Aber es bleibt keine Zeile Wagner übrig

Die Autorin Seraina Kobler hat sich Der Ring des Nibelungen in der Inszenierung von Christopher Rüping angesehen und für das Schauspielhaus Journal darüber geschrieben. Entstanden ist ein Text, der unter anderem, bevor er fragend endet, über Erinnerungen an die Heimatstadt und den Zusammenhang von Wagner und dem Club sinniert. 


von Seraina Kobler
erschienen am 15. März 2022

Hast du Lust, etwas über den Der Ring des Nibelungen zu schreiben? Der Ring des Nibelungen, zog auch in leuchtenden Lettern über die Oper meiner Heimatstadt, wo ich rauchend auf die Strassenbahn wartete. Ich weiss nicht mehr genau, wohin ich gegangen bin. Es war an einem Wochenende, wahrscheinlich an irgendeine Drum’n’Bass-Party oder an ein Punk-Konzert. Nie wäre ich damals auf die Idee gekommen, reinzugehen.

Nicht nur, weil in den Regalen in meinem Elternhaus eher Jerry-Cotton und Agatha Christie als Operntexte zu finden waren, nicht, weil ich samstags lieber in verrauchten Kellern als in rotsamtenen Opernsesseln versunken bin, vielleicht ein bisschen auch, aber bestimmt auch aus dem Grund, den der Schriftsteller Necati Öziri, in seinem Vorwort zur Zürcher Theateradaption des Rings anführt: «Du musst im Prinzip schon vorher wissen, worum es geht. Entweder weil du ständig hier bist oder weil du Musikwissenschaften studiert hast oder dein Vater dich als Kind mitgenommen oder weil deine Mutter es dir vorgelesen hat, whatever… Aber nur so kannst du part oft the game Mythos sein. Es ist wie ein Codewort an der Tür des Clubs, das du brauchst um reinzukommen. Nur du kriegst es leider erst, wenn du schon ein paar Mal drin warst.» Trotzdem hat er sich am Ende entschlossen, bei der Produktion von Regisseur Christopher Rüping mitzuwirken. Unter einer einzigen Bedingung: «ABER ES BLEIBT KEINE EINZIGE ZEILE WAGNER DRIN.»

Und so treffen sie dann einige Jahre später doch zusammen: Wagner und der Club. Denn ja, Ring des Nibelungen, da wollte ich gerne etwas dazu schreiben. Ich ging hin und hatte Riesenschiss vor den fast vier Stunden Frontalperformance, was sich als total unbegründet herausstellte. Das lag einerseits an der starken textlichen Vorlage des Stückes, andererseits an den Menschen auf der Bühne, der Genauigkeit der Figuren und am fluiden Format, das mit elektronischer Musik und dem Licht im Saal, mit hell und dunkel, das Frontale bricht.

Darüber wollte ich dann auch eigentlich schreiben: Über Götter, die vom Himmel geholt und zu zerrütteten, zerbrechlichen, zarten Menschen werden. Über Riesen, die fragen: Wo sind die Tage unserer Kindheit, die wir nicht spielten? Wo die Tage in den kühlen Bergen, wenn es unten im Dorf zu heiss war? Und über Erda, die «zur Afterhour der Geschichte bittet, bevor rote Regentropfen herunterfallen und der Wind stechend heiss und die Sonne vom Himmel fallen wird, bevor die Sterne ihre Position verlieren… und alle Tiere gemeinsam sterben und jede Blume Feuer fangen wird, wie Milliarden kleiner Kerzen und die ganze Welt brennt.»

In der Pause des Stückes postete ich ein paar Bilder und ein Video in die Story, es flogen Herzchen und Flammen und dann kamen auch ein paar Fragen. «Ist das der Wagner ohne Musik?», «Wie fandest du es?»…

Ja, wie fand ich es denn? Als Autorin war ich beeindruckt von der textlichen Dichte und der Schönheit der Monologe. Von den genauen Figurenzeichnungen und dem Sog, welcher auf der Bühne erzeugt wurde. Wenn die Menschen im Saal lachten, dann fühlte ich mich mit ihnen verbunden in diesem Moment, in dem wir ganz jetzt waren. Verbunden in den Gefühlen, die wir gleichzeitig teilten. Aber, dachte ich dann. Was weiss denn ich schon?

Und führte daraufhin einige Gespräche, diese führten mir vor Augen - da ich die Oper vom Ring des Nibelungen nie gesehen habe - was da auf der Bühne, neben dem Theaterstück, ebenfalls passiert ist. «Das Wagnersche Heldentum wird gewissermassen eingeschmolzen, um Material für eine neue Menschlichkeit zu gewinnen», schreibt etwa die Neue Zürcher Zeitung in ihrer Besprechung. Und folgt damit einem Trend, der auch sonst zu beobachten ist: Hochkultur als zeitgenössischen Persiflage. Und je länger ich darüber nachgedacht habe, umso mehr Fragen stellte ich mir. Und so endet dieser Text auch nicht mit einer Erkenntnis, sondern - ganz im Geiste von Max Frisch - mit einer Sammlung von Fragen, die vielleicht dazu einladen, nachzudenken oder mit anderen ins Gespräch zu kommen.

Darf man Der Ring des Nibelungen inszenieren, wenn man noch nie in Bayreuth war, dafür aber nächtelang alles darüber auf Youtube schaut, jede Wagala-Weia und hojotoo-Zeile des Rings abklopft und sich die Lieder-Edda und die Prosa-Edda bei mystischen Verlagen bestellt?

  • Falls ja, warum?

  • Falls nein, welche Leute dürfen diese Reflexion anstellen? Nur die, die den Kanon schon bedienen? Oder auch der deutsch-türkische Autor, der mit den Adiletten und im Unterhemd auf dem Roller, bestückt mit Reifen von Continental, in die Oper fährt?

Und mal ganz allgemein gefragt, ist Wagner all die Aufmerksamkeit im Jahr 2022 noch wert?

  • Muss Wagners Werk korrigiert werden?

  • Falls nein, warum nicht?

  • Falls ja: Welche Werke bedürfen dann ebenfalls einer dringenden Korrektur?

Kann man Kunst überhaupt korrigieren?

  • Falls ja, welche zeitgenössischen Werke werden in 30 Jahren korrigiert werden?

Kann man eine 16 Stunden Tetralogie in drei Stunden erledigen?

  • Wenn ja: Warum wurde das nicht schon früher gemacht?

  • Wenn nein: Welche Teile der Handlung dürfen auf keinen Fall fehlen?

Ist es Aufgabe des Theaters, sein Publikum zu belehren?

  • Ja, wenn es einem höheren Zweck dient.

  • Was wäre so ein Zweck? Bitte einfügen.

  • Nein. Kunst muss der Kunst willen frei sein.