Wegweisung wegen Sozialhilfebezugs

von Evin Yesilöz
erschienen am 24. Mai 2023

Wenn man den Begriff „Wut“ in der Schweizer Rechtssammlung sucht, findet man diesen nur als Tollwut im Zusammenhang mit Tieren. Den Menschen gibt das Schweizer Gesetz kein Recht darauf, wütend zu sein.

Ein Recht, das Menschen in der Schweiz aber zusteht, ist, bei Bedürftigkeit Sozialhilfe zu beziehen.

Das Recht auf Sozialhilfe ist eines unserer Verfassungsprinzipien und konkretisiert die Grundidee unseres Sozialstaates, nämlich „dass sich die Stärke des Volkes misst am Wohl der Schwachen“. Es steht Menschen mit und ohne Schweizer Pass zu – theoretisch.

Bei Menschen ohne Schweizer Pass kann nämlich ein Sozialhilfebezug gravierende Konsequenzen haben: Genau deswegen riskieren sie, aus der Schweiz weggewiesen werden. Es geht hier nicht um Sozialhilfebetrug, der einen obligatorischen Landesverweis nach sich zieht. Es handelt sich um die Wegweisung von Personen, die durch zahlreiche andere Unterstützungssysteme gefallen sind. Die ihren Anspruch auf Sozialhilfe wahrnehmen, und dafür bestraft werden. Ihr einziges Verbrechen: die Armut.

Folgende Urteile des Bundesgerichts sind noch keine sechs Monate alt:

A. wurde 1958 in Spanien geboren und arbeitete ab 1993 als Hilfsbauarbeiter in der Schweiz. Er war 41 Jahre alt, als seine Rückenleiden begannen. Er bezog zuerst eine IV-Rente, diese wurde aber nach acht Jahren eingestellt. Er war deshalb auf Sozialhilfe angewiesen und erhielt pro Monat rund Fr. 1'700.—. Im Jahr 2020 war er bereits 27 Jahre lang im Besitz einer Schweizer Niederlassungsbewilligung, als das kantonale Migrationsamt diese widerrief und seine Wegweisung aus der Schweiz anordnete. Erst das Bundesgericht hat ihm Recht gegeben, allerdings nur, weil er nicht verwarnt worden war und zum Zeitpunkt des Urteils bereits pensioniert war und damit nicht mehr Sozialhilfe, sondern eine AHV-Rente und Ergänzungsleistungen bezog (Urteil des Bundesgerichts 2C_60/2022 vom 27. Dezember 2022).

Anders sah das Bundesgericht den Fall von A.A., der Fatima Moumouni und Laurin Buser dazu bewog, das Stück „Ich chan es Zundhölzli azünde“ zu schreiben. A.A. wurde 1966 in der Demokratischen Republik Kongo geboren. Nachdem ihr Asylgesuch in der Schweiz 1995 abgewiesen wurde, reiste sie kurz darauf erneut in die Schweiz, weil sie von ihrem Partner, der in der Schweiz aufenthaltsberechtigt war, schwanger geworden war. Gemeinsam bekamen sie zwei Töchter. Im Jahr 1999 heirateten sie und der Vater ersuchte um Familiennachzug für seine Frau und Kinder. Das Gesuch wurde abgelehnt. Erst 2011, nach 16 Jahren in der Schweiz, bekam A.A. eine Aufenthaltsbewilligung. Ihre beiden Töchter waren 14 und 12 Jahre alt und hatten nie in einem anderen Land als der Schweiz gelebt, als sie zum ersten Mal eine Aufenthaltsbewilligung erhielten. A.A. arbeitete in niedrigbezahlten Teilzeitjobs und kümmerte sich um die jüngere Tochter, die eine kognitive Beeinträchtigung hat. 2015 wurde die Ehe zwischen A.A. und dem Vater ihrer Kinder geschieden. Nach der Scheidung war sie für sich und ihre Töchter ergänzend auf Sozialhilfe angewiesen: Insgesamt wurden sie mit ca. Fr. 2'000.— pro Monat unterstützt. 2021 wurde A.A. noch mitten in der Pandemie nach 25 Jahren in der Schweiz aus dem Land weggewiesen und damit von ihren Töchtern getrennt (Urteil des Bundesgerichts 2C_248/2022 vom 16. Dezember 2022).

Die gesetzliche Grundlage für den Widerruf von Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen und Wegweisungen aufgrund von Sozialhilfebezug findet sich im Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG). Freilich führt nicht jede staatliche Unterstützung zu einer Wegweisung. IV, oder wie im Fall vom ehemaligen Hilfsbauarbeiter A. AHV und Ergänzungsleistungen, fallen nicht unter Sozialhilfebezug. Nur „erheblicher und dauerhafter“ Sozialhilfebezug, der auch in Zukunft weiterbesteht, soll eine Wegweisung nach sich ziehen.

Die Folgen sind für eine Wohlstandsgesellschaft wie die Schweiz ein einziges Armutszeugnis: Angesichts der drohenden Wegweisung wegen Sozialhilfebezugs nehmen viele Personen ohne Schweizer Pass diese nicht in Anspruch, obwohl sie ein Recht darauf hätten. Stattdessen leben sie in finanziell prekärsten Bedingungen. Auch von der UNO wurde die Schweiz deswegen gerügt.

Anstatt diese paradoxe Situation für Personen ohne Schweizer Pass aufzuheben, wurde das Wohl der „Schwachen“ weiter untergraben. Seit dem 1. Juni 2019 können auch Personen, die über 15 Jahre im Besitz einer Niederlassungsbewilligung C waren, wegen Sozialhilfebezug weggewiesen werden.

Die parlamentarische Initiative Armut ist kein Verbrechen zielt nun auf eine Kursumkehr ab. Nach zehn Jahren legalem Aufenthalt in der Schweiz sollen Personen nicht mehr wegen Sozialhilfebezugs weggewiesen werden können. Im Sommer 2023 wird der Ständerat darüber entscheiden, ob ein Gesetzesentwurf ausgearbeitet wird. Der Nationalrat hat sich bereits dafür ausgesprochen – dies nachdem Nationalrat Andreas Glarner (SVP, Aargau) die Abstimmung wegen des knappen „Ja“ extra wiederholen liess. Die Befürworter:innen gewannen nochmals zwei Stimmen, die Gegner:innen verloren eine. Ob Andreas Glarner wohl wütend wurde?

Zu hoffen ist, dass auch im Ständerat die Stimmen der Befürworter:innen überwiegen. Dass die Schweiz sich auf ihre Verfassungswerte besinnt und dass sie allen Menschen, die bedürftig sind, den gleichen Zugang zu Sozialhilfe zugesteht.