Directors Talk:
Nicolas Stemann
und Yana Ross

In der Reihe Directors Talk nehmen Sie unsere Hausregisseur*innen Alexander Giesche, Suna Gürler, Trajal Harrell, Yana Ross, Christopher Rüping, Nicolas Stemann, Wu Tsang sowie Co-Intendant Benjamin von Blomberg in acht Gesprächen mit in die Produktionen der Spielzeit 2021/22. Sie haben sich während des zweiten Lockdowns auf Zoom zum Austausch über das Hier, Jetzt und Morgen getroffen, immer zu zweit, einmal reihum. Die Gespräche sind Teil des Saisonvorschau, die die Spielzeit 2021/2022 vorstellt und ab sofort in all unseren Spielstätten ausliegt, sowie kostenlos online bestellt werden kann. 


erschienen am 25. August 2021

«Man muss es nicht verstehen, um es zu verstehen.»

[10:30] Yana Ross: Hallo! Nicolas Stemann: Hey, Yana! Wow, du siehst so entspannt aus! In welcher Phase befindest du dich gerade? Ich beschäftige mich mit wirklich vielen verschiedenen Forschungsfeldern. Ich beschäftige mich mit porn studies: das ist ein ziemlich neues Feld im akademischen Bereich und kommt aus den Queer und Feminist Studies. Das ist sehr interessant für mich: diese Art und Weise, Pornografie auch als ein Spiegelbild der Stimmung in der Gesellschaft, der Ängste und auch der Phantasien zu betrachten. Es ist eine Erfahrung der unteren Körperhälfte, die wir tendenziell unterdrücken. Weißt du, ich arbeite gerade an David Foster Wallace¹ und das war in den letzten zehn Jahren immer mein Traumprojekt. Ich habe versucht, es einigen Theatern anzubieten, zu denen ich gute Beziehungen habe; und sie hatten immer irgendwie entweder große Angst vor dem Thema der Sexualität, oder es hat aus anderen Gründen nicht funktioniert. Was ist es, dass dich so sehr an dieser Projektidee und an dem Buch reizt? Ich wage zu behaupten, dass man dieses Buch aus einem radikalfeministischen Blickwinkel lesen kann. Wallace gibt uns ein wirklich ekelhaftes, schreckliches Porträt toxischer Männlichkeit und er entscheidet sich dafür, die weibliche Partnerin als Leserin zu belassen, nicht als Figur. Alle Dialoge in diesem Buch finden zwischen einem Mann und einer Frau statt. Als ob er nicht nur über jemanden (und vor allem Frauen) spricht, sondern mit einer Frau - mit ihr. Und das spricht mich natürlich an, da ich mich mit dem Pronomen «sie» identifiziere. Und ich sehe die prophetische Natur seines Schreibens. Er hat das vor 20 Jahren geschrieben. Vor 20 Jahren! Schon damals hinterfragte er die Heteronormativität, schon damals wies er darauf hin, wie toxisch männliche Sexualität sein kann, wenn sie in eine patriarchalische Gesellschaft eingebettet ist. Und indem er das in einer so unglaublich hohen Literatur, aber auch in einer so niedrigen, widerlichen Körperlichkeit entlarvt, macht er sich unglaublich verletzlich. Sehr verletzlich als Schriftsteller und als Cis-Mann, das berührt mich immer. Was ist mit dir? Hast du einen Traumtext oder ein Traumprojekt? Das ist nicht so einfach zu beantworten, denn ich versuche immer zu vermeiden, an Dingen zu arbeiten, die mir nicht total wichtig sind. Aber natürlich habe ich eine Liste mit unvollendeten Plänen. Einer davon ist - und das schon seit mehreren Jahren - etwas zu machen, das auf der Bibel basiert; ein riesiges Projekt über die völlige Irrsinnigkeit, die wir in diesem Buch finden. Eine andere Idee ist, ein Projekt über die Geschichte des Pfauen zu machen, Die Pfauen-Saga, so etwas in der Art. Das ist so ein interessantes Thema für ein Theaterstück: voller Geschichten und Bezüge zur Gegenwart, die alle dieses Theater im