Es ist Zeit

Momo hört zu: In die Ruine eines alten Theaters kommen ihre Freund*innen, um ihr Geschichten zu erzählen. Durch die Gabe des Zuhörens wird Momo zur Gefahr für ein ganzes System der Zeitersparnis, mit dem geisterhafte «Graue Herren» die Menschen kontrollieren wollen. Der Kulturtheoretiker Lukas Stolz hat sich Momo in der Inszenierung von Alexander Giesche angeschaut und darüber einen Text geschrieben, der verschiedene Fragen der Zeitlichkeit behandelt, das Abhängen als Form des Protests erkennt und das Beschwören einer besseren Zukunft als ausgehöhlte politische Strategie entlarvt. 


von Lukas Stolz
erschienen am 21. November 2022

«Packen wir die Zukunft bei den Hörnern» verkündet die Schlagzeile des Schwarzwaldboten meines Sitznachbarn im Regionalzug von Wolfach nach Offenburg. Kurz darauf gehe ich im ICE von Offenburg nach Berlin der Sache in einer kurzen Internetrecherche auf den Grund. Es handelt sich um einen Appell des wiedergewählten Bundespräsidenten Steinmeiers an die Bundesbürgerinnen: «Nur eines ist gewiss: Die Zukunft ist offen und auf diese Offenheit hat niemand - kein Autokrat und keine Ideologie - bessere Antworten als die Demokratie. Also machen wir uns nicht selbst klein […] seien wir nicht ängstlich – packen wir die Zukunft bei den Hörnern.»

In seiner Inszenierung Momo frei nach dem Kinderbuch von Michael Ende, dessen Premiere am Wochenende von Steinmeiers Wiederwahl der eigentliche Anlass meiner Reise in den Süden war, beschäftigen sich Alexander Giesche und sein Team mit ganz ähnlichen Motiven wie der Bundespräsident: Es geht um den Zusammenhang von Zeit und Macht und es geht um den Einfluss von mehr oder weniger offenen Zukünften auf unsere Ängste und Hoffnungen. Steinmeiers Rede und die Inszenierung von Momo finden dabei vor dem gleichen gesellschaftlichen Hintergrund statt: Stünde es um die Gewissheit einer offenen Zukunft wirklich so gut, müsste sie wohl gar nicht erst beschworen werden. Es gibt viele Gründe ängstlich zu sein, und das nicht erst seit Corona: Während die Klimakatastrophe ungebremst weitereskaliert und patriarchale und rassistische Gewalt nicht enden wollen, planen die Feudalherren des Silicon Valley auf ihren Megayachten die Kolonisierung des Weltraums und die CDU wählt den ehemaligen Blackrock Manager Friedrich Merz als neuen Vorsitzenden. Don’t look up.

In dieser prekären gesellschaftlichen Gesamtsituation ist Momo gerade deshalb so interessant, weil sie uns im Gegensatz zu Steinmeier nicht dazu rät die Zukunft bei den Hörnern zu packen, um den Ängsten der Gegenwart zu begegnen. Die für moderne Gesellschaften konstitutive Fixierung auf die Zukunft als Ort politischer Veränderung lösen die gut zweieinhalb Stunden des Stückes in dem Masse auf, wie sie die Erwartungen des Publikums an klassische Narrationen unterlaufen. In wenigen und dafür umso längeren Szenen, die als Bilder gelesen werden können und in anderen Momenten an eine Listening Session erinnern, entfalten vier Schauspieler*innen (davon einer per Video auf einem iPad zugeschaltet) in engem Zusammenspiel mit der Bühnentechnik, einem Roboterhund als Schildkröte und verstärkt durch Pop-Musik an der Grenze zum Kitsch (und manchmal auch über dieser Grenze hinaus) die zentrale These von Michael Endes Buch: Zeit entsteht, indem wir sie verschwenden. Hier geht es nicht darum die Zukunft bei den Hörnern zu packen, sie zu erobern, oder als Möglichkeitsraum zu reclaimen. Vielmehr lädt das Visual Poem zur freien Assoziation, zur Meditation und manchmal auch zum Träumen ein. Fragmentarisch blitzen somit mitunter die Möglichkeiten anderer Wirklichkeiten auf, die bereits in der Gegenwart enthalten sein könnten. Das Stück hilft uns dabei Wahrnehmungsmodi zu praktizieren, in denen die sonst abgeschlossen erscheinende Gegenwart ein kleines bisschen aufgeschlossen wird.

