Kali Malone –
Wandernde Gedanken

Mit Cast Of Mind präsentierte Kali Malone ein Musik-Highlight von 2018 ganz generell und insbesondere für Drone-Fans. Im Album stand eine Kombination aus Klängen des Buchla 200 Synthesizers und akustischen Holz- sowie Blechbläserinstrumenten im Zentrum, die sich um das Tonsystem der reinen Stimmungen drehte. Die Faszination Malones für diese bestimmten Frequenzverhältnisse entwickelte sich nicht zuletzt dank einer experimentellen Szene und damit zusammenhängender Freundschaften in Stockholm – einer Stadt, in welcher die in Denver, Colorado aufgewachsenen Malone für einige Jahre lebte, studierte und arbeitete.

Malone veröffentlich ihre Musik unter anderem auch via ihrem eigenen Xkatedral Label und auf dem von Arizona aus operierenden Ascetic House. Letzteres präsentierte mit Organ Dirges 2016 – 2017 bereits zu Beginn von 2018 den zweiten grossen musikalischen Bezugspunkt in Malones Arbeit, nämlich Orgelklänge. Diese sind nicht nur immer wieder Teil ihrer Musik, sondern reist Malone auch gemeinsam mit Jan Börjeson durch Schweden um nebenberuflich im ganzen Land Orgeln zu stimmen.

Ende März 2019 war Malone Teil eines von OOR Saloon und Hallow Ground veranstalteten Abends in Zürich. Vor dem Konzert nahm sich die Komponistin Zeit für ein Gespräch mit Alexandra Baumgartner vom Luzerner zweikommasieben. Das Interview erschien ursprünglich in Ausgabe #19 des Printmagazins und wir veröffentlichen es im Rahmen der Graveyard Shift, an der Malone mit Stephen O'Malley und Lucy Railton ein Konzert im Pfauen spielen wird, nun auch im Schauspielhaus Journal. Das Interview fokussiert sich auf Malones Arbeiten mit der Orgel und die Lektüre lohnt sich als Einstieg in eine Praxis, die sich seitdem selbstverständlich weiterentwickelt hat, aber immer noch auf viele ähnliche Bezugspunkte setzt.


von Alexandra Baumgartner
erschienen am 02. November 2021

Aus dem Englischen übersetzt von N. Cyril Fischer

Alexandra Baumgartner: Deine Live-Konzerte, wie zum Beispiel das, welches du mit Erik Enocksson in Zürich gespielt hast, unterscheiden sich stark von deiner musikalischen Praxis im Studio. Dort nimmst du in der Regel jeden Ton zum Ticken eines Metronoms auf. Welchen Einfluss hat denn ein Setting auf deine Musik?

Kali Malone: Ein grosser Unterschied zwischen Studio und Live-Auftritt ist, dass ich bei letzterem die Stücke viel länger spiele; so lange wie ich nur kann, bis ich die Konzentration verliere. Die grösste Herausforderung beim Spielen mit Erik ist tatsächlich wie lange ich es schaffe, mich zu konzentrieren und keinen Fehler zu begehen. Wir lesen Zahlen von Matrizen ab, während ein Metronom vor unseren Augen blinkt. Man verliert den Faden dabei sehr leicht, weil so vieles zur gleichen Zeit klingt. Die zweite Musikerin – die Rolle, die zum Beispiel Erik im Konzert übernommen hat – und ich haben verschiedene Matrizen vor uns, aber wir spielen in den gleichen Oktaven und Registern, und in sehr ähnlichen Klangfarben der Orgelpfeifen. Da kann man sich schon mal fragen, «mache ich gerade diesen Klang oder du?». Aber man darf solche Gedanken nicht zulassen: Sobald man sich bewusst macht, dass man in einem Raum voller Leute ist oder einfach nur dass man gerade etwas zählt, dann verspielt man sich. Wenn ich mir während des Spielens bewusst werde, dass meine Gedanken wandern, nicke ich meinem Mitspieler zu und wir beenden das Stück. Die Stücke auf Organ Dirges 2016-2017 sind die längsten, die ich damals spielen konnte. Länger konnte ich meine Konzentration in der Zeit nicht halten. Das waren meine ersten Versuche mit dieser Art von Musik und meine Konzentrationsfähigkeit war viel kürzer als jetzt. Mittlerweilen kann ich die Stücke bis zu zwanzig Minuten lang spielen.

AB: Deine Herangehensweise zur Musik unterstreicht das Menschliche in der Musik. Die Entscheidung, sich selbst auf diese Weise herauszufordern, verändert ein live gespieltes Stück und gibt ihm und dir als Künstlerin Luft, sich über längere Zeit hinweg weiterzuentwickeln.

