Directors Talk:
Alexander Giesche
und Suna Gürler

In der Reihe Directors Talk nehmen Sie unsere Hausregisseur*innen Alexander Giesche, Suna Gürler, Trajal Harrell, Yana Ross, Christopher Rüping, Nicolas Stemann, Wu Tsang sowie Co-Intendant Benjamin von Blomberg in acht Gesprächen mit in die Produktionen der Spielzeit 2021/22. Sie haben sich während des zweiten Lockdowns auf Zoom zum Austausch über das Hier, Jetzt und Morgen getroffen, immer zu zweit, einmal reihum. Die Gespräche sind Teil des Saisonvorschau, die die Spielzeit 2021/2022 vorstellt und ab sofort in all unseren Spielstätten ausliegt, sowie kostenlos online bestellt werden kann. 


erschienen am 31. August 2021

«Ich finde es viel schöner einzuladen, als eingeladen zu werden.»

[19:15] Alexander Giesche: Hallo. Suna Gürler: Hello. Jetzt besser? Ah, super. Es ist wie den Computer neustarten. Es gibt eben dieses neue Programm für Zoom¹, mit dem man so Störgeräusche abspielen kann, zum Beispiel Baustelle im Hintergrund oder so. Das ist geil. Ja, oder man kann ein Echo von sich selbst einspielen. Ich frag mich, wie oft Leute schon einfach auf Apfel-Q gedrückt und gesagt haben: «Irgendwie ist mein Computer abgestürzt» oder «meine Internetverbindung ist weg». Sag mal, hattest du eigentlich bei unserer Präsentation für die nächste Spielzeit etwas vorgestellt? Ja. Es gibt eine erste Idee, wir sind erst am Anfang. Es wird ein neues Stück mit Jugendlichen in den Hauptrollen, das mehrere Autor*innen zusammen schreiben. Auf Schweizerdeutsch oder Hochdeutsch? Auf Schweizerdeutsch. Es gibt eine grobe Idee: Am Anfang steht ein Vorfall von rassistischer Polizeigewalt gegenüber einer jugendlichen Schwarzen Schweizer Person. Davon ausgehend entwickeln wir unterschiedliche Perspektiven und Reaktionen auf dieses Ereignis: Wie geht die betroffene Person selbst damit um? Was tut umgekehrt jemand, die Zeugin des Vorfalls wurde und eigentlich nichts damit zu tun haben möchte, ja sogar ablehnt, dass die Tat rassistisch motiviert sein könnte? Und wie verhalten sich weitere Personen im Umfeld von Opfer und Zeugin? Welche Rolle spielen ihre Sozialisierungen, Mindsets, Privilegien, Rassifizierungen, Geschlecht, Klassenzugehörigkeiten beim Umgang mit dem Vorfall? Ich wünsche mir, dass alle Figuren, egal wie sie ihre Zugehörigkeiten definieren, im Verlauf des Stückes politisches Bewusstsein erlangen, weil sie emotional ins Geschehnis involviert werden, sich damit auseinandersetzen und positionieren müssen. Das Stück wird, glaube ich, so etwas wie eine politische Coming-of-Age-Story. Spannend wird es ja, wenn die individuellen Probleme sichtbar werden im Politischen. Genau. Oder man denkt, es sind individuelle Probleme, die aber eigentlich strukturell bedingt sind. Und vielleicht, doch, ja, könnte es darum gehen, ins Handeln oder erstmal in eine Wut zu kommen und darüber ins Handeln, in einen Aktivismus. Ich finde es immer total spannend, zuerst auch eine Bestandsaufnahme zu machen: Okay, wo stehen wir jetzt gerade in Zürich? Es ist voll gut, dass wir heute hier sprechen. Ich würde gern nächstes Jahr einen Jugendclub machen, Suna. Echt? Ja, komm, lass uns mal darüber sprechen. Was interessiert dich denn daran? Ich merke, dass ich irgendwie total Lust hätte, mit Jugendlichen zu arbeiten… Also ich verstehe ihre Wut oder vielleicht besser Verzweiflung im Moment sehr… Ich denke ja, dass es in Der Mensch erscheint im Holozän² hauptsächlich darum ging, dass man der nächsten Generation Kids dieses Survival Training beibringt und sie anspornt und sagt: Schneller, schneller, ihr schafft das schon. Da habe ich einfach gemerkt, dass ich es superwichtig finde, die an der Hand zu