Zehn Autor*innen,
zehn Gespräche -
Lukas Bärfuss über Reigen

Reigen, die neue Inszenierung von Yana Ross, wurde bei den diesjährigen Salzbuger Festspielen im Juli uraufgeführt. Für die Inszenierung treiben zehn international renommierte Autor*innen den historischen Stoff von Arthur Schnitzler ins Heute: Lydia Haider, Sofi Oksanen, Leïla Slimani, Sharon Dodua Otoo, Leif Randt, Mikhail Durnenkov, Hengameh Yaghoobifarah, Kata Wéber, Jonas Hassen Khemiri und Lukas Bärfuss haben je eine der zehn Szenen neu geschrieben. Im Rahmen der Premiere in Österreich hat Leila Vidal-Sephiha Gespräche mit den zehn Autor*innen geführt, die wir nun nach und nach und in Originalsprache im Schauspielhaus Journal publizieren. Im untenstehenden Gespräch plädiert Lukas Bärfuss für die politische Kraft des Theaters und gibt Einblick in seine enge Zusammenarbeit mit Yana Ross. 


von Leila Vidal-Sephiha
erschienen am 11. Oktober 2022

Leila Vidal-Sephiha: Welche Beziehung hast du zu Arthur Schnitzler und seinem Werk?

Lukas Bärfuss: Welche, bin ich mir gar nicht so sicher, aber eine alte tatsächlich. Ich habe mich früh an Schnitzler abgearbeitet und habe auch ganz am Anfang einen «Reigen» geschrieben. Vier Bilder der Liebe hiess das Stück und es hat die gleiche Form, auf die auch Schnitzler setzte. Was mich als Dramatiker immer interessiert hat, ist das Unökonomische daran. Es sind zehn Szenen, zehn Schauspieler*innen, aber jede*r hat nur zwei Auftritte. Das hat etwas total Verschwenderisches. Wir denken heute — ob wir das wollen oder nicht — immer in ökonomischen Kategorien. Da ist Schnitzler sehr erfrischend, der hat sich überhaupt nicht darum gekümmert. Ich erinnere mich auch, dass es in der 4. Sinfonie von Mahler ganz am Schluss eine Orgelsequenz gibt, aber nur für zehn Takte. Ich war mal in der Philharmonie in Hamburg und da sass ein Mensch zweieinhalb Stunden an seiner Orgel und hat auf seinen Auftritt gewartet. Ich glaube, dass dieses Verschwenderische heilsam ist. Was mich auch immer sehr interessiert hat — gerade am Reigen —, ist, dass Schnitzer das Stück 20 Jahre vor der Uraufführung geschrieben hat; und trotzdem ist es ein Skandal geworden. Ich frage mich, was ich heute für ein Stück schreiben müsste, das in 20 Jahren noch ein Skandal sein könnte. Oder ist es genau dieses Anachronistische, das zum Skandal wurde? Dass eine Gesellschaft mit etwas konfrontiert wird, dass sie ja eigentlich schon überwunden hatte. Der grosse Epochenwandel war schon vorbei und dann kommt dieses Stück, welches alle auf eine Existenz zurückwirft, die man eigentlich überwunden zu haben glaubte. Welches Stück aus dem Jahr 2002 würde heute noch einen Skandal auslösen?

Leila Vidal-Sephiha: Wie war dieses Konstrukt der zehn Szenen, von denen du nur eine selbst schreiben konntest für dich? Insbesondere, da du nicht wie alle anderen die Szene davor geschrieben hattest, sondern erst im Verlauf des Probenprozesses?

Lukas Bärfuss: Mich hat die Anlage interessiert, die europäischen Autor*innen, die völlig verschiedene Perspektiven haben auf dieses urösterreichische Faktotum. Eine französische Autorin, eine finnische Autorin, ein russischer Autor. Das hat mich interessiert, das Zusammenspiel mit allen anderen. Und die Zusammenarbeit mit Yana Ross, die eine Theaterkonzeption hat, mit der ich nicht so vertraut war und von der ich viel lernen konnte. Im Gegensatz zu meinen Kolleg*innen hatte ich das Privileg, die Texte, die geschrieben wurden, bereits zu kennen. Ich habe dann viele Gespräche mit Yana geführt, nicht so sehr über das konkrete Stück, sondern über den sozialen Rahmen, in dem es stattfindet. Zusätzlich waren wir dann auch mit einer anderen, nicht theatralen Sache beschäftigt, sondern mit einer wirtschaftlichen und sozioökonomischen. Das ist etwas, das mich sehr beschäftigt hat: eine Resonanz zu finden und sich zu fragen, wo wir überhaupt sind, mit welchem Geld und in welcher Gesellschaft wir das machen. An Brechts Lehrtheater habe ich immer sehr gemocht, dass es nicht so sehr darum geht, das Publikum zu belehren, sondern eher die Leute, die das Theater machen, das Ensemble und die Autor*innen. In dieser Hinsicht war diese Produktion nun äusserst lehrreich, manchmal schmerzhaft lehrreich.