Es ist nicht nur ein Stück über die Zeit, sondern ein Experiment mit der Zeit selbst. Das ist oft unterhaltsam und manchmal eine Zumutung – und erinnert genau darin an kindliches Zeiterleben. Das Experiment könnte als geglückt bezeichnet werden, wenn es das künstlerische Ziel war, ein solches kindliches Zeiterleben für das erwachsene Publikum zu rekonstruieren: Eine Zeitlichkeit, die zwischen Spiel und Langeweile oszilliert und das dazu immer wieder von Momenten der Zeitvergessenheit durchzogen ist. Magische Momente, in denen der Wirklichkeit ihre Selbstverständlichkeit abhandenkommt. Als irgendwann in der zweiten Hälfte zu Bendik Giskes Saxofon oder Nirvanas «In Bloom» überdimensionierte Rauchringe in das Publikum geblasen wurde – so gross, dass ich mich kurz fragte ob das überhaupt sein kann – kam ich mir vor wie ein Kind im Zirkus. In diesem Moment war Momo nicht nur ein Stück mit einem Kind in der Hauptrolle, sondern eines mit Kindern im Publikum.

Momo liesse sich als eine mit den Mitteln des Theaters geschaffene Zeitskulptur beschreiben: Sie macht unterschiedliche Texturen von Zeit erfahrbar, lädt uns dazu ein die Plastizität von Zeit zu erleben, und fächert Zeit auf in eine Pluralität von Zeitlichkeiten. Darin unterscheidet sie sich von den aufdringlichen Aufrufen zu Entschleunigung und «im Moment zu leben», denen heute kaum mehr zu entkommen ist und die noch mehr Stress erzeugen. Forderungen nach Entschleunigung scheinen mir im Bereich der Chronopolitik eine ähnliche Funktion zu haben wie die Aufrufe zur Reduzierung des ökologischen Fussabdruckes in ökologischen Debatten: Sie sind nicht per se falsch, aber sie individualisieren ein strukturelles Problem und verhindern somit eine grundsätzlichere Problematisierung des gegenwärtigen Zeitregimes. Dabei gilt für Zeitmangel und Stress das gleiche wie für die ökologische Katastrophe: Wir sollten von den Produktionsweisen, die sie verursachen, nicht schweigen. Die letzte Szene von Momo, in der über viele Minuten hinweg in mühsamer und repetitiver Handarbeit ein Reifenberg auf der Bühne aufgebaut wird, legt solche Fragen der Produktionsweise nahe. Während der Reifenberg wächst, kommt mir ein Gedanke: Vielleicht macht es Sinn, Stress als temporale Externalität unserer kapitalistischen Produktionsweisen zu bezeichnen, weil er genauso wie die Umweltzerstörung in den Bilanzen der Unternehmen nicht auftaucht. Stress wäre dann die Folge temporaler Ausbeutung. Daran schliesst sich eine weitere Frage an: Wenn Aufrufe zur Entschleunigung ein politisches Problem individualisieren und Stress nicht von unseren Produktionsweisen zu trennen ist, wie liesse sich dann kollektiver chronopolitischer Widerstand denken?

