Über dunkle Feierlichkeiten,
Unabhängigkeitserklärungen und das Bewusstsein zu tanzen

Die Dramaturg*innen Laura Paetau und Tobias Staab im Gespräch mit Hausregisseur und Choreograf Trajal Harrell über seine neue Inszenierung Monkey off My Back or the Cat's Meow


erschienen am 07. Dezember 2021

Tobias Staab: Ganz am Anfang, als wir darüber sprachen, was Du vorhättest, sagtest Du, dass Du für Dein nächstes Stück bei null anfangen würdest. Es sollte einfach als Versammlung von Menschen beginnen und wir würden sehen, was passiert. Was hat sich daraus ergeben?

Trajal Harrell: Ich wollte mit nichts und ohne eine Idee ankommen. Normalerweise habe ich das Gefühl, dass ich für all meine Stücke starke Konzepte und theoretische Grundlagen mitbringen muss, aber dieses Mal habe ich nicht so viel vorausgedacht. Ich kam aus Köln Concert (Premiere: September 2020) und Deathbed (The Deathbed of Katherine Dunham, Premiere verschoben von März 2020 auf März 2021 und erneut auf März 2022), mit dem Wissen, dass ich zwar meine Recherchen gemacht hatte, aber ich wusste nicht wirklich, was daraus werden würde. Es gibt eine Menge unterschiedliches Material in dem Stück, das ich erst einmal nicht auf einen Nenner bringen wollte. Langsam aber sicher baue ich eine gewisse Verbindung auf, wie es scheint. Vor allem, weil es mich langweilt, Tanz und Performance oder theatralische Szenen einfach nur zusammenzubringen. Ich brauche eine Art formalen Abgrund, der die Arbeit in eine grössere Bewegungsstruktur und Organisation einbindet. Ich sehe das Stück mittlerweile als eine dunkle Feierlichkeit und stehe damit vor einem Resultat, das ich gar nicht so vorgesehen habe.

Laura Paeteau: In Deiner Arbeit entwirfst Du die Kostüme selbst. Was bedeutet Kleidung eigentlich für Dich? Und gibt es für Dich einen Unterschied zwischen Kleidung und Mode?

Trajal Harrell: Nun, das ist immer ein Teil meines Prozesses. Ich arbeite auch am Sounddesign und am Bühnenbild mit. Bei Monkey bin ich zusammen mit Asma Maroof für die Musik verantwortlich und für das Bühnenbild wie immer mit Erik Flatmo. All diese Elemente sind Teil meines kreativen Prozesses. Die Atmosphäre des Tanzes und der Musik muss mich gänzlich in ihren Bann ziehen. Das Gleiche gilt für die Kostüme. Mode ist für mich nicht nur Kleidung. Mode ist eine Art und Weise, Kleidung in Relation zu Raum, Gesellschaft und Politik zu stellen. Sie gibt einen bestimmten Rahmen vor, in dem viele Themen des Stücks behandelt werden. Ich verwende Kleidung als Mittel, um über Verhalten, Identität und Gefühle zu sprechen. Ich setze sie als Material ein, aber die Darsteller*innen müssen sie auch verkörpern wollen. Für mich ist es wichtig, die Darsteller*innen in Kleidung zu stecken, in der sie Lust bekommen, sich zu präsentieren. Ich möchte, dass sie das Gefühl haben, das Publikum durch diese Kleider an ihrem Erlebnis teilhaben zu lassen und zu zeigen, wer sie sein und wie sie sich in der Welt bewegen könnten. Es sollte also ein gewisses Mass an Komfort und Sympathie vorhanden sein, das ich bei ihnen spüren muss. Ich habe eine gewisse Sensibilität dafür, wenn es nicht funktioniert. Manchmal passt es nicht richtig, dann muss ich weiter daran arbeiten, was ich mir visuell wünsche, aber auch sicherstellen, dass die Performer*innen sich wohlfühlen. Es ist immer ein Gleichgewicht. Und es hat viel mit Verkleiden und Herumspielen zu tun, es geht viel um Theater und Fantasie. Die Frage ist: Wie kommen wir zur Feierlichkeit und zur Fantasie der Feierlichkeit? Wenn wir dort ankommen, erscheint es sehr einfach, aber um zur Einfachheit zu gelangen, muss man mehrere Ebenen der Komplexität durchlaufen, denn Einfachheit ist vereinfachte Komplexität. Feierlichkeit ist auch ein sehr spezifischer Begriff; ich denke, in meiner Arbeit geht es immer um eine Gemeinschaft. Im Theater ist es mir sehr wichtig, dass die Menschen diese Gemeinschaft fühlen, das hat COVID-19 verdeutlicht. Wir sind uns jetzt wirklich bewusst, dass wir in einer Gemeinschaft leben.

