300 Paar gelbe Schuhe?!

Fragen zu Gerechtigkeitsdiskursen, Handlungsmacht und einem schwarzen Panther an Claudia Lehmann, Marysol del Castillo und Benjamin von Blomberg – die Verantwortlichen für Bühnenbild & Video, Kostüme und Dramaturgie von der Inszenierung Der Besuch der alten Dame. Die Fragen wurden zwei Wochen vor der Premiere im September 2021 gestellt. Ein Teil der Antworten wurde auch im Programmheft zur Inszenierung publiziert.  


von Silvan Gisler
erschienen am 22. Oktober 2021

Claudia Lehman, Bühne & Video

Wie arbeitest Du als Video-Künstlerin in den Inszenierungen von Nicolas Stemann?

«Intuitiv. Natürlich gibt es dabei mehrere Phasen, weil man sich in einem ständigen Prozess befindet. Mit dem künstlerischen Team versucht man den Inhalt zu fassen, der dann in einen Kontext, in einen Raum und schließlich in eine Form gebracht werden muss. Dafür versuchen wir uns in einer ersten Phase einen Werkzeugkasten zu schaffen. Manchmal ist es das Material, manchmal die Technik oder ein Bild, das zuerst da ist. Damit kann man dann bestenfalls improvisieren. Viel muss man organisieren. Dann kommt die Farbe, dann die Musik. Im wahrsten Sinne des Wortes muss alles komponiert und zum Klingen gebracht werden. Bis zur Premiere findet dann ein großer Iterationsprozess statt. Und im besten Fall kommt irgendwann alles zusammen und man spielt als Teil der Band auf seinem Instrument. Bei uns kann sich gerne bis zum letzten Tag alles ändern. Das wiederum ist dann mit viel Schweiß, Arbeit, wenig Schlaf und zuweilen mit Verzweiflung, dann aber auch wieder mit großer Ektase verbunden.»

Wieviel Geschlechterkampf findet sich in der neuen Inszenierung der alten Dame? Und wieviele gelbe Schuhe verträgt ein Mann? 

«Das Wort Geschlechterkampf ist nicht das erste, was mir zu dem, was wir gerade erarbeiten, einfällt. Es mag sich manchmal sicher nach einem Kampf zwischen den Geschlechtern anfühlen, weil bei uns eine Frau und ein Mann auf der Bühne stehen. Unsere Inszenierung findet ausserdem dort statt, wo das Stück von Dürrenmatt uraufgeführt wurde, in einem Land, in dem erst 1990 das Frauenstimm- recht in allen Kantonen eingeführt wurde. Paradigmenwechsel finden nie kampflos statt und das wird in unserer Inszenierung sicherlich spürbar. Im Theater setzt man sich gerade auf vielen Ebenen mit Herrschaft und Machtstrukturen auseinander, auch mit patriarchalen Strukturen innerhalb des eigenen Systems. Das ist auch in unseren kreativen Prozessen immer wieder Thema und findet so- mit bestimmt Einzug in diese Produktion.

Die Fragen gehen aber auch über die Geschlechter hinaus. Wer macht welche Arbeit? Wie wird was honoriert oder wertgeschätzt? Wie spricht man miteinander? Es braucht ein paar Menschen in künstlerischer Hinsicht, aber auch Assistent*innen oder Mitarbeiter*innen, damit ein Stück das Licht der Welt erblickt. Viele Arbeiten im Hintergrund werden noch immer von Frauen ausgeführt, wohingegen die Arbeiten mit Einfluss, Macht, Geld und Selbstverwirklichung mehr von Männern ausgefüllt werden. Theater ist aber krea- tive Teamarbeit. Der Kampf um Gerechtigkeit wird bei uns somit nicht nur anhand des Textes von Friedrich Dürrenmatt auf der Bühne geführt, sondern auch in Diskussionen darüber, wann wer was entscheiden kann oder muss und wer dann an welcher Stelle genannt wird.

Dürrenmatt hat es mit seiner Erzählung geschafft, ein Szenario zu entwerfen, wo einer ganzen Gesellschaft der Spiegel vorgehalten wird. Die Dame fordert Gerechtigkeit und bekommt diese nur, weil sie es sich leisten – oder besser «kaufen» – kann. Der Mensch ist eben verführbar und versteckt sich gerne in seinen Systemen. Irgendwie wird das, was alle machen oder alle für richtig halten, schon richtig sein.