Vor dem Hintergrund dieser Frage bekommen die zentralen Sequenzen des zwecklosen Spiels und des ausgiebigen miteinander Abhängens ihre politische Dimension. Man könnte sie als Formen des Zeit-Streiks bezeichnen. Es ist Zeit, die nicht der Produktion gewidmet ist. Es ist gewissermassen das Lafargue’sche «Recht auf Faulheit», was hier in Anspruch genommen wird. Momo verortet sich mit diesem Vorschlag nicht nur in einer langen anarchistischen Tradition, sondern knüpft auch Bezüge zu aktuellen künstlerischen Positionen, die versuchen das Zeitregime der getakteten Produktivität zu unterwandern: Das 2016 gegründete «Nap Ministry» untersucht Naps, also Nickerchen, als eine Form des Widerstandes und der Reparation. Ein weiteres Beispiel ist das 2017 erschienene Album Tommy der Londoner Musikerin Klein, das in seiner Performativität Freizeit und Abhängen (in einem Video zum Album hängt Klein mit Freundinnen auf einem Sofa ab) entgegen der externen Ansprüche der Musikproduktion verteidigt. Der britische Musikwissenschaftler Dhanveer Singh Brar zeigt in seinem Aufsatz «No Work. All Play» auf, dass Klein mit diesem Vorgehen an den US-amerikanischen Soulsänger Marvin Gaye erinnert: Aus Protest gegen die formalisierte Produktionsweise der Motown Plattenfirma, welche die rigide und eng getaktete Produktionslogik der ebenfalls in Detroit ansässigen Autoindustrie kopierte, produzierte er sein Erfolgsalbum «What’s Going On» 1971 während er mit Freund*innen Zuhause abhing. Das Album eröffnet konsequenterweise mit den Aufnahmen von Gesprächen einer Hausparty, auf die sich dann nach einigen Momenten die Musik legt. Indem diese Momo Produktion sich wie Klein und Marvin Gaye Zeit zum Abhängen genommen hat und Wege findet, diese Modi des Informellen auf der Bühne zu formalisieren, ist sie auch eine Kritik am Zeitregime des Theaters. Das Programmheft informiert: «Zu Beginn unserer Arbeit an Momo im Team rund um Alexander Giesche standen ausufernde Frühstücke im Team, ziel- und haltlose Gespräche und eine Recherchemethode, die langwierig in die Breite mäandert statt zielstrebig einen Zugriff auf diesen Stoff zu fokussieren».

Die ökologische Krise, welche die Zukunft zunehmend als Katastrophe erscheinen lässt, ist auch eine Krise der Zeitlichkeit: Sie nagt an dem für moderne Gesellschaften fundamentalen Fortschrittsglauben. Daraus folgt eine temporale und historische Orientierungslosigkeit, die popkulturell unter anderem in unzähligen apokalyptischen und post-apokalyptischen Serien auf Netflix verarbeitet wird. Kulturell und politisch stellt sich daher heute eine zentrale Frage: wie können wir diese für uns neue, durch einen hohen Grad an Ungewissheit und Zukunftsängste charakterisierte Zeitlandschaft navigieren, ohne uns einerseits der Versuchung des Fatalismus, und andererseits dem überkommenen chronopolitischen Dogma der Moderne, die Zukunft bei den Hörnern zu packen, hinzugeben? Welche Möglichkeiten liegen zwischen politischer Depression als Reaktion auf einen kapitalistischen Realismus, der das Ender der Welt plausibler erscheinen lässt als das Ende des Kapitalismus, auf der einen – und einem immer zwanghafter erscheinendem Cruel Optimism, einem grausamen «weiter-so», auf der anderen Seite?

Das Verlernen linearer Zeitlichkeit, zu dem Momo uns einlädt, könnte im Kontext dieser Fragen als eine radikale politische Praxis begriffen werden. «No cops, no jail, no linear fucking time» war auf einem Graffiti zu lesen, das während der Black Lives Matter Proteste entstand. Bei dem Versuch, das neue chronopolitische Terrain jenseits linearer Zeitlichkeit und einer für den Fortschritt offenen Zukunft zu navigieren, können uns jene Stimmen helfen, welche die Vorstellung einer linearen, homogenen und einheitlichen Zeit als Ideologie und Herrschaftstechnik dekonstruieren. Beschreibungen wie «Settler Time», «Straight Time» oder «Masters Clock» nehmen linearer Zeit ihre Neutralität und markieren zugleich, wer ihre Profiteure sind.

Während der ICE aus Offenburg in Berlin einrollt, muss ich natürlich an Walter Benjamin denken, einen der ersten emanzipativen Kritiker linearer Zeitlichkeit und sozialdemokratischer Fortschrittsversprechen. Seinen Vorschlag, Revolutionen nicht als Lokomotiven der Geschichte zu begreifen, sondern als den Griff zu der Notbremse, nehme ich dann aber doch nicht wörtlich. Stattdessen setze ich meine Kopfhörer auf und höre noch einmal «Getting Older» von Billie Eilish – das Lied mit dem in Zürich bei Momo alles anfing.