Directors Talk:
Wu Tsang und Trajal Harrell

In der Reihe Directors Talk nehmen Sie unsere Hausregisseur*innen Alexander Giesche, Suna Gürler, Trajal Harrell, Yana Ross, Christopher Rüping, Nicolas Stemann, Wu Tsang sowie Co-Intendant Benjamin von Blomberg in acht Gesprächen mit in die Produktionen der Spielzeit 2021/22. Sie haben sich während des zweiten Lockdowns auf Zoom zum Austausch über das Hier, Jetzt und Morgen getroffen, immer zu zweit, einmal reihum. Die Gespräche sind Teil des Saisonvorschau, die die Spielzeit 2021/2022 vorstellt und ab sofort in all unseren Spielstätten ausliegt, sowie kostenlos online bestellt werden kann. 


erschienen am 28. August 2021

«Es wird etwas dabei herauskommen, das dich wahrscheinlich transformieren wird.»

[14:02] Wu Tsang: Hallo. Trajal Harrell: Hallo. Sorry, ich bin ein bisschen... Ich bin auf den falschen Link gegangen, den für mich und Christopher. Wie geht es dir? Gut, wie geht es dir? Warte, also, das ist eine Aufnahme, also bedeutet das, dass jemand es aufnimmt? Ja, es wird aufgezeichnet. Sie werden die Aufnahme nicht verwenden, sondern die Abschrift nehmen. Gut, OK. Cool. Ich sag dir: Ich werde nächste Woche nach Paris fahren. Sie haben mich eingeladen, etwas zu machen: Streaming. Ich habe noch nie gestreamt. Und ich habe zu allem Nein gesagt, was mit dem Streaming meiner Arbeit zu tun hatte. Aber dann wurde mir klar, dass ich immer davon geträumt habe, im Fondation Cartier Gebäude zu performen. Und mir wurde klar, dass es das erste Mal ist, dass ich etwas speziell für Film oder Videofilm mache. Nicht für eine Dokumentation. Nicht, dass wir viel darüber gesprochen hätten, aber deine Arbeit zu sehen, hat mich irgendwie ermutigt. Ich denke, da ist etwas an deiner Arbeit, das für mich... Es geht nicht einmal um Tanz im Film, es ist nur die Art und Weise, wie du Bewegung und Tanz integriert hast, und es ist eindeutig transdisziplinär. Aber ich denke, dass die Ästhetik für mich eine Art choreografische Stimme hat und sie ermutigt mich zu sagen: Oh, es ist irgendwie möglich. Es ist möglich, in diesem Medium die gleichen ästhetischen Fragen oder Wünsche zu reflektieren, die man in der Live-Performance hat, verstehst du? Ich könnte mir vorstellen, dass es etwas mit deiner Beziehung zu Moved by the Motion¹ zu tun hat, diese Gruppe, die du hast. Da ist etwas, das man spürt, das diesem choreografischen Gefüge ein Gewicht gibt. Es ist wie eine Intuition. Es ist eine Form des Träumens, oder eine Form der Wertschätzung einer anderen Art der Wahrnehmung. Danke, Trajal. Das ist wirklich... Es berührt mich sehr, dass du das sagst. Ja, wenn das vorbei ist, ich meine, es ist eine sehr spezielle Sache, aber ich würde gerne mit dir darüber sprechen. Das ist cool. Also, was machst du in der nächsten Saison? Darüber sollten wir doch reden, oder? 2022 ist irgendwie verrückt, weil ich das Gefühl habe, dass alles ins Jahr 2022 geht. Ich glaube, die meisten Pandemie-Absagen werden auf 2022 verschoben; aber ich hatte beschlossen, dass das erste Stück, das ich mache, ein Stück namens Monkey off My Back or the Cat's Meow ist. Es ist ein Stück in der Schiffbau-Halle. Und ich wollte etwas über das Nichts machen. Ich habe 22 Jahre lang gearbeitet, das ist keine kleine Zeitspanne, weißt du. Und ich habe das Gefühl, dass ich die ganze Zeit lang die Arbeit, die ich gemacht habe, rationalisieren musste. Ich musste darüber reden, ich musste ein Projekt darüber schreiben, ich musste es irgendwie in seine Existenz rationalisieren. Und durch die Beziehung, die ich mit dem Schauspielhaus Zürich habe, ist es zum Glück das erste Mal, dass ich das nicht wirklich tun musste. Und es ist mein größtes Stück bis jetzt. Ich habe noch nie so ein Stück für 18 oder 19 Personen gemacht. Oh, wow! Mein grösstes war bisher zwölf. Ich liebe es, wenn du «Nichts» sagst, was das als Modenschau² bedeutet. Denn wenn du «Nichts» sagst: In meinem Kopf gab es nur dich in der leeren Halle oder so. Es ist wirklich interessant, was du mit dem Nichts meinst, so etwas wie keine Zwänge oder