Mittelpunkt haben. Auch ein Anlass, die Wirklichkeit über die Neutralität der Schweiz während der Nazizeit zu untersuchen. Schön! Ich bin neugierig, Nicolas: Ich habe mich gefragt, was die erste Aufführung war, die du in deinem Leben gesehen hast und die einen tiefen Eindruck auf dich gemacht hat. Gibt es etwas, an das du dich erinnerst, einen Moment, in dem du gespürt hast: Das ist Theater. Wenn du nach meiner ersten Begegnung mit dem Theater fragst, dann geht das auf meine Kindheitserinnerungen und auf das Kindertheater zurück - obwohl mich das natürlich nicht direkt zu diesem seltsamen Entschluss gebracht hat, Theaterregisseur zu werden. Ich glaube, es braucht mehrere Erfahrungen und Dinge, die man gesehen hat, um dahin zu kommen. Es begann mit Puppentheater. Als Kind war ich so beeindruckt von Puppentheater, dass ich irgendwann dachte, ich würde einmal ein Puppenspieler werden. Ich kreierte meine eigenen Puppen und habe das wirklich sehr geliebt. Ich liebte die Muppet Show und Jim Hensons Puppen und ich baute meine eigenen Puppen mit diesem «Klappmaul». Aber natürlich gibt es auch andere Einflüsse auf meine Arbeit als die Muppets. Trotzdem komme ich manchmal auf diese Referenz zurück, besonders bei meinen Jelinek-Produktionen. Puppen lieben es, Jelinek-Texte zu rezitieren. Wie ist das bei dir? Hast du eine Antwort auf diese Frage? Hast du Erinnerungen, auf die das Theater für dich zurückgeht? Ich musste einige Stücke wirklich begreifen, die mich unterbewusst beeinflusst haben und die immer wieder auftauchen. Irgendein Festival in Europa und ich erinnere mich an eine Inszenierung aus Italien. Ich hatte es irgendwo aufgeschrieben und fand es später in meinen frühen Teenage-Tagebüchern. Es war das Teatro Brescia und sie machten eine Heiner Müller-Inszenierung von Hamletmachine, die auf einer grossen Bühne gespielt wurde. Zu dieser Zeit hatte ich keine Ahnung, wer Heiner Müller war. Natürlich kannte ich Shakespeares Hamlet und ich versuchte, diese beiden, die auf der Bühne eigentlich keine direkte Beziehung hatten, zusammenzubringen. Aber ich konnte etwas spüren. Es war sehr visuell, sehr unzusammenhängend und irgendwie atemberaubend, wirklich aufregend, etwas zu sehen, das man nicht unbedingt wörtlich versteht oder das nicht wirklich eine Erzählung hat. Das ist deshalb so interessant, weil wir, wenn wir über junge Menschen als Zielgruppe nachdenken, auch darüber nachdenken, wie wir mit ihnen auf eine Art und Weise sprechen können, "die sie verstehen" - aber es gibt auch eine positive Art und Weise, jemanden zu überwältigen, oder? Total! Oder einfach zu konfrontieren. Es ist so wichtig, dass man Dinge sieht, die man nicht versteht, die man nicht verstehen kann. Und dass man Dinge liest und Kunst sieht und dass man ins Theater geht, um Stücke zu sehen, die explizit nicht dafür gedacht sind, verstanden zu werden. Genau. Und irgendwie sind diese Erfahrungen später so wichtig, denn sie prägen deine Art zu denken und Dinge zu mögen. Und zu verbinden. Ich glaube, wir neigen irgendwie dazu, zu viel zu rationalisieren oder übermässig zu analysieren. Denn was kann man schon verstehen von einer Avantgarde-Produktion wie Hamletmachine von Heiner Müller. Und auf Italienisch! Man muss es nicht verstehen, um es zu verstehen. Wenn du von diesen Dingen überrascht wirst, die du nicht verstehst, dann nutzt du die nächsten Jahre deines Lebens, um herauszufinden, was es war, das du nicht verstanden hast. Harter Schnitt: Was ist für dich das Schwierigste an dieser neuen Position der