Ein Jahr, zehn Monate und 28 Tage

Astro, Ella, Damn, Nabil und Mari sind eine Gang, eine Bubble, eine Band. Sie haben gerade ihren ersten Song produziert und, safe, sie schwören: Der wird eine Bombe. Leider schlägt zuerst eine andere Bombe ein: ein Fall von rassistischer Polizeigewalt in ihrer nächsten Nähe. Die Sache lässt keine*n der fünf kalt, ihre Welt aber wird kälter. Wie sie alle mit dem Thema Rassismus umgehen, spaltet die Freund*innen. Der Kreativschaffende Joshua Amissah hat sich Bullestress, von Laurin Buser und Fatima Moumouni geschrieben und Suna Gürler inszeniert, angeschaut und seinen Blick auf die Inszenierung im folgenden Bericht festgehalten, in dem es genauso um eigene Erfahrungen wie grössere Diskurse geht. Der Text wurde ursprünglich am 22. März 2022 veröffentlicht, genau ein Jahr, zehn Monate und 28 Tage nach dem Mord an George Floyd. Er bleibt ein Plädoyer für den Zusammenhalt. 


von Joshua Amissah
erschienen am 27. März 2023

Genau ein Jahr, zehn Monate und 28 Tage ist es her seitdem «I can’t breathe» mit dem tragischen Tod von George Floyd zum internationalen Schlachtruf mutierte. Das Echo der medialen und gelebten Aufmerksamkeit demgegenüber scheint bis heute noch spürbar, doch rückt sie für immer mehr Menschen in weite Ferne. Nicht für mich. Auch nicht für meine Brüder und Schwestern. Was die Konfrontation mit rassistisch motivierter Polizeigewalt nicht nur für uns, sondern für uns alle bedeutet, soll das neue Stück von Fatima Moumouni und Laurin Buser mit einer aktivistischen Coming of Age-Story made und based in Switzerland aufzeigen. Wer sind wir? Wer sind sie? Ich bin gespannt.

Eiseskälte zieht sich durch den urban gelegenen Vorplatz der Schiffbaubox vom Schauspielhaus Zürich und einige wenige Seelen stehen, am Glimmstängel ziehend, davor. «Auch interessant für Menschen ab 14» hatte ich irgendwo gelesen. Mein 14-jähriges Ich hätte wohl nur davon träumen können, hier zu sein. Nachdem das generationsübergreifende Publikum die ausverkauften Sitzplätze des Abends eingenommen hat, begegnen uns fünf Protagonist*innen hinter einer übergrossen Pyramidenschaumstoffplatte als Bühnenelement. «Wir sind 'ne Crew. Wir sind 'ne Crew. Wir sind 'ne Crew» hallt es durch den ganzen Saal und lässt uns in die jungen Schicksale von Astro, Ella, Damn, Nabil und Mari eintauchen. Langsam, aber laut.

Leicht nervös und angespannt freue ich mich auf das, was kommt. Auch wenn ich bereits überwiegend positive Rückmeldungen zu dem Stück bekommen habe, so muss meine eigene Haltung als Schweizer of Colour stets immer wieder aufs Neue verhandelt werden. Zu präsent sind die missglückten antirassistischen Positionierungsversuche von Medienhäusern, Institutionen und Kulturhäusern der letzten Monate.

Irgendwo zwischen Selbstdarstellung, familiärem Zusammenhalt und musikalischen Klängen aus Hip Hop und Rap erwartet mich auf dieser Bühne ein ambitionierter Freundeskreis, der sich nicht scheut mit einer jugendlichen Naivität über die eigene emotionale Verletzlichkeit zu sprechen. Es ist genau diese Art der jugendlichen Naivität, die einen humoristischen Diskurs über die eigenen Rassismuserfahrungen erlaubt. Ein feiner Grat zwischen Realität und Klischee, der gekonnt und überzeugend von den Jungschauspieler*innen gemeistert wird. Weit weg von intellektuellen Abhandlungen erzählt uns Nabil lachend von seinen beiden Schokoladenseiten. Es ist der erste richtige Witz, der fällt und die ältere Dame neben mir, wirft mir einen verstohlenen Blick zu. Fast so, als ob sie nicht wisse, ob Lachen erlaubt sei. Auch ich kann ihr diese Frage nicht beantworten und schmunzle nur leicht unter meiner Maske.

Als der Bruder der Protagonistin Ella am Zürcher Hauptbahnhof zum Opfer von rassistisch motivierter Polizeigewalt wird, wendet sich die Stimmung. Spannungen entstehen und der vermeintliche Safe Space steht plötzlich unter Strom. Verzweiflung, Frustration und Wut dominieren fortan die Gefühlswelt jeder einzelnen Person auf dieser Bühne. Mit den schreienden Worten: «Seid ihr bereit?» wird die vierte Wand gebrochen und auch die Zuschauerschaft wird unvorbereitet ins Geschehen miteinbezogen. Wer es sich bis anhin auf den Zuschauersitzen der Schiffbaubox gemütlich gemacht hat, wird spätestens jetzt mit dem Ernst der Lage konfrontiert. Das Stück Bullestress lebt genau von dieser einseitigen Konfrontation. Wir werden dazu gezwungen einer komplexen und langwierigen Diskussion zuzuhören. Teilnahme? Unmöglich. Aus Diskussionen werden Streitgespräche über Privilegien, den White Savior Complex, Racial Profiling und vieles mehr, die auf brutale Art und Weise immer wieder zur emotionalen Eskalation führen. Für die im Fokus stehende Ella, aber letztendlich für alle von uns.

In Umbauszenen erscheinen auf einer übergeordneten Ebene vermehrt Textfragmente aus Telefonaten, die sich mit dem inhaltlichen Schwerpunkt des Stückes auseinandersetzen. «Rassismus findet in den Köpfen statt, aber in der Schweiz redet man nicht darüber, was im Kopf so läuft.» Denken wir hier und jetzt alle darüber nach, aber teilen es nicht? Was ragt vom heutigen Abend in die Welt hinaus? Wird es Wellen schlagen? Oder umgarnen wir uns auch weiterhin im eigenen privilegierten Dasein währendem Bullestress einfach als Kulturspektakel konsumiert wird?

Getragen von einer klugen Inszenierung äussert sich Bullestress als lehrreiche Achterbahnfahrt, welche die Vielschichtigkeit von Diskriminierungserfahrungen in der Schweiz auf den Punkt bringt. Die oftmals plakativ verwendete Dichotomie von Schwarz und weiss wird mit den ausgeklügelten Charakterisierungen der Jungschauspieler*innen aufgebrochen und realitätsnah neu gedacht. Intersektionalität wird hier gross geschrieben. Auch das Konglomerat von problematischen Aussagen wie: «Geh doch zurück wo du herkommst», «Bist du aus dem Dschungel?», und «Warst du schon oft in Afrika?», zieht sich im Sinne von konstruktiven Auseinandersetzungen geradlinig durch den ganzen Abend. Die Coming of Age-Story überzeugt nicht nur mit einer angemessenen Repräsentation auf und hinter der Bühne, sondern zeigt auch die Vielschichtigkeit verschiedener Lebensrealitäten von BPoC‘s in der Schweiz und darüber hinaus. Von arm bis reich. Von gebildet bis ungebildet. Von aktivistisch bis apathisch. Dabei bleibt vor allem ein lyrisches Fragment der Band in Erinnerung: «Wir sind 'ne Crew. Wir sind 'ne Crew. Wir sind 'ne Crew.» Gemeinsam können wir Veränderung vorantreiben, aber dafür müssen wir zusammenhalten.