KM: Ja, absolut. Live spielen trägt zu dieser Entwicklung bei. Für das Konzert in Zürich haben wir Mikrofone in die von uns angespielten Pfeifenregister der Orgel installiert und die Lautsprecher quadrophonisch aufgestellt. Das hat den Klang total verändert und kam meiner Meinung nach näher ans Album heran. Wenn ich unverstärkt Orgel in einer Kirche spiele, komme ich mir schon mal so vor, als ob ich einfach Kirchenmusik spiele. Die Musik ist dann nicht mehr so einfach zu unterscheiden von derjenigen, die eine Orgelspielerin oder ein Kantor spielt. Etwas Obskures wird der Musik entrissen, wenn man die Verstärkung weglässt. Ich bin auch sehr angetan von der Idee, Mikrofone in der Orgel aufzustellen…Man kann damit abgefahrene Delays erzeugen! Heute haben wir versucht, die Mikrofone so zu kalibrieren, dass das Delay an die Akustik des Raums angepasst wird. Aber wenn du oben an der Orgel sitzt, hörst du schräge Interferenzen. Die können inspirierend sein oder dich ablenken. [lacht] Also ja, so entwickelt sich die Live Performance beständig…

AB: Du hast erwähnt, dass du nicht gerne «Kirchenmusik» spielst. Die Orgel ist sowohl kulturelle, als auch physisch stark mit der Kirche als Institution verbunden. Ausserdem sind Kirchen für viele Menschen Orte, die sie aus verschiedenen und guten Gründen lieber meiden. Wie gehst du mit diesen Assoziationen um?

KM: Ich bin als Kind in einem Umfeld aufgewachsen, das von einem unterdrückten Spannungen mit dem Katholizismus geprägt war. Nach jahrelanger Erziehung in katholischen Schulen hätte ich mir nicht gedacht, dass ich je wieder Fuss in eine Kirche setzen würde. Aber jetzt bin ich als Orgelstimmerin des Öfteren in Kirchen. Das ist allerdings nie wie während einer Live-Show, bei der ich aus kreativen Gründen mein Ding in einem Umfeld gleichdenkender Menschen durchzuziehen. Es geht mir um die Arbeit mit dem Kantorin, dem Priester und den öfters älteren Gläubigen. Dabei gilt es darauf zu achten, wie ich mich anziehe, was ich sage und wie ich mich benehme – allgemein einfach nett zu sein. Das ist ziemlich schwierig für mich, weil ich es mir gewöhnt bin, spontan und auch planlos an Sachen heranzugehen. Ich liebe es, Orgeln zu stimmen – aber das kulturelle Element der Kirche nimmt mir den teilweise fast den Drang, es auf profane Art zu unterwandern – was meine ursprüngliche Inspiration war. Früher dachte ich mir, «wow, ich darf mit meinen Ansichten in diese Kirchen…wie kann ich das zur Subversion nutzen, die Pfeifen rein stimmen». Jetzt verbringe ich aus beruflichen Gründen mehr Zeit in Kirchen und in dem Rahmen wäre es kontraproduktiv, so zu denken. Ich bemühe mich darum, einen Kompromiss zu finden, mich respektvoll zu verhalten, aber auch aus vorwiegend praktischen Gründen dort zu sein.

AB: Wie hat dein Job als Orgelstimmerin dein Spielen beeinflusst?

KM: Das Stück «Fifth Worship» auf Organ Dirges 2016-2017 beruht auf einer harmonischen Tonfolge, die man dazu benutzt, die Stimmung der Orgel zu prüfen. Man legt eine ferngesteuerte Leiste auf die Tasten und aktiviert diese, während man selbst in der Orgel ist. Du kannst das Gerät so einstellen, dass es ferngesteuert in Ganztonschritten, Quarten und Quinten spielt. So kann man feststellen, ob die Frequenzunterschiede zwischen den Pfeifen gleich gestimmt sind und welche Pfeifen zu rein klingen. Wenn die Stimmung temperiert sein soll, müssen die Unterschiede zwischen allen Pfeifen gleich sein. Wenn die Quinten zu rein sind, ist das dann nicht gut, obwohl die zwar fantastisch klingen. So haben wir es gemacht, als ich zum ersten Mal beim Stimmen dabei war. Ich dachte mir: «Das ist Musik!». Diese Interferenzmuster zwischen den verschiedenen Frequenzen haben mein Orgelspiel auf jeden Fall beeinflusst. Ich halte oft Akkorde sehr lange, um das Spiel dieser Frequenzen zu verstehen. Die Stimmungen der Pfeifen verändern sich ständig mit der Temperatur des Raumes. Klänge fallen in eine reine Stimmung, was sich unglaublich anhört. Es ist echt spannend, sich verschiedene Orgeln anzuhören und die Extreme der Frequenzunterschiede in bestimmten Tonarten zu hören.