Es geht immer wieder um die (vor)herrschenden Strukturen und um das, was innerhalb dieser Strukturen und Systeme alle mitmachen. Man kann sich eben nicht mehr nur auf seine Tätigkeit zurückziehen und sagen, das ist nun mal mein Job. Man ist seinem Gewissen verpflichtet. Gerade an einem Ort wie dem Theater sollte man sich mit diesen Themen auseinandersetzen, was in den letzten Jahrzehnten leider an zu vielen Orten viel zu selten passiert ist.

Man kann auch heute mit vielen Ungerechtigkeiten durchkommen ohne gleich mit den Folgen konfrontiert zu werden. Jede*r von uns, in der sogenannten zivilisierten westlichen Welt, beschäftigt, ohne dafür ein Bewusstsein zu haben, 50 Menschen weltweit. Wir sorgen mit unserem Lebensstil permanent dafür, dass Menschen in Not sind oder gar nicht überleben – die moderne Sklaverei. Nur weil wir alle mitmachen, heisst das nicht, dass uns nicht eines Tages eine alte Dame besuchen kommt, um uns mit dieser Mitschuld, vor der wir taub und blind sind, zu konfrontieren.

Um in der Metaphernwelt von Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame zu bleiben – sollten wir alle nur so viele Paar gelbe Schuhe besitzen, wie sie unter fairen Bedingungen und reinen Herzens hergestellt werden können. Im Stück beginnen alle Dorfbewohner*innen, kaum dass es Aussicht auf eine Milliarde gibt, gelbe Schuhe auf Pump zu kaufen – und produzieren darüber Schuld, Schulden und Zerstörung. Bei uns auf der Bühne gibt es zur Zeit ca. 300 gelbe Schuhe. Alle werden liebevoll in Handarbeit von unseren Mitarbeiterinnen – Ananda, Anette, Bettina, Christine, Flavia, Johanna und Lilli – angemalt. Natürlich nur zufälligerweise alles Frauen.»

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Bei so viel Fragen um Gerechtigkeit: Welches Bild hat Recht?

«Ich habe keine Ahnung welches Bild Recht hat. Vor Gericht muss man ja die Wahrheit sagen und oft wird das Bild als Zeugnis herangezogen. Denken wir an die Überwachungskameras, die als Beweismaterial die Datenbanken füllen. Trotzdem sind Bilder heute mehr denn je manipulierbar. Welchen Wahrheitsgehalt sie haben und ob sie für Recht und Unrecht als Belege herhalten können, muss man sehr genau prüfen. Der Bilderstreit - ich erinnere nur an die Mondlandung oder den elften September oder ganz aktuell das Coronavirus - hat längst begonnen. Dann gibt es wieder Behauptungen, geprüfte wissenschaftliche Erkenntnisse wären Fake News und damit verbundene versimplifizierende Erklärungen. Man mag denken, Videos und Bilder werden richtiger, wenn man sie immer wieder und immer öfter sieht. Und das kann wiederum dazu führen, dass man sich nur an „die Wahrheit“ dieser Bilder erinnert. Man könnte ganze Bücher füllen…

Auf der anderen Seite ist es ein großes Geschenk, dass wir mittlerweile alle unsere Foto- und Filmkameras in der Tasche haben und durch das Internet in die Lage versetzt werden, Bilder in die Welt zu senden und - auch weltweit - auf Unrecht aufmerksam machen können. Zum ersten Mal in unserer Geschichte haben wir die Möglichkeit die Mächtigen zu überführen. Das allein ist schon eine Revolution. Hätte niemand die Gräueltat an George Floyd gefilmt, hätte vielleicht niemand den Tätern den Prozess gemacht. Dass daraus eine weltweite Bewegung entstand und das Thema Rassismus ganz neu in den Fokus geriet, hätten sich die Polizist:Innen und Politiker:Innen, die mit ihren Methoden so lange ohne Folgen durchgekommen sind, nicht im Traum vorgestellt.»

Marysol del Castillo, Kostüm

Was tragen Claire Zachanassian und Alfred Ill heute: Kannst Du etwas über die Kostüme dieser Inszenierung und deine konzeptuelle Annährung sagen?