Leila Vidal-Sephiha: In welchem Sinne?

Lukas Bärfuss: Wenn man eine Sache wie das toxische Sponsoring zur Sprache bringt, darf man nicht damit rechnen nur auf Wohlwollen zu stossen. Wie ist es möglich, eine konstruktive «Belehrung» zu vollbringen, in einer Sache, die so vergiftet und bösartig ist? Das war sehr kostbar für mich und ich bin sehr glücklich mit den Resultaten, die daraus entstanden sind.

Leila Vidal-Sephiha: Also war es ein Ereignis, dass du mit Yana gemeinsam konstruiert hast, welches nicht nur künstlerischer, sondern auch politischer Natur war. Kannst du etwas zu diesem Ereignis, auf diese neue Art Theater zu denken, die ihr bei den Salzburger Festspielen zum Ausdruck gebracht habt, eingehen?

Lukas Bärfuss: Klar, das Theater hat immer drei Leben: Vorher, Mittendrin und Danach. Und alle drei Aspekte sind wichtig, es ist aber überhaupt nicht so, als ob wir da irgendetwas geplant hätten. Es bleibt auch immer einfach ein Versuch, seine Kunst zu machen. Diese Sehnsucht kennen wir alle, dass wir uns abnabeln können von allen Widrigkeiten der Welt, in der wir leben und uns in unserer Kunst einkitschen können. Ich glaube, dass wir dieses Privileg heute nicht mehr haben, wir haben sehr viel mit der Welt, in der wir leben, zu tun. Ich habe den Eindruck, dass sich viele in ihr Häuschen zurückziehen, wenn es darum geht, wirklich etwas zu ändern, und einfach hoffen, dass das Gewitter vorbeizieht. Das ist keine Möglichkeit, finde ich. Als wir das mit Solway erfuhren, war es eigentlich alternativlos. Schweigen war keine Möglichkeit.

Leila Vidal-Sephiha: Wie war der Schreibprozess vom ersten Entwurf zum Text, der nun auf der Bühne ist, gerade auch in Kollaboration mit Regie und Dramaturgie?

Lukas Bärfuss: Wenn man mit Yana Ross auf Reisen geht, hat man kein Privatgepäck. Alles wird geteilt, auch das Necessaire. Das hat etwas Kollektives. Das wusste ich natürlich. Ich habe in all den Jahren, in denen ich fürs Theater schreibe, gemerkt, dass es nicht zentral um die Texte geht, sondern um etwas Anderes. Wenn man dann als Autor*in mit einer Eitelkeit reingeht, ist das falsch. Dann muss man Bücher schreiben — das mache ich ja auch —, dort ist man Herrscher über sein Universum. Aber Theater ist etwas Gemeinschaftliches, man stellt dir das zur Verfügung und schaut dann gemeinsam, welche Rollen es in diesem Prozess zu besetzen gibt. Das ist Verhandlungssache und geht nur mit grossem Vertrauen. Und das hat hier hervorragend funktioniert.

Leila Vidal-Sephiha: Was ist für dich die Kraft des Theaters als Kunstform?

Lukas Bärfuss: Dass man hingehen muss, dass es so fehlerhaft ist und dass es einem manchmal wehtut auf diesen unbequemen Sitzen. Und dass man diese Zeit verbringt und seine Sterblichkeit teilt. Man kann nicht zurückspulen, man hat sich diesem Moment kollektiv auszusetzen. Und alle, die am Theater arbeiten, schenken ihre Lebenszeit und ihre Lebenskraft. Es braucht alle und jeden. Sobald jemand auf der Probe fehlt, wird es einfach nicht stattfinden. Diese Erfahrung ist in einer solch isolierten Zeit, wo sich viele abkapseln, unglaublich wichtig. Theater ist auch sehr gefährdet. Wir sehen nun nach Corona, dass das Theater Menschen braucht. Und zwar überall und an allen Positionen. Wenn das nicht möglich ist, weil die Präsenz nicht möglich ist, wird es kompliziert. Gerade jetzt spielt das Theater eine wichtige Rolle.

Leila Vidal-Sephiha: Spielt das Theater für dich auch eine politische Rolle?

Lukas Bärfuss: Unbedingt. Das Theater hat eine Scharnierfunktion zwischen den existenziellen Fragen des Lebens. Und ist bereits durch die Versammlung von Menschen politisch. Wenn man einmal erlebt hat, was es bedeutet, gegenüber einer Masse im Saal zu sein, dann weiss man, was es bedeutet, wenn sich Menschen zusammenfinden. Wenn sich alle zusammenfinden, nennt man das eine Revolution. In dieser Hinsicht hat das Theater auch etwas Gefährliches. Wenn sich ein paar Menschen zum Kunstgenuss versammeln, ist es nicht immer harmlos, womit wir wieder bei Schnitzler wären. Ärger über Theater, das man nicht mag, ist häufig Wut. Das ist nicht wie im Kino oder bei Netflix. Theater geht an die Nieren.