Tobias Staab: Ist die Dunkelheit, die Du beschrieben hast, etwas, das aus der Erfahrung während der Pandemie oder dem Leben im Allgemeinen hervorgegangen ist? Ich erinnere mich, dass wir drei auch viel über die Dinge gesprochen haben, die im Leben passieren, über die feierlichen Momente und gleichzeitig über die Lust an der Intensität, die darüber hinausgehen will und auch zerstörerische Dimensionen hat.

Trajal Harrell: Ich wusste nicht, wie sich das im Stück verkörpern würde; all das war nicht das eigentliche Thema. Wir haben nicht all die Dinge aus dem Butoh genommen, woran ich seit langem forsche, und sie in das Stück einfliessen lassen. Trotzdem denke ich, dass sie aus dieser Forschungsarbeit hervorgehen. Ich habe Butoh gemacht und wie bei Butoh
versucht, marginalisierten Erfahrungen Raum zu geben: «die Erfahrung des Bettlers, der Prostituierten, des Junkies, des Schurken, die Erfahrung alter Menschen» – ich spreche hier in Anführungszeichen. Es geht dabei um die Erfahrungen der Ausgegrenzten, wie man ihnen Sichtbarkeit verschaffen kann. Ich habe versucht, diese Dinge aus einer echten Position der Integrität und Würde heraus zu untersuchen. Ich wollte sie allerdings nicht per se zum Thema machen.

Laura Paetau: Ich erinnere mich, dass wir die Probe beendet haben und Du die Hände über den Kopf zusammgeschlagen hast und zu den Darsteller*innen sagtest: Ich kann es kaum fassen, ihr macht Butoh. Wie kam es plötzlich dazu? Ich habe mich gefragt: Woher kommt diese Magie und wie können diese Menschen etwas verkörpern, woran Du so lange gearbeitet hast?

Trajal Harrell: Ich weiss es nicht, ich denke, das wäre eine gute Frage an die Performer*innen, denn als ich es sah, hatte ich das Gefühl, dass sie geübt hatten. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich vorbereitet hatten, weil sie wussten, dass ich Butoh mache. Irgendwie hatten die Leute ihre eigenen persönlichen Nachforschungen angestellt und waren bereit, das einzubringen, was sie in Butoh einbringen konnten. Ich fand es seltsam, dass sie so gut waren, denn es war, als hätten sie darauf gewartet, dass ich sage: «Okay, zeigt mir euren Butoh» . Genau so fühlte es sich an. Ich glaube, dass es weniger an Magie lag als an Vorbereitung. Magie ist für mich oft ein Begriff, um die Vorbereitung zu verschleiern. Ich arbeite schon lange daran und viele der Tänzer*innen sind Teil davon. Ich habe einfach das Gefühl, dass sie bereit waren. Letztendlich ist es auch eine Frage an sie: Wie sind sie dorthin gekommen? Die Tänzer*innen, die um 2009/2010 mit mir zu arbeiten begannen, wie Perle Palombe, Stephen Thompson, Thibault Lac und Ondrej Vidlar, arbeiten nun schon seit zehn Jahren oder länger mit mir zusammen. Auch Laufstegbewegungen gehören in mein Vokabular, und Laufsteg zu lernen ist schwer. Es erfordert eine gewisse Finesse und Ausgeglichenheit beim Gehen, natürlich gepaart mit Humor. Butoh ist dagegen auf eine andere Art schwierig. Man kann es in fünf Minuten lernen, und gleichzeitig entzieht sich mir dieser Tanz immer noch. Vielleicht werde ich selbst 50 Jahre brauchen, um ein Butoh-Tänzer zu werden. Sicher, es gibt Klischees von Butoh oder stereotype Bewegungen oder Beugungen, aber eigentlich gibt es kein festes Vokabular für Butoh. Es ist vielmehr ein Bewusstsein für das Tanzen, es beschreibt nicht das Tanzen selbst, sondern das Bewusstsein für das Tanzen. Und es erfordert eine andere mentale Verfassung als etwa Ballett, moderner oder postmoderner Tanz, um einen Zugang zum Tanzen zu finden. Bei manchen Menschen kann es 20 Jahre dauern, bei anderen zwei Jahre, 20 Tage oder 20 Minuten. Man weiss nie, wann das Butoh-Bewusstsein erscheint; man muss einfach abwarten. In dieser Hinsicht ist es ein grossartiges Werkzeug. Es ist ein wunderbarer Tanz, um Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen zusammenzubringen, weil er auf diese Weise sehr demokratisch ist. Man mag nichts über Tanz wissen und plötzlich ist man trotzdem Butoh-Tänzer, weil man eine gewisse Raffinesse und Reife besitzt, die Geist und Körperlichkeit verbindet.