nehmen und auch zu ermutigen, Alternativen erdenken zu können. Ich war ja auch mal im Jugendclub in München, in den Kammerspielen. In den Kammerspielen warst du? Ja. Und ich glaube, ich kann mich ziemlich gut auch damit identifizieren, was du als apolitischer Jugendlicher beschreiben würdest, der aus so einem gutbürgerlichen Häuschen kam und sich da erstmal freischwimmen konnte. Das Schöne ist: am Anfang des Jugendclubjahrs bist du überhaupt nicht produktiv. Kennenlernen, rumtoben, improvisieren. Ja, kennenlernen von Theater und der Gruppe. Ich hätte auf jeden Fall Lust auf diese Begegnung – auch für mich. Und gar nicht zwingend vom Ergebnis abhängig, sondern einfach nur, weil ich es gerade total wichtig finde, dass man Jugendlichen eine Perspektive bietet. Und ich glaube daran, dass Theater das eben kann – eine andere Welt denken. Ja, voll schön, dass dich das interessiert. Oft verändert das einen jungen Menschen sehr stark, so ein Projekt mit anderen Menschen durchzuziehen, also auch durch die ganzen Zweifel zu gehen, bis hin zu dem Erfolgserlebnis und dieser Erleichterung nach dem Applaus. Aber ich merke jetzt, dass solche Clubs besonders wichtig sind, jetzt in dieser Pandemie, wo alles wegfällt. Der Zusammenhalt ist sehr stark. Doch ich hatte wirklich Angst, dass die Gruppe auseinanderbricht in dieser Zoom-Zeit; wir sind uns fast drei Monate nur auf Zoom begegnet. Und dann haben wir uns zum ersten Mal wieder getroffen, es sind fast alle gekommen, bis auf einen. Wir durften uns nicht drinnen treffen und haben draussen bei einem Grad gefroren im Regen, das war schon krass. Ich bin damals wegen meiner besten Freundin da hin. Ja?! So lustig, ich wegen meiner Mutter. Sie wollte, dass du dienstagabends was zu tun hast?! Genau. Ich war so schüchtern und dann hat sie ein Inserat in der Zeitung gesehen vom jungen theater basel und hat mich da mehr oder weniger hingeschleppt. Aber ich habe mich nicht getraut, alleine hinzugehen. Und dann habe ich dann alle Leute durchgefragt in der Schule, bis jemand sich bereiterklärt hat, mit mir hinzugehen. Naja, aber erzähl du doch mal. Du beschäftigst dich nächstes Jahr mit Momo, oder? Ja. Ich freue mich da wahnsinnig drauf. Hast du Momo gekannt als Kind? Klar. Der Spitzname meines besten Freundes war lustigerweise Momo. Und allein dadurch hatte dieses Buch noch einmal eine ganz andere Aufladung bekommen. Aber generell, diese Michael-Ende-Meta-Welten… Da war ich ziemlich drin. Das war mein Kinderbuchautor. Und ja, Momo… Drei Projekte zum Thema Ende. Was? Ich habe dann in Zürich drei Projekte nacheinander zum Thema «Ende» gemacht. In der dritten Spielzeit wäre es eben der Michael Ende? Was für ein Bogen! Ich bin neidisch. Ja, mal schauen, wie viel dann übrig bleibt vom Ende. Also Momo soll ein Projekt über Asynchronität und Effizienz sein. Und eigentlich eine künstlerische Recherche zur Frage: Brauchen wir eine Neubewertung von Erfolg? Gibt’s da nicht noch andere Kategorien ausser Klicks und Auslastungszahlen? Welchen Konzepten rennen wir da eigentlich hinterher? Ich habe das Gefühl, ich bin ein bisschen ein digitaler Borderliner. Das Internet kam früh genug, dass es wirklich mein Leben verändert hat. Und deshalb habe ich auch extremes Verständnis für die Generation meiner Mutter, der das alles zu schnell geht und die nie im Leben auf die Idee käme, ein Tutorial zu schauen oder zu googlen, wie macht man denn das? Gleichzeitig merkt man jetzt, dass gerade eine Generation herangewachsen ist, die schon mit Instagram gross geworden ist. Wir waren die mit Facebook – ich war 18 oder 20, als das aus Grossbritannien rübergeschwappt ist. Das fand ich irgendwie noch superseltsam. Es