändern wird: Die installative Ebene, die sehen wir auf der Probebühne noch gar nicht richtig, die kann man hier nur andeuten. Wir werden sie erst auf der Bühne erfahren.

Gibt es einen bestimmten Aspekt des Stücks, der Dir besonders wichtig ist?

Es gibt im Stück eine Reihe von Themen, die sehr spannend sind: Fortschrittsglaube und/ oder -feindlichkeit, die Verantwortung der Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft, usw. Mich interessiert aber auch die Frage: Wie weit ist man bereit zu gehen, ganz persönlich? Über welche Leichen geht Galilei als Mensch nicht nur der Gesellschaft gegenüber, sondern z.B. auch als Vater? Insgesamt freue ich mich sehr, dass es immer wieder Momente gibt, in denen die Brecht'schen Gedanken in Bewegung kommen, weil sie von einer Spieler*in an die andere weitergegeben werden, dass damit bestimmte Zuschreibungen den Spieler*innen gegenüber aufgehoben werden. Mir gefällt, dass wir den Gedanken-Monolithen aufbrechen. Oder besser noch: dass wir ihn zerfliessen lassen, zum Fliessen bringen…

Nicolas Stemann (Regie, Co-Intendant)

Wieso Leben des Galilei, wieso heute, 80 Jahre nach der Uraufführung?

Es gibt die intendantische Ebene, auf der man diese Frage beantworten kann: Es ist natürlich toll, dass das Stück an diesem Ort wirklich auf den Tag genau 80 Jahre vorher uraufgeführt wurde. Das nicht als Anlass zu nehmen, sich mit diesem Stück zu beschäftigen, wäre fahrlässig. Weil, und jetzt kommen wir zum ersten Teil der Frage: Es ein wirklich gutes Stück; ein Stück, das überdies auch heute noch relevant ist. Die Fragen, die gestellt werden, sind wichtig: Wie kommt Fortschritt in die Welt und wodurch wird er ausgebremst? Aber auch: Warum hat es wissenschaftlicher Erkenntnis, die die Menschheit weiterbringen könnte, so schwer, sich in der breiten Gesellschaft durchzusetzen? Welche Kräfte sind es, die das verhindern? Und welche Art von Kämpfen müssen da gekämpft werden? All das untersucht dieses Stück ziemlich genau und spezifisch. Das ist, wenn man sich zum Beispiel die Diskussion um Klimawandel anguckt, eines der wichtigsten Themen im Moment: Wie wird mit potenziellem Wissen umgegangen und warum?

Du hast immer schon so gearbeitet, dass Du die Bindung von Spieler*in und Figur in Frage gestellt hast. Wie entwickelst Du diese Arbeitsweise für Leben des Galilei weiter?

Formal interessieren mich an dem Stück zwei Aspekte: einerseits das Diskursive, andererseits aber auch das Konventionelle. Brecht zeigt sich in Leben des Galilei auch als konventioneller Autor eines well-made play und darin liegt eine Qualität. Entsprechend suchen wir eine Form, die einerseits etwas Konventionelles hat, im Sinne von Sinnlichkeit und psychologischen Situationen. Und auf der anderen Seite gibt es diese riesigen Themen: Leben des Galilei ist einfach ein sehr textlastiges Stück, d.h. es gibt sehr oft folgende Situation: Figur A steht mit Figur B im Raum und jede dieser Figuren hat Repliken, die ungefähr eine Seite oder länger sind. Für diese diskursiven Passagen schafft man eine gute Form unter anderem dadurch, dass man sie teilweise aus den Figuren und psychologischen Verankerungen löst. Dann kriegt die Sprache Eigenwert, dann kriegen die Gedanken einen Eigenwert. Aber es gibt noch eine andere Ebene, die eröffnet wird: Das Stück wird viel kollektiver, ganz real, d.h. auf einer schauspielerischen Ebene. Normalerweise hätte man bei so einem Stück einen Schauspieler, der Galilei spielt. Und dann gäbe es eine Gruppe von anderen Spieler*innen, die spielen alles andere. Da sind immer mal wieder interessante Figuren dabei, aber es wäre trotzdem eine klare Hierarchie. Die haben wir, so wie ich das sehe, nicht. Ich glaube, die Anteile der einzelnen Spieler*innen sind ziemlich gerecht verteilt. Jede*r hat Momente, die total interessant zu spielen sind und die er oder sie auch selber gestaltet. Und immer wieder gibt es Szenen, die sehr, sehr kollektiv sind. Eine zentrale Frage des Stücks ist folgende: Was ist eigentlich mit den Helden? Da gibt es diesen berühmten Satz: Unglücklich das Land, das keine Helden hat. Und die Antwort darauf ist: Nein, unglücklich das Land, das Helden nötig hat. Die Frage nach der Notwendigkeit von Helden – zeugen sie eigentlich davon, dass die Umstände eher gut sind oder eher schlecht? – diese Frage stellt also schon Brecht. Und sagt: Wenn die Umstände gut wären, dann bräuchten wir gar keine Held*innen. Er schreibt aber eine sehr heroische Figur und ist auch als Autor, trotz seiner kollektiven Arbeitsweisen, eine sehr heroische Figur. Wenn man sich heutzutage mit diesem Stück beschäftigt, dann ist es also, glaube ich, adäquat und wichtig, eine Form zu wählen, die viel mit Zusammenspiel zu tun hat und damit, dass manchmal Figuren zwischen einzelnen Spieler*innen entstehen und nicht nur durch das Ego einer einzelnen Schauspieler*in verkörpert werden.