so, keine konzeptionellen, engen Höschen oder so etwas. Ich fühle mich nicht verpflichtet, dem Publikum an dieser Stelle irgendeine Idee mitzuteilen. Ich weiß, dass es aufkommen wird, da bin ich mir sicher. Es ist ein Privileg, das will ich damit sagen. Es hat etwas Politisches, dass ich festgestellt habe in einem Raum zu sein, in dem ich nicht für Fördermittel schreiben muss. Ja, also, denkst du auch darüber nach, was dabei herauskommt, wenn du diese Einschränkung oder diesen üblichen frontalen Druck wegnimmst. Es wird etwas dabei herauskommen, das dich wahrscheinlich verändern wird, weißt du? Das hoffe ich. Und dann machen wir das Stück, das durch die Pandemie unterbrochen wurde. Das ist ein Stück namens The Deathbed of Katherine Dunham, es ist Teil einer Trilogie, die ich seit 2017 unter dem Titel Porca Miseria gemacht habe. Wir wollten es diesen Frühling spielen und... Ich bin sicher, du weißt, wer Katherine Dunham ist, oder? Ja, also, ich habe dich schon ein bisschen über das Stück reden hören und ich kann es kaum erwarten, dass es endlich herauskommt. Ja, sie ist eine sehr bekannte afroamerikanische Choreografin. Ich sage, sie ist Afroamerikanerin, weil ich glaube, dass das für sie wichtig war, für ihr Vermächtnis und für ihren Aktivismus. Sie war eine Aktivistin. Ihre wichtigste Recherche galt dem haitianischen Voodoo und sie schaute sich viele karibische Tänze an, aber auch Tänze aus den Vereinigten Staaten, aus dem Süden, der afroamerikanischen Kultur und eigentlich aus der ganzen Welt. Es gibt zwei Dinge, die in diesem Stück wichtig sind. Das eine ist, dass mich ein Freund 2006 anrief und mir sagte, dass Dunham im Sterben läge und fragte, ob ich sie besuchen wolle. Ich hatte keine Beziehung zu ihrer Arbeit, außer dass ich einmal versucht habe, einen Dunham-Kurs zu machen und es zu hart für mich war. Es war sehr, sehr schwierig. Ich hielt kurz inne und dachte: «Okay, das ist nichts für mich.» Aber ich wusste, dass ich mir diese Chance nicht entgehen lassen konnte. Ich wusste, dass sie eine wichtige Figur in der Tanzgeschichte war. Aber ich hatte kein Katherine Dunham-Ding. Und die zweite Sache war, dass sich durch einige Recherchen herausstellte, dass Katherine Dunham wahrscheinlich - auch wenn die Geschichte sehr undurchsichtig ist - aber es ist sehr wahrscheinlich, dass sie in Kontakt mit Tatsumi Hijikata³ in Japan war. Bevor er das erste Butoh⁴ Stück macht. Und dann haben wir gedacht: Oh! Und nach diesem Tag geht er in den Norden Japans, wo er herkommt, um schamanistische Praktiken zu studieren. Und sobald man anfängt, zwei und zwei zusammenzuzählen - im ersten Butoh-Stück erdrosselt er ein Huhn, was leicht etwas aus einem Voodoo-Ritual sein könnte - beginnt man zu begreifen: Oh, vielleicht hat er ein paar Ideen von ihr, sie teilen ein paar Gedanken, was auch immer, egal, egal. Und wenn man jetzt anfängt, Butoh zu sehen, wenn man innehält und Butoh durch die Linse des Voodoo betrachtet, macht es völlig Sinn. Also, diese zwei Dinge, diese zwei historischen Lücken sind das, womit ich mich beschäftige. Das klingt sehr schön. Ich meine, es ist so, als ob du dir vorstellst, worüber sie gesprochen haben könnten oder auch nicht. Aber auch, dass es keine Rolle spielt, weil es einfach da ist. Weisst du, was ich meine? Das machst du auch in deiner Arbeit. Du beschäftigst dich mit historischen Figuren und historischen Stimmen; du bringst sie in die Poesie deines Werkes ein. Und ich habe das Gefühl, dass es so etwas wie die Anerkennung eines Vermächtnisses gibt. Wenn du Figuren aus der Geschichte oder ihre Stimmen verwendest, fühlst du dich ihrem Vermächtnis gegenüber verantwortlich? Ich denke, das habe ich mit Sicherheit in einigen meiner Projekte getan. Dabei fällt mir ein Film mit dem Titel Duilian ein, den ich gemacht habe über eine chinesische Revolutionärin, die in China so etwas wie eine Jeanne d'Arc-Feministin ist. Sie ist sehr bekannt und irgendwie allgegenwärtig. Und ich hatte all diese Recherche gemacht über eine mögliche intensive Beziehung, die sie mit dieser