Directors Talk:
Christopher Rüping und
Alexander Giesche

In der Reihe Directors Talk nehmen Sie unsere Hausregisseur*innen Alexander Giesche, Suna Gürler, Trajal Harrell, Yana Ross, Christopher Rüping, Nicolas Stemann, Wu Tsang sowie Co-Intendant Benjamin von Blomberg in acht Gesprächen mit in die Produktionen der Spielzeit 2021/22. Sie haben sich während des zweiten Lockdowns auf Zoom zum Austausch über das Hier, Jetzt und Morgen getroffen, immer zu zweit, einmal reihum. Die Gespräche sind Teil des Saisonvorschau, die die Spielzeit 2021/2022 vorstellt und ab sofort in all unseren Spielstätten ausliegt, sowie kostenlos online bestellt werden kann. 


erschienen am 30. August 2021

«Die Götter und Helden gehen unter und machen Platz – für was eigentlich?»

[19:18] Alexander Giesche: Wie nah sind wir uns? 511km Luftlinie Zürich – Rühle Bodenwerder. Christopher Rüping: Neben der räumlichen Entfernung… Ich würde sagen, wenn wir uns sehen, sind wir uns doch nah. Aber ich finde es trotzdem eine krasse Aufgabe, dieses Gespräch. Also nicht für uns, sondern für die, die das redigieren müssen. Ich mein, wie machst du das mit Interviews? Ich schreibe immer alles um. Ja, ich auch meistens. Viel Spass, Ihr Redigierenden! Ihr werdet bearbeiten, dann werdet ihr es uns zurückschicken, und dann werden wir es nochmals umschreiben. Ja, absolut! Du hast jetzt noch kein Gespräch gemacht, oder? Nein, nein. Ich gehe morgen noch virtuell zu Suna. Ah, schön. Ich habe schon mit Trajal gesprochen und habe folgende Frage für dich. Wu hat sie Trajal gestellt, Trajal mir und jetzt stelle ich sie dir – wie früher bei den Kettenbriefen, weisst du noch? Also die Frage heisst: Würdest du gerne mal eine Oper machen? Ich habe jetzt ständig Anfragen dafür. Ist doch… ...ja, ne?! Das hab ich mir gedacht, Alex! Ich kann mir gut vorstellen, dass die Opernhäuser sich denken, wow, der Giesche… Ich kann’s mir lustigerweise so gar nicht vorstellen, und finde es deshalb spannend. Jetzt mach ich erstmal Theater, neuerdings. Ja, aus der Nummer kommst du so schnell nicht wieder raus… Seit wann würdest du sagen, machst du Theater? Wenn du sagst: neuerdings. Das war natürlich Koketterie. Immer schon. Ich bin Theatermacher. Aber es wird von aussen plötzlich anders wahrgenommen. Ich weiss, wie Leute anders auf Der Mensch erscheint im Holozän geschaut haben, weil da plötzlich diese Überschrift drüber stand. Die Überschrift des kanonischen Textes? Max Frisch? Ja. Ganz ehrlich, ich kannte den Titel Der Mensch erscheint im Holozän nicht. Deshalb funktionierte er auch so toll, alle kommen mit dieser Erwartung: «Max Frisch, oh Hochkultur», aber keine*r hat eine Ahnung… und am Ende traut sich keine*r zu sagen: Aber das war gar nicht so wie im Buch! Ich finde das wirklich den aufregendsten Text von Frisch und eben auch den dankbarsten. Ja, wer weiss, mit welchen Erwartungshaltungen du dich auseinandersetzen hättest müssen, wenn du mit Homo Faber um die Ecke gekommen wärst… Ist es nach wie vor dein Plan, nächste Spielzeit Momo zu inszenieren? Das ist geplant, ja. Es ist so verrückt, jetzt gerade in einer Produktion zu stecken, die letztes Jahr noch Spekulation hiess und auch dieses Jahr sich noch nicht materialisiert hat, und schon über die nächste zu sprechen. Ich frage mich dann auch: Wie lange machen wir dieses Spiel mit den Saisonvorschauen noch? Bis dann das Publikum wirklich nicht mehr reinguckt, weil sie nicht mehr glauben, dass es sich irgendwann ereignen wird? Wobei ich das so verstanden hatte, dass im Spielzeitheft, in dem dann auch dieses Gespräch drinsteht, genau aus diesen Gründen keine Ankündigungen für neue Inszenierungen gemacht werden… oder? Wir sollen aber doch über die Sachen sprechen, die wir vorhaben. Genau, wir sollen über die Sachen sprechen. Deswegen versuche ich ja so ganz smooth eine Überleitung hinzukriegen. Momo! Das ist ja auf jeden Fall so ein Text, mit dem jede*r was verbindet. Er ist nicht für… in deiner Ankündigung heisst es: Nicht für Kinder, sondern für Erwachsene. Ein Märchen für Erwachsene? Das ist spannend, auch im Hinblick auf Holozän. Ich möchte mit Momo explizit ausprobieren, was passiert, wenn ich das Prinzip «Visual Poem»¹ auf einen Stoff anwende, bei dem die Leute extrem viele Erwartungshaltungen mitbringen. Ich weiss noch, wie eifersüchtig ich auf Trajal [Harrell] in München war, an den Kammerspielen, dass der einfach Juliet & Romeo² gemacht hat. Damit kann er dann machen was er will! Stimmt natürlich nicht, aber ich dachte: Wie toll, mal mit so einem Material zu arbeiten, bei dem die Leute von selbst schon ganz viele Emotionen mitbringen. Und Momo ist eben meiner Ansicht nach so ein Standardwerk meiner Generation. Das Schönste an der Figur Momo ist für mich, dass sie zuhören kann. Ja genau, sie ist die beste Zuhörerin der Welt… Weil sie sich Zeit nimmt. Das würde ich gerne öfters können. Zuhören und Leute nicht unterbrechen. Die Ruhe dafür haben. Ich erinnere mich, dass Momo mich als Kind in eine existenzielle Krise gestürzt hat. Weil doch irgendwann die Zeit stehenbleibt – und wenn sie dann weiterläuft, kann niemand sich an den Stillstand zuvor erinnern. Ich habe also gedacht, ich dachte: Wenn jetzt nach jeder Stunde die Zeit für Tausende von Jahren anhalten würde – wir würden das nicht merken. Das wäre einfach unser Leben. Auf jede Stunde folgen tausend Jahre stiller Ewigkeit. Das ist jetzt gemein, dass du so viel zu Momo sagen kannst, weil ich zugeben muss, mit Wagner kenne ich mich null aus. Überleitung! Ausser dass Wagner mich bei Melancholia³ das erste Mal umgehauen hat, musikalisch. Sonst interessierte er mich eigentlich nur wegen des