ist heute so einfach geworden, sich zum Beispiel wie jetzt über Zoom zu unterhalten – aber wir haben es dennoch noch nicht richtig gelernt, in Echtzeit. Also ich habe das Gefühl, ich bin immer noch ein völliger Anfänger, was E-Mails angeht. Aber ich glaube, E-Mails… das wird auch wieder aussterben. Das ist nur so eine Übergangserscheinung. Und dann diese nervigen Kontroll-SMS: «Hast du meine E-Mail vor drei Minuten noch nicht gelesen?» – «Nee, Entschuldigung.» Entschleunigung kann ja auch überhaupt nicht das Ziel sein, aber irgendwie so eine Form von Konzentration oder einen anderen Umgang wünsche ich mir für mich privat. Mal gucken, was das wird, aber ich finde, nach so zwei Jahren, wo jede*r sein Fitnessstudio und seine*ihre Sauna nach Hause geholt hat und da sein oder ihr Leben völlig an den anderen vorbei vor sich hin wurschtelt, könnte das ganz schön spannend werden, zu gucken, was heisst es eigentlich, auf diesem Ergometer zu – warten. Ja, das ist interessant. Mir fällt auch gerade ein, mein Vater hat mal mich und meine Schwester zur Rede gestellt, weil wir so unzuverlässig antworteten in unserem Familienchat. Und da habe ich mal gezählt, mit wie vielen Leuten ich eigentlich jeden Tag schreibe und wie viele Chats ich habe. Das sind 60 bis 100, 150 Menschen! Das ist für die unvorstellbar. Für mich allerdings auch. Ja, es klingt jetzt doof, aber ich freue mich sehr, dass du dich mit Momo beschäftigst. Das habe ich nicht erwartet, aber dann, als ich es hörte, dachte ich: Geil. Das hat aber auch was mit einer Umjustierung der eigenen Brille zu tun. Was heisst es denn für mich, erfolgreich zu sein? Heisst es, mit meiner Familie Zeit verbringen zu können? Oder heisst das, 17 Stücke im Jahr zu machen, um dann meine… Genau das ist es! …Familie einzuladen zur Premiere und sie nur 17 Tage im Jahr zu sehen? Ich habe einen Freund, der kann seine Arbeitsschichten wählen, und er hat extra einen physischen Geburtstagskalender von all seinen engsten Bekannten, und er setzt sich hin und arbeitet einfach an diesen Tagen nicht. Nie im Jahr. Das ist toll. Und das ist so mein Vorbild. Das ist wirklich etwas, was ich sehr beneide. Ich vergesse Geburtstage immer. Aber vielleicht auch, weil mein Geburtstag immer in den Schulferien lag und es deshalb nie eine Party für mich gab. Ach so, du bist der Grinch!³ Der Grinch, der Weihnachten hasst, weil er selber nicht mitfeiern durfte. Ich lade ja gerne ein. Ich finde es auch wirklich viel schöner, einzuladen, als eingeladen zu werden. Aber ja, Geburtstage. Glaubst du an den Sommer? Hm, nicht wirklich. Du? Weiss ich nicht so genau. Keine Ahnung. Ich arbeite einfach schon zu lange mit dem grössten Optimisten zusammen, den es gibt. Da musst du manchmal den grössten Pessimisten geben? Ich würde sagen: Realisten. In diesem Sinne: einen schönen Abend. (Sunas Zoom hängt, Alex reisst den Mund und verharrt in dieser Position.) Jetzt sehe ich dich wieder. Hallo! Sieht sehr schön aus. Aha. Ja, wir verabschieden uns gerade, oder? Ja. Wunderbar. Also… Einen schönen Abend. Dir auch. Tschüss. Ciao ciao. [20:05]

1 Zoom Escaper, www.zoomescaper.com

2 Der Mensch erscheint im Holozän ist Alexander Giesches erste Inszenierung am Schauspielhaus Zürich. Sie wurde zum Berliner Theatertreffen 2019 eingeladen und u.a. mit dem 3Sat-Preis ausgezeichnet. Wiederaufnahme geplant!

3 Je nach Erzählung oder Verfilmung ist der Grinch eine eigenbrötlerische Kreatur mit grünem Fell, die einsam in einer Höhle lebt und Weihnachten hasst. Spoiler: Das liegt daran, dass der Grinch als kleiner Grinch ganz alleine und traurig war, während alle anderen superhappy Weihnachten in Gesellschaft feiern konnten.