Frau hatte, die ihr Leben verändert hat und sie hatten diese sehr romantische Korrespondenz über Jahre hinweg. Und ich erinnere mich, dass ich damals sehr nervös war... Ich glaube, es ist einfach diese Sache, dass queere Filmemacher oder queere Künstler in diese Fallen tappen, wenn es um die Narrative geht, die man uns auferlegt, wie zum Beispiel die Rückgewinnung unserer Geschichte oder so etwas. Für mich war das nie von Interesse. Ich war nicht daran interessiert, die Geschichte zu erzählen, sondern daran, die Unmöglichkeit zu spüren, sie zu erzählen. Die Art und Weise, wie queere Menschen über ihre Geschichte nachdenken müssen, da gibt es einen nahezu parallelen Prozess, bei dem es um Vorstellungskraft und auch um Übersetzung geht und um das Lesen zwischen den Zeilen. Ich finde das lustig, denn Moby Dick, der Film, den ich nächstes Jahr im Programm vorstelle, hat viel davon. Denn eines der ersten Dinge, die mich zu dem Roman gebracht haben, war, dass er sehr queer ist; aber ich denke auch, dass das für mich im Moment das Uninteressanteste ist, denn es war nur eine Art Ausgangspunkt und wird dann zu einer Möglichkeit, über so viele andere Dinge zu sprechen. Vielleicht ist es so, dass man sich vorstellen darf, dass die queere Beziehung zur Geschichte es irgendwie erlaubt... beinahe eine Verantwortung, es zu vermasseln oder so. Die Verantwortung besteht darin, es nicht als wertvoll zu behandeln. Und gleichzeitig anzuerkennen, dass jede Form von historischer Perspektive riesig ist. Ich denke, dass wir diese geradlinige Geschichte nicht machen können, weil wir wissen, wie Geschichte betrieben wird. Also müssen wir unsere eigenen Handlungen und unsere eigenen Motive in dieser Art der Selbstreflexion hinterfragen. Man muss es vermasseln, weil es unmöglich ist, das nicht zu tun, weisst du. Ja. Ich habe jetzt gemerkt, dass es das ist, was mir gefehlt hat: Ich habe nichts, worauf ich mich beziehe, ich mache zum Beispiel keinen ihrer Tänze oder so, es wird einfach The Deathbed of Katherine Dunham sein und es ist ein Gespenst dieses Geistes, wirklich. Weil ich dort war und es auch meine Erfahrung ist. Ich sass wirklich einen Tag lang bei ihr, aber ich hatte keine Ahnung, wie besonders und wichtig diese Person in Relation zu mir war. Denn natürlich hätte ich sie gefragt: Hattest du eine Affäre mit Tatsumi Hijikata? Sie hätte mich wahrscheinlich rausgeschmissen, aber ich hätte sie eventuell gefragt. Trotzdem denke ich, das ist auch schön so. Ich denke, das Schöne ist, dass ich naiv war und nicht wusste, was ich vor mir hatte, und wenn ich vielleicht gewusst hätte, was ich vor mir hatte... Wer weiss?! Wir können nicht zurückgehen. Das spricht auch von der Losgelöstheit der Zeitlichkeit, denn es ist fast so, als würde man mit verschiedenen Zeitskalen arbeiten: das ist ihr Leben, deine Begegnung, deine gegenwärtige Imagination, du wirst diese tiefe Beziehung zu ihr erlebt haben, wenn du damit durch bist. Die Dinge sind in einer anderen Reihenfolge passiert, aber das macht sie nicht weniger dramatisch oder intensiv. Ja, ja, ja, ja, ja. Und du? Du machst jetzt im Herbst den Orpheus? Orpheus ist im Herbst, es sollte eigentlich im Januar dieses Jahres sein, wurde aber verschoben. Und Moby Dick ist der Film, an dem ich im Moment arbeite. Und verstehe ich das richtig, dass es dabei eine Live-Komponente gibt? Das heisst, die Musik wird live gespielt? Ja, also, im Grunde wird es ein Film sein, der im Pfauen projiziert wird und es wird ein Live-Orchester geben, das jede Show begleitet. Es ist also eine hybride Art von Live-Film-Erlebnis. Neben der Tatsache, dass ich wusste, ich wollte Moby Dick machen, war eine der Inspirationen dafür, dass ich eine filmische Adaption davon machen wollte, aber... Ich war vor ein paar Jahren in San Francisco und ich war auf einem Stummfilmfestival und ich sah das Phantom der Oper, den Original-Stummfilm mit dem Orchester; und ich war so inspiriert von dem Format. Es ist wirklich so anders als den Film anzugucken, einen normalen Film. Man spürt einfach die Energie