Was für Herausforderungen ergeben sich in der Arbeit mit einem grösseren Ensemble, welche Chance besteht darin zugleich?

Viele der Menschen, mit denen ich arbeite, kenne ich aus der Arbeit und viele von ihnen kennen auch meine Arbeit. Erstaunlich ist trotzdem, dass diese Arbeit sich immer wieder wie neu anfühlt und auch oft dieselben Irritationen produziert. Ich glaube, das kommt daher, dass wir auch mit dem konventionellen Anteil einer Form arbeiten und diesen dann wieder brechen. Dieser Bruch ruft tatsächlich auch bei Schauspieler*innen, die meine Methodik schon seit 20 Jahren aus der gemeinsamen Arbeit kennen, immer wieder Irritationen hervor: Wenn man jetzt den Beginn einer Figur spielt, z.B. den Galileo der ersten zwei Szenen, aber nicht den Galileo der letzten zehn Szenen, dann fühlt sich das für eine Schauspieler*in erstmal komisch an. Das verstehe ich auch, denn beim Schauen ist es dasselbe. Aber mich interessiert diese Irritation. Da ist dann die Aufgabe beim Inszenieren, soweit einen Rahmen zu setzen, dass diese Setzungen nicht zu realen Verletzungen und einer realen Konkurrenz zwischen den Spieler*innen führen, sondern dass das Ensemble, trotz der grossen Unterschiedlichkeit, zu einer Gemeinsamkeit kommt, zum gemeinsamen Spiel. Ich glaube, das passiert darüber, dass man irgendwann in den Zustand kommt, gemeinsam um die Inszenierung zu ringen, so dass die einzelnen Spielerinnen nicht mehr nur mit sich und ihren Figuren beschäftigt sind, weil sie einfach für so viel mehr als nur für diese eine Figur zuständig sind.

Was sind für Dich zentrale Momente der Inszenierung?

Interessant sind natürlich immer die Momente, wo die einfache konventionelle Verabredung – eine Spielerin spielt eine Figur und ist mit einer Figur, die von einem anderen Spieler gespielt wird, in einem Dialog – sich verändert und gebrochen wird, entweder darüber, dass auf einmal zwei Spieler*innen für die Figur zuständig sind, dass man mitten in einer Szene einen Spieler auswechselt, die Figur aber dieselbe bleibt, usw. Oder wo Dinge auf einmal chorisch werden, wo auf einmal auch Spieler*innen in einer Szene mitreden, die eigentlich gar nicht vorkommen. Da gibt es viele Momente, die aufgehen.

Und es gibt immer wieder Momente, in denen sich das Stück plötzlich mit Aktualität auflädt. Das überrascht mich wirklich, weil wir ja nichts am Text ändern. Das passiert zum Beispiel in der vierten Szene, am Hof von Florenz, wo es darum geht, ob man einen Disput auf Lateinisch oder auf Italienisch führt, also in der Sprache, die alle verstehen. Da wird auf einmal um Sprache gerungen und man kommt gar nicht umhin, das Stück mit aktuellen Diskussionen um Gendersternchen oder diskriminierungsfreie Sprache in Verbindung zu bringen. Auf einmal geht es genau darum, und man merkt, wie umkämpft Sprache ist und wie viel Ressentiment nur darüber wachgerufen wird, dass jemand sagt: Lasst uns doch ausnahmsweise nicht auf Latein reden, sondern auf Italienisch. Das kann Brecht nicht gewusst haben, glaube ich. Ich glaube, er wusste nicht, dass sein Stück irgendwann in einem Umfeld rezipiert wird, das Politik so sehr über Sprachregelungen verhandelt. Und trotzdem hat er genau diese Szene geschrieben.

Alle Textbeiträge sind Originalbeiträge für dieses Programmheft.

Redaktion: Moritz Frischkorn
Fotografie: Philip Frowein

Spielzeit 2023/24
Intendanz: Benjamin von Blomberg / Nicolas Stemann

Offizielle Ausstatter des Schauspielhauses Zürich:
MAC Cosmetics, Optiker Zwicker, Ricola, Südhang Weine, Tarzan Swiss Streetfashion