AB: So wie du die Orgel beschreibst, stelle ich sie mir wie eine lebendige Kreatur vor, die in der Kirche lebt, ihre Luft atmet und das alles ihren Klang mitbestimmt.

KM: Orgeln sind sehr lebendig und auch sehr fragil. Es überrascht mich immer wieder aufs Neue, wie scheinbar winzige Dinge – eine Motte, Fliege oder tote Spinne – eine Orgel sozusagen komplett aus dem Konzept bringen kann. Ich musste einmal vier Stunden mit einem Zug durchs schwedische Hinterland reisen, um beim Reparieren und Stimmen einer Orgel zu helfen. Die Leute in der Kirche hatten seit einiger Zeit Probleme mit einigen Pfeifen, die nicht mehr klingen wollten. Wir nahmen eine raus und haben reingeblasen – und es kam ne kleine Spinne raus. Einerseits sind Orgeln sicher riesige, majestätische Machtsymbole. Andererseits kann ein kleines Insekt sie komplett ausrangieren.

AB: Du hast die Unterschiede zwischen temperierter und reiner Stimmung angesprochen, sowie die tonalen Muster, die aus Frequenzüberlagerungen entstehen. Diese Tonsysteme sind mittlerweile ein zentrales Element deines musikalischen Schaffens, was mit deinem Studium von tonalen Systemen, die vom standardisierten Zwölftonsystem des westlichen Kulturkreises abweichen, zu tun hat. Was hat dein Interesse daran ursprünglich geweckt?

KM: In Stockholm war ich Teil einer Gruppe von Freunden, die sich alle für reine Stimmung interessierten. Wir lernten Sachen zusammen, arbeiteten mit Gitarren und experimentierten dabei mit pythagoreischen und ähnlichen Stimmungen. Zwei dieser Leute, Ellen Arkbro und Markus Paul, studierten später unter La Monte Young. Irgendwann hatte mir eine Freundin ein Album von Kushal Das vorgespielt, auf dem man eine Surbahar hört – das ist eine indische Bass-Sitar. Das hat mich dermassen fertiggemacht, dass ich gleich die 22-stufige indische Shruti-Tonleiter lernen wollte. Danach war ich wie besessen! Diese Tonleitern haben Dinge in mir ausgelöst, die ich noch nie zuvor verspürt hatte. Es klingt kitschig, aber Musik kann die Art, wie man sich selbst sieht, komplett verändern. Das ist offensichtlich der Grund, warum Menschen Musik überhaupt ernst nehmen.

AB: Wie kommt man denn ums Zwölftonsystem herum? Müssen wir alle unsere Ohren umprogrammieren?

KM: Ja und nein. Wie ich Sachen höre, hat sich auf jeden Fall verändert. Klar, Systeme, die auf Proportionen und Verhältnissen wie reine Stimmung basieren, sind schwierig anzuwenden – aber wenn es klickt, dann ändern sich auch andere Dinge. Ich habe jetzt echt Probleme mit dem Zählen. Zum Beispiel, wenn du von eins bis drei zählst, sind da zwei oder drei Schritte? Wo fängt man an, bei null oder eins? Ich habe mich so stark mit diesen Verhältnissen beschäftigt, dass ich… Gleichstufige Stimmungen machen keinen Sinn mehr für mich: Es gibt keine stabilen Verhältnisse und nichts ist nachvollziehbar. Wenn man aus einem System kommt, das keinen Sinn macht, und dann zu etwas übergehen möchte, dass logisch ist, ist das in erster Linie verwirrend. Es ist nicht nur die Musik, auch die Zeit, in der wir leben. Die letzten 300 Jahre seit der industriellen Revolution… Es hat mit einer Ökonomie der Moderne zu tun: Die gleichstufige Stimmung wurde aus ökonomischen Gründen erfunden, damit man verschiedene Instrumente miteinander spielen und modulieren, Fabrik-mässige Orchester bilden, Stücken raushauen und Instrumente standardisieren konnte... Wenn man etwas einmal standardisiert, dann kommt man nur schwer davon weg. Wenn verschiedene Instrumente plötzlich miteinander gespielt werden können, dann hat man Musik und Ökonomie in einer endlosen Produktivitätslogik vereint, bei der nicht mehr viel Neues entstehen kann.

AB: Als Nicht-Musikerin kommt mir das alles wie eine verborgene und faszinierende Welt vor. Was für einen Einfluss könnten solche Entwicklungen auf unsere Gesellschaft haben? Wie soll man mit diesem Wissen umgehen?