Laura Paeteau: Du arbeitest selten mit Text, weshalb denn dieses Mal? Und warum verwendest Du die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika?

Trajal Harrell: Ich habe in meiner Karriere schon öfter mit Texten gearbeitet: bei Antigone, Juliet & Romeo und Medea zum Beispiel. Nun war aber Teil der Idee, dass ich neben dem Tanzensemble auch mit anderen Leuten im Schauspielhaus-Ensemble arbeiten konnte. Es ist ein Stück für Tänzer*innen und Schauspieler*innen. Und ich wusste, dass ich mit einer grossen Gruppe arbeiten würde: 17 Performer*innen, meine bisher grösste Besetzung. Ich fand es einfach wichtig, nicht nur Musik und Tanz zu haben, sondern etwas, mit dem die Schauspieler*innen auch zu arbeiten gewohnt waren. Ich muss zugeben, dass ich damals nicht erwartet hatte, dass es die Unabhängigkeitserklärung werden würde. In meiner Familie feiern wir nicht alle traditionellen Feiertage gemeinsam. An Weihnachten oder Thanksgiving kommen wir nicht zusammen, aber wir versuchen, uns jedes Jahr am 4. Juli zu treffen. Vor zwei Jahren war ich am 4. Juli nicht mit meiner Familie zusammen und ich beschloss, aus gegebenem Anlass die Unabhängigkeitserklärung zu lesen. Ich hatte sie wahrscheinlich seit der High School nicht mehr gelesen und war einfach nur begeistert. Vor langer Zeit formulierten Männer, weisse Patrizier in den Vereinigten Staaten von Amerika, die damals noch nicht die USA, sondern einer Kolonie Großbritanniens, einen so eindringlichen, unmissverständlichen Ruf nach Freiheit. Sie wollten sich vom König von England trennen, und ich konnte nicht glauben, dass sie mit solchen Worten ihr Leben aufs Spiel setzten. Es ist ein Akt des Verrats, was sie sagen und wie sie es sagen, wie sie Unabhängigkeit definieren und wie sie die ungerechte Behandlung formulieren, die ihnen unter England widerfuhr. Es war selbstmörderisch, es auf diese Weise zu formulieren, mit solcher Eleganz. Natürlich enthält sie auch eine Menge verkorkstes Zeug. Sie sprechen abscheulich über die indigene Bevölkerung der späteren Vereinigten Staaten von Amerika. Aber es herrscht ein starkes Gefühl der Dringlichkeit, und ich wollte herausfinden, ob wir Dinge finden können, die eine ähnliche Dringlichkeit ausdrücken. Ich wollte schauen, wie es sich anfühlt, dies heutzutage in einem Theater zu zeigen, wie es in dieser Gemeinschaft ankommt. Und ich nahm an, dass wir auch in der Schweiz, in Deutschland, Frankreich, Südafrika usw. vergleichbare Texte finden würden, die auf der Bühne gelesen werden können, ohne belehrend zu klingen. Aber das ist selten. Oder vielleicht sind wir auch einfach nicht gut darin.

Laura Paeteau: Nach der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung dauerte es noch 89 Jahre bis zur Abschaffung der Sklaverei und 144 Jahre bis zum Frauenstimmrecht. Bei der Vorbereitung dieses Stücks haben wir viel über soziale Bewegungen gesprochen und auch speziell über die Frauenbewegung. Die Suffragetten kommen nun in den Kostümen zum Ausdruck. Wie fliessen diese Bezüge in Deine Arbeit ein?