der Musiker, sie trifft einen und prallt auf eine ganz andere Art und Weise an einem ab. Ja. Wie gross ist das Orchester? Wir arbeiten mit dem Zürcher Kammerorchester zusammen. Ich glaube, die haben maximal 23 oder 24 Streicher. Es kommen noch Instrumente dazu, aber es werden überwiegend Streicher sein. Und ich arbeite mit der Komponistin Caroline Shaw, die unglaublich ist. Was du sagtest über das Gefühl, dass das Schauspielhaus dir diese Erlaubnis gibt, etwas über das Nichts zu tun. Was für mich dazu gekommen ist, war eine Art langfristiges Spiel; was kann ich hier tun, was ich nirgendwo anders tun könnte? Und das war immer die Oper. Also, ich hoffe, dass ich das erreichen werde. Ich habe immer gesagt, dass ich eine Oper machen will, ich weiss noch nicht einmal, was das bedeutet. Ich weiss nur, dass ich von dieser Form besessen bin und vokalbasierte Performances liebe, also... Wir werden sehen. Wenn ich darüber nachdenke, was mich an der Oper interessiert, dann ist das wohl, dass sie mit dem Theater, dem Gesang, der Bewegung und all diesen Dingen alle Disziplinen einbezieht. Also, was ist das Opernhafte? Das ist eine Frage. Was gehört zum Opernhaften? Ich meine, ist es der Raum? Die traditionelle Konvention? Bestimmte Arten von Sängern, Stimmen, Sprachen? Ist es die Art der Musik, die die Oper vom Musical unterscheidet? Ist es nur eine Frage der Kultur und wie wir die Dinge in Bezug auf das Genre definieren? Oder ist es etwas Institutionelles? Ich denke, es ist wahrscheinlich eine Kombination aus all den Dingen, über die wir sprechen. Es ist sicherlich die Entscheidung, sich mit einem bestimmten Erbe und einer ziemlich alten Geschichte zu beschäftigen. Die erste, die man heute als moderne Oper bezeichnen würde, waren zwei Eurydike-Opern. Es ist interessant, wie eine Form eine Geburtsstunde oder einen Ursprungspunkt hat und wie das mit einer sozialen Geschichte, mit Imperien und Mäzenen verbunden ist. Naja, abgesehen davon, dass es ein Kindheitstraum ist, im Sinne von, du weisst schon, wenn du ein kleines Kind bist und versuchst, dir die grossartigste Sache vorzustellen, die du jemals tun könntest; für mich war das die Oper. Auf eine ziemlich unbedarfte Art und Weise erschien mir das die grossartigste Kunstform. Dann habe ich auch jahrelang Operngesang studiert und war sehr an Technik interessiert, zum Beispiel an der Belcanto-Technik. Ich bin mir sicher, dass es auch andere Gesangstraditionen gibt, die so etwas machen, aber besonders diese erschien mir sehr stark mit der Drag-Performance verbunden, weil es darum ging, mit dem Körper ein Gerüst für Luft zum atmen zu schaffen und Luft, um einen Klang zu erzeugen, bei dem man ein Kanal für etwas wird, eine Art ätherische Weiblichkeit. Und es ist einfach total gesättigt mit Intensität, finde ich. Für mich geht es auch um Intensität. Das Niveau an Drama, wie du schon sagtest. Du weisst schon, das Ausmass davon. Ich muss nur noch eine Sache in den Ofen schieben. Ich bin gleich wieder da. Kein Problem. Entschuldige, meine Liebe, ich habe das Gefühl, wir haben schon über vieles gesprochen. Wir sind fertig. Schön, Dich zu treffen.. Viel Spass mit Christopher. Grüss ihn von mir. OK, grüss alle von mir. Alles Liebe, bis bald! Tschüss! [14:54]

1 Moved by the Motion ist eine Gruppe, die unter anderem aus den Ensemblemitgliedern Tosh Basco, Josh Johnson, Asma Maroof sowie der Hausregisseurin Wu Tsang besteht.

2 Mode ist eine wichtige Inspiration für Harrell. In den meisten seiner Arbeiten spielen Haute Couture-Stücke als Kostüme eine große Rolle; auch die Gestaltung der Abende ist oft von Modenschauen inspiriert, vom Laufsteg, vom artifiziellen Gang der Models und ihrer Haltung.

3 Tatsumi Hijikata (1928-1986) war ein japanischer Choreograph und zusammen mit Kazuo Ōno Mitbegründer des Butoh.

4 Der japanische Ausdruckstanz Butoh (japanisch: «Tanz der Dunkelheit») entstand in den 1960er Jahren und strebt nach einem ursprünglichen und direkten Ausdruck des Menschlichen, das eng mit der Erde, dem Vergänglichen und dem Tod verbunden ist.