Die Uniformen glänzen funkelnagelneu

Ylva Gasser, Kommandantin der Kompanie Ost der Zürcher Milizfeuerwehr, hat sich die Inszenierung AFTERHOUR von Alexander Giesche angesehen und aus ihrer Warte einen Erfahrungsbericht über die 90 Minuten in der Schiffbau-Box verfasst. In ihrem Text lernen wir etwas über das Wesen der Feuerwehrleute und dass artifizieller Rauchgeruch die Expertin eher an Tee als an ein zerstörerisches Feuer erinnert. 


von Ylva Gasser
erschienen am 14. Juni 2021

Die Arbeit frühzeitig abschliessen, Uniform anziehen, Laptop und Kleidung für einen Theaterbesuch in eine Tasche stopfen, quer durch die Stadt zum Feuerwehr-Kommandanten-Rapport hetzen, sich über Zugsverspätung ärgern, diskutieren, informieren, zur Toilette eilen und Kleider wechseln, auf die Tram springen, durchatmen, ankommen und endlich: nach einer gefühlten Ewigkeit wieder einmal im Theater.

Mein Auftrag: das Stück AFTERHOUR als Feuerwehrfrau anzusehen und darüber berichten. Gerne würde ich noch eine Erfrischung geniessen, aber die Zeit reicht nicht, vielleicht zum Glück, denn die Bar wirkt wie zur Stunde der Lokalschliessung. Ich geselle mich zu den anderen maskierten Wartenden und blicke zum erhöht liegenden Eingang. Gut zu sehen hängt dort ein Schild mit dem Hinweis: Liebes Publikum – in dieser Produktion werden starke Bässe mit niedriger Frequenz sowie ein Stroboskop eingesetzt. Der Theatersaal als Gefahrenzone?

Ein tief klingendes Schiffshorn, das die Türöffnung ankündigt, bringt Bewegung in die Gruppe. Beim Betreten des Raumes ist die ordentlich platzierte Brandschutzkleidung Blickfang: eine rote Jacke und vier schwarze, sowie fünf Helme und Hosen wie es sich gehört über die Stiefel gestülpt, zum schnellen Anziehen bereit.

Endlich sitzend und zur Ruhe kommend, sehe ich mich fünf schwarz gekleideten Schauspielerinnen und Schauspielern mit Atemschutzmaske gegenüber, die schnellen Schrittes auf sich zugehen, sich ausweichen und den Eindruck sinnlosen und ziellosen Hetzens und Jagens vermitteln. Die eilenden Einzelkämpfer scheinen das Miteinander und Füreinander verlernt zu haben. Das laute Atemgeräusch der Maskierten kann beklemmend wirken, Unbehagen auslösen und an die Maske erinnern, die man unter anderen Menschen zu tragen pflegt, wobei der Corona bedingte Mund- und Nasenschutz wohl nur eine der Vielen ist, die wir jeweils der Umgebung angepasst, aufsetzen.

In der sich ausbreitenden Dunkelheit verlangsamen sich die Schritte und eine Figur schiebt ein Wägelchen herbei, legt Kabel aus und lässt eine LED-Fackel aufleuchten. Am Boden wird ein kleines alchemistisches Labor eingerichtet in dem sich die fünf zusammenfinden und vergeblich versuchen in den schweren Mörsern den zündenden Funken zu schlagen. Ihnen bleibt nur Rauch und der durch Masken kaum wahrnehmbare Geruch.

Der Versuch in Anbetracht der Schwärze aus der Vereinzelung zu treten um gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten, erweist sich schnell als uninteressant und anstrengend. Einer nach dem anderen löst sich aus der Gruppe, desinfiziert sich die Hände, stets das auf das eigene Wohl bedacht.

Die Schauspieler*innen verlassen den Raum, so dass ich dem über den Köpfen schwebenden Ring, auf dessen Innenseiten Bilder eines Vulkanausbruches bedrohlich leuchten, mehr Aufmerksamkeit schenken kann.

