«Erst kommt die Ebbe, dann kommt die Wut»

von Noa Dibbasey
erschienen am 06. Mai 2023

Kein einziges Mal. Seit ich den Auftrag für diesen Text gekriegt hab, war ich kein einziges Mal so richtig mega hässig. Mein Leben hat als Inspirationsquelle verfehlt. Dabei sind mir nicht-wütende Menschen eigentlich suspekt. Wie kann man nur? Wie kann ichnur? Es gibt schliesslich abertausende Gründe, wütend zu sein.

Hier eine kleine Auswahl:

Kapitalismus. Vor allem Spätkapitalismus. Der stinkende Gully vor meiner Wohnung, der mir den Morgen vermiest. Statistikvorlesungen. Der Klassiker: Ungerechtigkeit. Zucchetti. Rassismus. Hinterlistige Herzensbrecher. Milliardäre. Geschriebener Luzerner Dialekt. Früh Aufstehen. Das Patriarchat. Landesgrenzen. Verlieren. Pubertierende Grossmäuler. Wenn man meinen Namen auch beim siebten Mal falsch ausspricht. So richtig schlimme Kater. Ausschaffungen. Banken-Boni. Nicht geputzte Pfannen im Lavabo. CO2-spuckende Grosskonzerne. Menschenverachtende Konzerne. Menschenverachter. Konzerne. Meine Social Media-Sucht. Männer, die einem etwas hinterherrufen. Oder in der Nacht hinterherLAUFEN. Die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich.

Obwohl es noch viel, viel, VIEL mehr Gründe gibt, in der momentanen Weltlage hässig zu sein, sollte diese Liste bereits ausreichen, um mich auf die Palme zu bringen. Sie hätte einen grossen, heissen Feuerball in meiner Brust beschwören, mich etwas kaputtmachen lassen sollen.

Aber: Nichts da. Seelenruhig hab ich die Liste runtergetippt. Einige Punkte haben mir Freund:innen gesteckt –gelacht haben wir, als wir uns darüber ausgetauscht haben. Dieses «ich platze fast vor Wut»-Gefühl mochte sich in mir nicht breitmachen. Geistig bereits ausgecheckt, die Wut-Hormone fliessen anscheinend nicht mehr durch mein Blut. Angst, Freude, Scham, Trauer –all das fühl ich noch. Aber Wut? Ist meinem Körper zu anstrengend geworden. Der Feuerball ist erloschen.

Das bisschen Wut-Glut, das nun noch vor sich herglimmert, richtet sich wenn dann gegen mich selbst. Wie kann ich nur? Wieso bin ich nicht mega verdammt hässig auf all diese Misstände? Es istja nicht so, dass ich kein Herz oder fehlende Empathie hätte. Ich bin nicht desinteressiert. Ich laufe an Demos mit. Aus Solidarität und aus Überzeugung. Aber nicht aus Wut. Ich weine über Anschläge an Minderheiten. Aus Verzweiflung und Trauer. Aber nichtaus Wut. Dieser Berge-versetzender, Revolution-startender, irgendwas-anzündender Zorn, der bleibt aus.

Dabei wird überall propagiert, dass ich genau den fühlen sollte. Scrolle ich durch meine Timeline, begegnet mir erst ein Aktivismus-Aufruf: «Nutzt eure Wut gegen die Banken*!» Als nächstes erzürnt sich ein Meme-Account über alternative Männer, die Schnauz und ein Black Lives Matter-Tishi tragen, Frauen aber nicht respektieren. Die SVP wettert gegen Ausländer, nichts neues, aber trotzdem ziemlich hässig.Wechsle ich zu Twitter, wird weiter digital rumgebrüllt. Alle haben recht, so denken sie zumindest, vor allem sind sie aber alle wütend.

Mir scheint, als hätte sich das gesamte Internet ein unprofessionelles «Marketing 101»-Youtubevideo reingezogen, in dem ein mittelalter Dude mit schlecht sitzendem Jacket das Geheimnis zu erfolgreicher Überzeugung lüftet: «Sprechen Sie die Emotionen der Konsumenten an –am besten die Wut. So wickeln sie die Leute um den Finger!» Dass einem die Welt mittels eines Smartphonescreens im minutentakt eine weitere schlechte, normalerweise zur weissgluttreibende Nachricht an den Kopf wirft, macht die Sache nicht besser.

Mein Unterbewusstsein muss dagegen rebelliert haben. Ich schätze nach dem 1736sten Wutpost und beschissener News beschloss mein Körper, einfach nicht mehr wütend zu werden. Sich dem Leitsatz meiner Generation anzuschliessen: «It is what it is.» Meine seit Monaten im Minus schwingenden Energiereserven konnten es sich nicht mehr erlauben, hässig zu werden. Die Welt geht ja eh vor die Hunde.

Das macht Angst –diese Emotion fühle ich mit Müh und Krampf ja noch. Entwickelt sich meine Wut-Flaute so weiter, verfalle ich früher oder später, so meine Prognose, zu komplette Lethargie. Dann fühl ich gar nichts mehr. Die Wut macht den Anfang. Die weitere Palette an Emotionen wird folgen.

Umso dankbarer bin ich um die Menschen, deren Körper noch nicht mit «ENOUGH!!!» auf diese ständige Wut-Berieselung geantwortet haben. Die Menschen, die aus der Wut Energie schöpfen können, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Für die «it is not, what it is.» Ich bin auch dankbar für alle Menschen, die es ohne Wut schaffen, zu kämpfen. Zu diskutieren. Zu Welt verbessern.

Das ich gerade beides nicht hinkriege, mag an fehlender Kraft, Ohnmacht oder dem mittelalten Dude im schlecht sitzenden Jacket liegen. Ich brauch Ferien, an der Sonne. Ohne Handy, ohne Wutposts und vor allem ohne Twitter. Den ganzen Tag ins Meer schauen, den Wellen beim kommen und gehen zuschauen. Sie kennen das Sprichwort: Erst kommt die Ebbe, dann kommt die Wut.

*beliebig austauschbar durch andere gruselige Institutionen