«Wer mich im Zusammenhang mit Arbeiten von Nicolas kennt, weiss, dass die entsprechende Kostümarbeit von konventionellen Herangehensweisen und somit klassischen Fragestellungen und Antworten zu Rollenbildern abweicht und ich diese folglich zu überwinden suche. Hierzu stelle ich mir Fragen, die ich in einem work in progress, ebenfalls praktikabel und touringfähig, zu beantworten suche: In welcher Weise fragmentiere ich aktuelle, für uns relevante Fragen und Zusammenhänge, um die wesentlichen Informationen des Gestaltungsprozesses in einen neuen Erfahrungsraum zu installieren, zu bündeln und dabei die Möglichkeit zu schaffen, authentisch zu bleiben?

Authentizität heisst für mich in diesem Zusammenhang, die Akteur*innen unabhängig von starren Rollenkonzepten als autarke Menschen von Heute wahrnehmbar zu machen und dies visuell zu fördern. In dieser Arbeitsweise geht es aktuell weniger um Stil, als aus einem Gesamtzusammenhang heraus einen eigenen, visuellen, räumlich empfundenen Sprachstil über die körperliche Präsenz der Spieler*innen und aus dem, was wir bereits errungen haben, weiter zu entwickeln. Somit entstehen Komponenten, Kostümteile, Zutaten, die ich als Werkzeug herstelle. Diese ergeben sich aus Fragmenten der gegenwärtigen Auseinandersetzung.»

Dich und Nicolas verbindet eine lange Arbeitsbeziehung. Was macht eure Verbindung aus?

«Kurz gefasst würde ich sagen, dass wir uns instinktiv respektieren und vertrauen.»

In dem Stück hat Claire Zachanassian einen leibhaftigen schwarzen Panther mit im Gepäck. Was denkst Du: Sollte frau lieber mit oder ohne Panther durchs Leben gehen?

«Das hängt ganz von der eigenen Saat, Wahheit und den Ahnungen der Konsequenzen ab. Mit den Sichtverhältnissen eines Panthers kommen wir im Dunkeln sicherer voran. Gerechtigkeitshalber empfehle ich Frau und Mann, sich von Zeit zu Zeit einem Panther anzu- vertrauen. Einem frei laufenden. Ohne Käfig.»

Benjamin von Blomberg, Dramaturgie

Worum geht es in der Inszenierung? 

«Dürrenmatt möchte, dass wir anerkennen: Ich trage Verantwortung. Es gibt eine Verpflichtung, wissen zu wollen und zu handeln. Neutralität ist verlockend, sie zeigt den Weg zum geringsten Widerstand. Aber sie ist ein Konstrukt. Es gibt sie nicht. Auch sie produziert Verhältnisse. Und sie macht schuldig.»

Handelt der Stoff von Macht oder Ohnmacht? 

«Na ja, das tolle ist ja: das ist Literatur. Und im besten Fall wird Theaterkunst daraus. Das ist alles viel komplexer und dialektischer. Claire kann sich alles kaufen, was sie will; sie denkt: auch Gerechtigkeit. Ist das Macht? Ganz gewiss. Ist die Wurzel des Handelns Macht oder Ohnmacht? Schon schwieriger. Ill ist dieser Macht von Claire schonungslos ausgesetzt – hat er deswegen keine Handlungsmacht (mehr)?»

Wenn den beiden, Claire und Ill, alles zuzutrauen wäre, wie hätte der Besuch der alten Dame auch aussehen können?

«Deine Frage zielt auf etwas ab, was ich auf den Proben oft gesagt habe: es gab einen Moment, gewissermassen vor der Stückhandlung, da hätten Claire und Ill alles füreinander und für andere sein können. Ich mag diesen Gedanken – auch wenn er keine Realität hat und auch Dürrenmatt ihn nicht beschreibt. Oft erzählen Theaterabende ja darüber, was nicht ausgesprochen wird und manchmal nicht einmal gezeigt wird von dem, was sich trotzdem hätte ereignen können – und es einfach nicht dazu kommt. Und ich finde schon, bei Claire und Ill ist zu spüren – auch wieder literarisch gesprochen –, dass sie das Potential für anderen Gedanken, einen anderen Blick auf Dinge und damit für eine andere Welt in sich getragen haben. Aber sie verpassen das. Sie verpassen sich.»