Gesamtkunstwerk-Begriffs, und wegen seiner Erfindung der Dunkelheit. Es gibt ja nur wegen Wagner den abgedunkelten Zuschauerraum. Wieso? Den gab’s davor nicht. Den hat er für Bayreuth eingeführt, damit man sich auf das Bühnengeschehen konzentrieren kann. Es war nicht so radikal geplant, aber weil es bei der Eröffnung des Opernhauses technische Probleme gab und die Gasbeleuchtung völlig ausfiel, war es plötzlich stockfinster. Das hat ihm gefallen – und das gefällt wiederum mir. Aber alles Weitere, der ganze Missbrauch seiner Werke… Ich habe null Idee, um was es in diesen ganzen Sagen geht, also wirklich null. Naja, also, ich würde sagen, es geht um den Untergang der nordischen Götter. Götterdämmerung halt. Und die kommt als monumentale Untergangsphantasie daher, mit Zwergen, Riesen, Menschen und Pferden, die ins Feuer geritten werden. Bevor ich mich jetzt etwas näher mit ihm beschäftigt habe, hatte ich auch irgendwie abgespeichert, dass Wagners Kunst von den Nazis vereinnahmt und missverstanden wurde. Aber das stimmt nicht so ganz: Wagner war Nationalist, strammer Antisemit und besessen von der Idee der Einheit eines Volkes, also des deutschen. Deswegen hatte er den Plan, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, unter dessen Banner sich eben dieses Volk der Deutschen versammeln liesse. Und natürlich sollte dieses «Gesamtkunstwerk» ebenso einheitlich sein wie sein Publikum, am besten also aus nur einer Feder stammen, nämlich aus seiner. Also schreibt Wagner die Musik, den Text, macht das Licht im Zuschauerraum aus, baut ein Dach über sein Orchester, dirigiert selbst, inszeniert selbst, macht die Kostüme selbst, macht… macht eigentlich alles selbst. Lässt keine anderen Perspektiven zu. Auch im Text nicht. Es gibt die Deutschen – und es gibt die Anderen. Aber die anderen sollen bloss nicht zu viel reden, nachher glaubt man ihnen noch. Und jetzt sollte man denken, am Ende gewinnen halt diese Deutschen, Siegfried und Siegmund, Sieglinde und wie die alle heissen… Siegfried ist gerade gestorben. Oder war’s Roy? Nein beide. Beide sind jetzt tot. Ich weiss nur, dass der eine so eine katholische Nonne als Schwester hat, die jetzt alles erbt. Ah echt?! Am Ende also doch noch himmlische Versöhnung, oder wie? Die Nonne erbt das Tigergeld… Jedenfalls: man würde denken, der stramm antisemitische, der stramm nationalistische Wagner würde erzählen, dass das deutsche Geschlecht am Ende ein tausendjähriges Reich gründet und über einer Welt im Morgentau thront. Ist aber nicht so. Die gehen unter. Mit allen Po saunen und Trompeten, die Bayreuth so hergibt, natürlich, aber das bleibt der Twist am Ring: Die Götter und Helden gehen unter und machen Platz – für was eigentlich? Da sagt Wagner nix zu. Du hast von den Erwartungshaltungen des Publikums bei Momo und bei Max Frisch gesprochen. Manchmal machen diese Erwartungshaltungen es uns ja ganz schön schwer. Für Necati⁴, den Autor unseres Rings, sind sie aber die Grundvoraussetzung seiner Arbeit. Was ihn interessiert, ist das Korrigieren kanonischer Werke, die so nicht mehr spielbar sind. Das funktioniert am besten, je bekannter das Werk ist – nur dann macht eine Korrektur wirklich Sinn. Klar, dann hast du keine Zeit verschwendet mit dem falschen Original. Die Frage bei einem so problematischen Werk wie dem Ring ist ja immer, ob nicht die Beschäftigung mit diesen Werken automatisch eine Verbeugung vor denselbigen ist – ganz egal, wie kritisch man dann darauf blickt. Aber ich denke, dass ein Werk wie der Ring nun mal eine Säule unseres gemeinschaftlichen kulturellen Unterbewusstseins ist, unabhängig davon, ob man sich mit ihr beschäftigt oder nicht. Und ich glaube, dass es sinnvoll ist, die Tragfähigkeit dieser Säulen ab und zu zu überprüfen, bevor das ganze Gebäude über uns zusammenstürzt. Nur so könnte man sich auch dazu entschliessen, fortan auf gewisse Stützpfeiler besser komplett zu verzichten. Wenn man sie ignoriert, ändert das nichts an ihrer Existenz. Vielleicht gibt es in dieser Hinsicht eine Verwandtschaft zwischen Momo und dem Ring, denn obwohl Momo viel weniger toxisch ist, haben beide gemeinsam, dass sie für viele Menschen Stützpfeiler ihrer kulturellen Identität sind. Wenn man solche Werke auf die Bühne bringt, stellt sich immer die Frage, wie man mit den an sie geknüpften Erwartungshaltungen umgeht – enttäuschen wird man sie auf die ein oder andere Weise auf jeden Fall. Aber wie bekommt man diese Enttäuschung produktiv? Ich frag mich auch, wie das gehen kann. Wir haben unseren ersten Workshop-Block für Momo Ende Mai… So bald! Ja, um das Buch zu lesen, mit Karin [Pfammatter] und Maximilian [Reichert]. Karin und Max waren dann in hundert Prozent deiner Inszenierungen am Schauspielhaus Zürich mit dabei. Ich bin ja auch ursprünglich wegen dieser Kontinuitäten nach Zürich gekommen. Nadia, Ludwig und Felix⁵, aber auch neue Begegnungen sowie Wiederbegegnungen wie mit Thomas und Daniel⁶ jetzt gerade bei AFTERHOUR. Ich kenne das von anderen Arbeitszusammenhängen: Am Anfang ist es toll, aber so richtig interessant wird es erst ab der dritten Arbeit. Das ist schon etwas, nach dem ich mich sehne. Mit Leuten weitermachen, weiterarbeiten. Etwas zusammen zu erleben und langfristig zu verändern. Ja, das geht mir genauso. Leider hat Corona uns da erstmal einen Strich durch die Rechnung gemacht – sowohl was das kontinuierliche Weiterarbeiten mit Vertrauten angeht als auch das Treffen und Kennenlernen von bisher noch Unbekannten. Aber hey Alex, wir haben über eine Stunde geredet. Ich glaube, wir sollten aufhören. Ich weiss echt nicht, wie die daraus irgendwas Kohärentes kondensieren wollen…[20:07]

