Der Regen tanzt im Strobo-Licht

von Julius Fintelmann
erschienen am 26. Januar 2020

Ein Erfahrungsbericht zur Premiere von Der Mensch erscheint im Holozän

Das Mädchen, deren Stimme gerade das Publikum im Foyer begrüsst, steht neben mir und meiner Begleitung. Sie hat das Ende der Erzählung, um die es heute Abend geht, eingesprochen und ist aufgeregt, aber erfüllt von Vorfreude. Ein wenig stolz erzählt sie, dass das ihre Stimme ist, die da tönt. Sie wird aber nicht das einzige Kind bleiben heute Abend, sagt sie. Ich frage mich: Kinder? Hier in der Alten-Mann-Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän aus dem Spätwerk von Max Frisch?

Die Türen zum Saal gehen auf. Karin Pfammatter und Maximilian Reichert cruisen in zwei elektrisch betriebenen Rollstühlen minutenlang über die leere und schwarze Bühne. Dann geht der Vorhang zu und Regen rauscht siebenmal in allen verschiedenen Variationen und Farben darüber, während sich Textzeilen über den welligen Untergrund des Stoffs schlängeln.

Der Vorhang ist wieder oben. Eine Schaumstoff-Moräne wird von den beiden, hier gekleidet in Tauchanzügen, in schwarze Kunststoff-Bänder eingewickelt – eine neue Schicht in den Zeitaltern der Erde, das Anthropozän?

Nach dem nächsten Fall des Vorhangs wird ein Krankenbett hineingebracht, worauf die Suhrkamp-Ausgabe der Max Frisch Erzählung liegt. Mit einer Fernbedienung in der Hand und dem Folk-Hit Everybody talkin‘ von Harry Nilsson, wird das verstellbare Bett zum Tanzen gebracht: Erst der Kopf, dann die Füsse und schliesslich das ganze Bett.

Die Bilder und die ständig wechselnden Gegenstände hangeln so von Szene zu Szene. Alle diese Gadgets bekommen ihren Platz und dürfen sich Zeit nehmen: Beispielsweise der nur einmal eingesetzte Nebel, der als nächstes kommt und minutenlang wabern darf. Oder der Dinosaurier, der auf der Hinterbühne erscheint – «wie in Jurassic Park», flüstert ein Sitznachbar hinter mir.

Auch ganz stark: Die Windmaschine, die den Beiden auf der Bühne ins Gesicht bläst, während sie die Texte von Frisch dagegen anschreien und zu dem reduzieren, was sie tatsächlich sind: Satzfetzen, sinnlos und gegen die Leere gerichtet. Jede und jeder, die oder der das Glück (oder Pech) hatte, diese Erzählung im Deutschunterricht zu behandeln – so wie ich erst kürzlich – wird sich endlich verstanden fühlen.

Doch es bleibt nicht bei einem Geschehen, das nur auf der Bühne stattfindet. Wie der Nebel, der ins Publikum zieht, wird mir irgendwann kalt – 4D-Erfahrung im Theater.

Und dann kommen sie: Ein Kreischen im Flur und sechs Kinder stürmen die Bühne. Sie bekommen von Pfadfinder-Leiter Maximilian den Auftrag, von einem Tisch auf der einen Seite zu dem anderen auf der anderen Seite einen Pfad zu bauen, ohne dabei den Boden zu berühren. Unter grossem Gejohle und Anfeuern vom Publikum wird also aus der Wanderung von Herr Geiser durchs Tessin die 2017 auf Social Media getrendete Challenge #TheFloorIsLava. Zu der gibt es beispielsweise diesen funny clip.

Nun fängt es an zu regnen. Also echter Regen jetzt. Nach und nach schaltet sich das Strobo-Licht dazu und der Regen wird immer mehr zu stehenden Bildern. Der Sound von Ludwig Abrahams, ein Mix zwischen Techno und Trance, wird immer lauter. Irgendwann passen sich die zuckenden Tropfen an und es scheint, als würden sie mit dem Beat tanzen. Einbildung, hervorgerufen durch mein Gefesselt-sein an das Geschehen? Vielleicht. Vielleicht aber eher ein Beweis für die technische Perfektion, die in dieser Arbeit steckt.

Wie überlegt und klug diese Elemente eingesetzt werden, zeigt sich auch darin, wie der Rave endet. Es steigert sich eben nicht unendlich lang, sondern wird langsam wieder zurückgefahren. Die nächste Szene, ein langer Dialog auf einem Baumstamm über die Natur und die Rolle des Menschen darin, ist ruhig und dennoch spannungsvoll.

Gegen Ende werden alle benutzten Elemente – Moräne, E-Rollstühle, Windmaschine, Krankenbett, Elemente des Spiels der Kinder, Hologramm-Maschine und Dino (der nun als Museumsstück tot auf einem Tisch liegt) – hinten auf der Bühne langsam abgesenkt. Eine silbrig glänzende Plane wird darüber gespannt und bedeckt dieses Archiv der Dinge. Die Plane stürzt irgendwann herab und der Felssturz beendet das Stück.

Fast. Nach dem Applaus darf nun der eigentliche Autor des soeben beerdigten Werks sprechen – Max Frischs mit der Schweiz abrechnenden Rede zur Preisverleihung des Grossen Schillerpreises 1973 wird an den roten Vorhang gebeamt. Den höchstproblematischen Begriff «Heimat» definiert er da neu: Das Schauspielhaus als Heimat, sagt er.

Das Mädchen vom Anfang fragt uns hinterher auf der Premierenparty mit leuchtenden Augen, was wir von dem Stück halten. Ich reagiere und meine, dass das Schauspielhaus so durchaus auch meine Heimat werden darf.