Es folgt ein energiegeladener Tanz der Schauspieler*innen, die in schwarzen zu Vollschutzanzügen mutierten Baströcken wirbelnd und drehend den Raum erobern. Das Rascheln und Knistern des Kostüms, das Trommeln der Schritte, die laute Musik füllen den Raum.

Hämmernd dröhnender Bass pulsiert in der Box, die Szenerie oszilliert zwischen Schönheit und Bedrohung. Die Figuren, deren Kontouren und Körperlichkeit durch das Kostüm aufgelöst sind, bewegen sich hüpfend und springend auf die Zuschauer*innen zu, die zurückweichen und zusammenzucken. Wenden sich die Gestalten ab, erliegt man fast dem Bedürfnis, berühren zu wollen und streckt verstohlen die Hand nach dem schwarzen Wuschel aus, doch kriegt ihn nicht zu fassen. Die Choreographie lässt an urchige Bräuche wie das Chlausen zur Feier der Jahreswende oder die Tschäggättä denken, die mit ihrem wilden reiben und Schreckeinjagen das Ende der Dunkelheit und Kälte heraufbeschwören.

Wie enorm kraftraubend und schweisstreibend der Tanz im Vollschutzkostüm ist, kann ich gut nachvollziehen und bewundere die Kondition und Koordination der Tanzenden.

Nach diesem Kraftakt nähern sich die Schauspieler*innen, sich des Kostüms entledigt, trinken, rotten sich zusammen, massieren sich und ihre Nächsten mit Massagepistolen, ohne Schutz und Maske. Sie sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie das herabsinkende Unheil, den Feuerkreis, erst bemerken, als es zu spät ist und sie von ihm umschlossen sind.

Es folgt ein zerstörerisches, Häuser und Palmen verschlingendes Feuer, das an die Wand projiziert kreist. Das meterhohe Flammenmeer, das Knistern und Knacken, lässt mich die Hitze missen und die antagonistische Kühle des Raumes spüren. Gleichzeitig schreitet eine Deuteragonistin die Sitzreihen ab und fächert den Zuschauer*innen Brandgeruch zu. Der Duft steigt in die Nase, erinnert nicht an zerstörerisches Feuer, vielmehr an meine morgendliche, heiss geliebte Tasse Lapsang Souchong Tee.

Mit einem Dreibeinteleskopstativ und Leuchte wird der Schadensplatz ausgeleuchtet, melodisches Summen der im Kreis vor Mikrofon positionierten Singenden erfüllt den Raum, derweil der todbringende Rauch durch die Bodenritzen als lautlose Ouvertüre zum unabwendbaren Inferno aufsteigt.

Die Gruppe will das Unheil abwenden, steigt etwas unbeholfen in Brandschutzkleidung, markiert mit SyncFlare LED Warnleuchten die Gefahrenzone und verharrt in Kontemplation, während einer einen Grill aufbaut und Würstchen grilliert. Ein jeder für sich, blicken sie zum Himmel, lauschen dem Krachen und Knallen und essen gedankenversunken. Dieses Bild von Feuerwehrleuten, die einer Katastrophe gegenüberstehen, seelenruhig braten und eine Wurst verdrücken, widerspricht so grundlegend dem Wesen der Feuerwehrleute, die helfen, retten, Feuer bekämpfen und Schaden beheben, dass das Bild einer Henkersmahlzeit umso plakativer wirkt.

Als Ausklang ein kurzer Bericht über den Ausbruch des Tambora im Jahr 1815, die verheerenden weltweiten Auswirkungen und eine Deutung der Entstehungsgeschichte des wohl bekanntesten, hoffnungsbringenden Weihnachtsliedes „Stille Nacht“. Mit knurrendem Magen und fröstelnd verlasse ich die Bühne des inszenierten Weltuntergangs. Ein letzter Blick gilt der achtlos herumliegenden Bandschutzkleidung. Die Uniformen glänzen funkelnagelneu ohne jegliche Trag- und Gebrauchsspuren, an den Helmen nicht der kleinste Kratzer. Welche Feuerwehrfrau, welcher Feuerwehrmann würde seine Uniform fallen und liegen lassen, das Schreckensszenario stillschweigend und tatenlos verlassen? Wohl keine*r.