Trajal Harrell: Oh ja, sie sind mit Sicherheit Teil des Stücks. Wir problematisieren und instrumentalisieren die Unabhängigkeitserklärung direkt für unsere eigenen Bewegungen. Ich denke, das wird in dem Stück sehr deutlich. Ich habe gelernt, dass wir alle in Erscheinung treten müssen, damit die Geschichte erzählt werden kann. Alle Ethnien, alle Geschlechter, wir alle müssen darin vorkommen. Die Wahrheit ist auch: Das Gute und das Schlechte werden nebeneinander stehen. Ich befasse mich schon lange mit postkolonialen und feministischen Theorien und das spürt man. Ich kann kein Stück machen, in dem diese Diskurse nicht vorkommen, sie sind immer präsent. Sie stecken in den Kostümen, sie stecken in der Art und Weise, wie wir die Kostüme einsetzen. Sie zeigen sich darin, wie wir alle Bühnenelemente nutzen, um hier unsere Geschichte zu erzählen. Ich glaube, selbst wenn wir nur die Unabhängigkeitserklärung verwenden, überdenken wir sie in unserer Aneignung. Die weissen Patrizier haben den Text verfasst, die Schwarze Bevölkerung hingegen wurde immer noch nicht in diese Erklärung der potenziellen Freiheit einbezogen, sie wurden nicht einmal als vollwertige Menschen betrachtet. Wie konnten sie also frei sein, wenn sie nicht einmal als Menschen galten? Und eine wichtige Frage für das Stück ist: Wie können wir die Sehnsüchte und Wünsche von uns allen kennenlernen und ins Leben rufen? Ich denke, dieses Stück ist auch eine sehr spezielle Vision von mir, die versucht, der Vision des Schauspielhauses Zürich zu entsprechen. Es gibt hier diese Vision, dass Menschen über die Disziplinen hinweg zusammenarbeiten und mit Menschen arbeiten sollen, die vielleicht nicht zu ihrer unmittelbaren Familie gehören, der Künstlerfamilie, die man hierher gebracht hat. Die Idee, dass ich eine Produktion mit 17 Leuten, Schauspieler*innen und Tänzer*innen, realisieren würde, war also ein potenzieller Teil davon. Wie würden wir alle zusammenarbeiten?

Tobias Staab: Du gründest derzeit in Zürich eine Tanzkompanie. Wie wird sich Deine Arbeit als Choreograf dadurch verändern?

Trajal Harrell: Ich habe sehr lange darüber nachgedacht. In meiner Generation von Künstler*innen wollten wir keine Tanzkompanien. Ich komme aus New York, und als ich in die Szene kam, war es ganz offensichtlich, dass man sich eine Kompanie nicht mehr leisten konnte. Das war unmöglich, wir verstanden uns selbst eher als Freiberufler*innen. Wir arbeiteten nach dem Credo, dass wir unseren eigenen Namen vertraten, also war ich Trajal Harrell. Ich habe keine Trajal Harrell Dance Company gegründet. Obwohl es Performer*innen gab, die ein untrennbarer Teil davon waren – wie die, die ich zuvor genannt habe, und andere, ohne die ich meine Arbeit nicht geschaffen und Sichtbarkeit erlangt hätte. Aber irgendwann hatte ich das Gefühl, dass es an der Zeit war, eine Kompanie zu gründen. Wir waren eigentlich längst eine Kompanie, und es war an der Zeit, sich dazu zu bekennen. Ich glaube, dieser Schritt hat meine Arbeit in gewisser Weise verändert. Es gibt jetzt einen sehr klaren Stil, wie bei Köln Concert – wir haben ihn entwickelt und er ist reproduzierbar. Wenn man den Rahmen hat, kann man immer tiefer und tiefer gehen. Das erdet meine Arbeit, und ich fühle mich wohler, wenn ich mich voll und ganz auf das Tanzen einlassen kann, weil wir die Zeit haben, unseren Tanz mit
anderen zu teilen. Ich weiss, dass die Tänzer*innen nicht nur für dieses eine Projekt da sind und dann zu ihrem nächsten Projekt weiterziehen. Unser Austausch geht weiter. Er bietet Aussicht auf Kontinuität. Und mit der Zeit können wir etwas aufbauen.

Tobias Staab: Hast Du das Gefühl, dass Du jetzt in Zürich angekommen bist?

Trajal Harrell: Ich spüre mehr und mehr, dass Zürich mir guttut. Ich geniesse die Arbeit hier sehr, sie gibt mir etwas ganz Bestimmtes. Ich hätte mir das nie vorstellen können, aber es ist für mich wirklich erdend. Ich bin sehr glücklich, hier ein Publikum aufzubauen, und ich hoffe, dass die Leute weiterhin kommen, um meine Arbeit zu verfolgen. Ich glaube, wir versuchen wirklich, ein Zuhause zu schaffen, und es ist etwas ganz Besonderes, ein Zuhause für seine Arbeit zu schaffen. Ich bin glücklich, diesen Ort gefunden zu haben.