Ohne Geländer

von Kristin T. Schnider
erschienen am 28. Januar 2020

Ein Erfahrungsbericht zur Premiere von Composition I

Auf der Bühne zwei Treppen ins Nichts. Ohne Geländer. Solide Stufen, schwarz, simpel, elegant. Unter ihnen: nichts, sie wachsen aus dem schwarzglänzenden Geviert, das Bühne ist.

Noch bevor alle ihre Plätze eingenommen haben, sitzen Performer auf diesen Stufen. Einer, zwei, es werden mehr. Alle tragen dieselben grauen Anzüge.

Auf dem Weg zum Theater, die Strassenlampen werfen sanft oranges Licht auf den Boden, gehe ich an Polizisten in schwarzer Montur vorbei. Laute Rufe sind zu hören, dumpfe Schüsse knallen. Ich blicke in die Richtung des Lärms: ein Pulk schwarzer Gestalten nähert sich. Nebel steigt über ihnen auf. Die Slogans, die sie skandieren, verstehe ich nicht. Einzelne Worte nur. «Brecht die Macht…» Kenne ich das? Aus dem Repertoire der jährlichen Anti-WEF-Proteste? Ich überquere mit ruhigen Schritten den grossen, rechteckigen Platz vor mir, gehe hinüber zum Kasernenareal, zur Aufführung in einem ehemaligen Zeughaus. Früher ein Haus mit Zeug drin, also Waffen. Dafür wurde es errichtet, als Arsenal, Manifestation der Macht. Jetzt ist in ihm Kultur. Eine andere.

Die Performer, noch ist Licht im Zuschauerraum, sind in Bewegung. Sie queren gemessenen Schrittes den Raum zwischen den beiden Treppen. Steigen hoch, setzen sich, stehen auf, steigen hinab, gehen hinüber zur anderen Treppe, steigen hoch. Gehen eng aneinander vorbei auf den Stufen. Setzen sich. Bleiben stehen. Drehen sich um. Gehen hinunter. Wieder quer. Wieder hinauf. Wieder hinunter.

Ich suche ein Muster. Verfolge die Gestalten, sind die Anzüge wirklich alle genau gleich? Warum tragen zwei Spieler Turnschuhe (grau), derweil die anderen barfuss sind? Does it matter?

Ich lege das Beckmesser weg. Schaue hin.

Und so perlen die Performer einfach auf und ab und kreuz und quer vor mir: Sechs Menschen in Grau: eine einzige Bewegung. Stumm.

Die Performance, heisst es, sei inspiriert von James Baldwins und Fred Motens Texten. Das Programmheft hingegen erklärt, dass Motens Gedicht «come on, get it!» Basis für das «fugenartige Zusammenspiel von Bewegung, Klang und Sprache» sei. (Das Licht. Das Licht haben sie vergessen.) Ihn kannte ich nicht. Baldwin, «Der Fremde im Dorf» – ob Harlem, Paris, Montgomery, Istanbul oder Leukerbad – ist mir vertrauter Begleiter durch meine schneeweissen Jahre in der Schweiz.

Licht aus. Darkness. Blackness. Licht an.

Meine Augen folgen den Tanzenden. Hin. Her. Kreuz und quer. Musik.

Sie haben die Stufen verlassen, rennen, schreiten, drehen, winden sich, schleifen einander über den Boden, dort wirbelt ein Derwisch, ein anderer steht still unter dem Traktorstrahl eines Scheinwerfers, wartet… Ich warte auf Worte.

Sie kamen. Englisch. Deutsch. Nebeneinander, übereinander, hintereinander, ineinander. Sie gingen. Kamen wieder. Die Stimme aus dem Off, ich verstand sie nicht. Einzelne Worte nur. Earth is water. This is our shit. This is all it is. Kenne ich das? Aus einem Text von Baldwin? Eine Anspielung?

Ich verstehe nicht. I don’t get it.

Does it matter?

Come on…

Besser, sich rühren zu lassen.

Ich fliehe aus meinem Kopf in ein waches Vergessen, lasse mich fallen, mitnehmen, hinein in die Fuge, hin zu den Tanzenden, in die Klänge, Bewegungen, Windungen, Verzerrungen, tauche ein, liege im blauen Licht unter Wasser, lasse mich schleifen, tanze mit von Bild zu Bild, und einmal, einmal prasseln vom Theaterhimmel durch oranges Licht und wohlriechende Nebelschwaden Äpfel zu Boden.

Wundersam zerdehnt sich die Zeit, ich weiss, das Ende kommt, aber nicht, bevor «the fat lady sings». Und da kommt er unter einer der Treppen hervor, der Gesang, tritt ins Geviert als Lied, das anschwillt, bis es als reiner Klang den Raum durchzittert, durchschreit und durchschreitet und alles mitnimmt in einer Bewegung: die Körper, das Licht, die Musik, die Worte.

Ende. Darkness. Blackness.

Licht: blinzelnd sehe ich einen Moment lang nur die Zuschauer*innen. In mir stehen die Treppen im Dunkeln, die Stufen ohne Geländer, so wie ich mir mein Denken eigentlich wünsche.