KM: Ich glaube nicht, dass es auf einen radikalen Bruch mit der gleichstufigen Stimmung hinausläuft oder etwas ähnlich Dramatischem. Es ist einfach befreiend und inspirierend, wenn man herausfindet, dass es mehr als nur das gibt, was einem beigebracht wurde. Es gibt genügend Möglichkeiten, sich mit reinen und anderen Stimmungen zu beschäftigen: Open-Source-Programme und andere Werkzeuge.

AB: Harmonien haben einen speziellen Stellenwert in deiner Musik. Wie komponierst du deine Stücke? Folgst einem Gefühl und suchst bestimmte Harmonien oder lässt du dich vor allem von der Arbeit am Instrument leiten?

KM: Es kommt aufs Instrument und seine Eigenschaften an. In Stockholm gibt es zum Beispiel eine Orgel, die eine alte, mitteltönige Stimmung namens «Kirnberger Drei» hat. Sie verfügt über einige reine Intervalle, aber die Orgel ist vor allem für ihre reinen Terzen in C-Dur bekannt. Ich entdeckte noch viele weitere reine Intervalle, aber konnte die nicht auf andere Tonarten übertragen, um Abfolgen wie auf Organ Dirges 2016-2017 zu erreichen. Ich konnte nicht einmal Akkorde verändern. Also habe ich einfach die Oktaven dieser drei reinen Intervalle benutzt. Trotzdem wollte ich dann noch eine reine Septe hinzufügen, wofür ich die Frequenz des As der Orgel berechnen musste um dann mittels der Hayward Tuning Vine das genaue Verhältnis zu bestimmen. Ich habe Klarinettenaufnahmen benutzt und diese immer wieder in der Tonhöhe verändert, bis ich die Noten gefunden hatte. Man muss viel in Querverbindungen Denken; es geht darum herauszufinden, welche Intervalle du suchst und um welche harmonische Primzahlen es geht, wovon du dann die Verhältnisse ableitest...

AB: Es gibt also keine allgemeine Formel, mit der man diese reinen Stimmungen angehen könnte?

KM: Nein, eben nicht. Langsam habe ich zwar eine gewisse Methode ausgearbeitet, aber ich verlier mich weiterhin sehr schnell in dem Ganzen. Ich frage immer wieder Leute, wie sie das machen und ob sie eine einfachere Lösung für diese Denkprozesse habe. Gleichzeitig lernt man auch so viel durch seine eigenen Prozesse und Fehler.

AB: Obschon du nicht über einen immer gleichen, fixen Ablauf verfügst, klingt das für mich schon so, als gäbe es einiges an Regeln zu befolgen. Solche Regeln, und die daraus resultierende Struktur, geben bestimmt immer ne gewisse Sicherheit. Gleichzeitig wirkt es auch so, als würde daraus immer was Neues entstehen. Wie würdest du das beschreiben?

KM: Solche strikten Parameter und die daraus resultierenden, generativen Strukturen sind auch eine Möglichkeit, einen anderen Teil deines Verstandes zu aktivieren. Eigentlich trete ich an das Ganze mit meinem Hintergrund in improvisierter Musik heran. Daraus entstammt eine Vorstellung des vollkommenen Ausdrucks und wie man sich voll einem Gefühl hingeben kann. Auf diese improvisierte Art und Weise Musik zu spielen empfinde ich persönlich nicht mehr als notwendig. Jetzt versuche ich mich an etwas, das eben stärker bestimmt sowie durchdacht ist und dabei nicht mehr nur meiner Katharsis oder einer sonstigen, schönen Erfahrung gilt. Das ist schon auch schwer – und gerade darum gefällt es mir vielleicht. Es ist durchaus erfüllend, eine vorgegebene Struktur abzuschreiten und schlussendlich etwas zu hören, das du zwar komponiert hast, aber dessen Klang du dir zu Beginn nicht vorstellen konntest. Eine Zeit lang programmierte ich daher alles zuerst in Pure Data, um die generativen Elemente der Musik zu erkennen und bereits die Tatsache der unendlichen, möglichen Variationen liess den Prozess wertvoll erscheinen. Jetzt aber gefällt mir dieser Überraschungsaspekt. Mit der Orgel verlangt das sehr viel Zeit und Konzentration – der ganze Prozess ist aufgeladen mit einer bestimmten Intention. Klar, wenn du es genügend oft gespielt hast, dann erkennst du, wenn eine Wiederholung passiert – trotzdem ist es schwierig den genauen Moment ausfindig zu machen, indem es passiert. Und wenn es passiert, macht alles Sinn! Ich lese gerade dieses Buch von Jacques Attali, Noise: the Political Economy of Music, und darin findet sich ein spannender Ansatz hinsichtlich des Potentials für die Vorausahnungen gesellschaftlicher Veränderungen in der Musik. So etwas motiviert mich, weiterhin auf diese Art und Weise zu arbeiten.