1 Alexander Giesche bezeichnet seine Inszenierungen oft als Visual Poems. Ein Visual Poem ist ein verdichteter Raum aus atmosphärischen Bildwelten, deren Zusammenhang nicht so sehr den Gesetzen der Logik in Zeit und Raum oder einer Narration folgt, sondern den imaginativen Regeln der Poesie auf einer Bühnenlandschaft, belebt von menschlichen und nicht-menschlichen Körpern, Licht, Klang, Bewegung und Sprache.

2 Nach Shakespeares Romeo und Julia.

3 Film von Lars von Trier, bei dem der «Liebestod» aus Tristan und Isolde zu hören ist.

4 Necati Öziri ist ein deutscher Autor und lebt in Berlin. Für das Schauspielhaus Zürich hat er 2019 schon Die Verlobung in St. Domingo – ein Widerspruch geschrieben und damit Heinrich von Kleists Original korrigiert. Er ist grosser Fan von Jogginghosen und leitet das Internationale Forum am Berliner Theatertreffen.

5 Die Bühnenbildnerin Nadia Fistarol, der Musiker Ludwig Abraham und der bildende Künstler Felix Siwiński gehören zum langjährigen künstlerischen Team von Alexander Giesche. Nadia Fistarol hat übrigens zusammen mit Alexander Giesche 2019 das Pfauen-Foyer neugestaltet.

6 Thomas Wodianka und Daniel Lommatzsch sind Teil des Schauspielhaus-Ensembles.