Intendanz? Schwer zu sagen, weil bisher alles so außergewöhnlich war. Ich denke, ich vermisse manchmal die Freiheit, einfach nur Regisseur zu sein und die Zeit, einfach nur als Künstler zu arbeiten. Andererseits wusste ich das schon vorher und bin deshalb nicht überrascht oder würde mich beschweren - plus: Ich bin so froh, dass ich damit nicht alleine bin, dass Benjamin mit mir hier ist - und ganz viele Leute auf allen Ebenen, die an Entscheidungen und der Gestaltung dieser Institution beteiligt sind. Wie du und die anderen Hausregisseur*innen. Ich denke, die Idee von zwei Intendanten sowie acht Hausregisseur*innen ist wirklich schön und fruchtbar. Die Idee des künstlerischen Teilens, der gemeinsamen Kraft des künstlerischen Impulses allein dadurch, dass acht Leute physisch im Haus anwesend und kreativ sind; wir erzeugen ein gewisses Magnetfeld. Wenn man in dieses Feld eintritt, wird man beeinflusst, ob man es will oder nicht, und ich finde das wirklich schön und stark. Ich bin froh, das zu hören. Ich finde es wirklich mutig, diese Idee zu verfolgen. Aber in diesem Rahmen werden wir natürlich von dem Coronavirus getroffen, weil wir das Gebäude nicht betreten können, zumindest nicht alle acht gleichzeitig. So wird diese Energie, dieses Magnetfeld, eher zu einem Meta-Konzept, dass wir natürlich trotzdem verbunden sind, obwohl wir es nicht sind; so wie unsere physische Energie, in den acht Räumen desselben Gebäudes zu produzieren, nicht immer da ist. Das ist in gewisser Weise schmerzhaft, dass wir das gemeinsam erleben, dass unsere Zeit am Schauspielhaus auch unter extremen Umständen stattfindet. Wir erleben eine globale Katastrophe, aber wir erleben sie gemeinsam und das ist, denke ich, eine Erfahrung, die wir auch für den Rest unseres Lebens in Erinnerung behalten werden. Wir alle erinnern uns daran, wo wir am 11. September waren. Und wir alle erinnern uns daran, wo wir am 16. März 2020 waren. Ganz genau. 16. März. Ich werde mich immer daran erinnern, wie wir vor dem Schauspielhaus in der Sonne sassen und nicht wussten, wie wir uns verabschieden sollten. Ob wir uns umarmen sollten, oder ob wir uns nicht mehr berühren dürfen. An diesen Moment werde ich mich immer erinnern. Also, es ist wirklich eine einzigartige Erfahrung, dass wir das zusammen durchmachen, auf verschiedenen Ebenen, auf dieser physischen und auch metaphysischen Ebene. Aber natürlich ist die Komplexität unserer künstlerischen Sehnsüchte nicht so einfach. Wir haben sehr unterschiedliche Theater-Sprachen, wir haben sehr unterschiedliche Hintergründe, wir recherchieren unterschiedliche Themen und wir alle haben Millionen von Standpunkten, Ansprüchen und Anforderungen, welche die künstlerische Arbeit verlangt. Und das macht die reguläre Arbeitsweise des Hauses zu einer echten Herausforderung. Ich unterhalte mich echt gerne mit dir. Hoffen wir, dass es eine Saison mit Publikum und mit Theater geben wird. Hoffen wir, Yana, dass alle unsere verschiedenen Projekte gezeigt werden. Ich erinnere mich, dass wir vor einem Jahr über unsere Projekte gesprochen haben, als es begründete und - wie wir inzwischen wissen - berechtigte Zweifel daran gab, dass eine normale Saison vor uns liegt und wir alle beschlossen haben, das zu ignorieren und gesagt haben: Lasst uns so tun, als ob es passiert, denn sonst machen wir gar nichts. Hoffen wir, dass es dieses Mal anders ist. Eine weitere Saison voller abgesagter oder verschobener Pläne wäre hart. Obwohl natürlich viele schöne Dinge passiert sind. Es hat sich gezeigt, dass wir alle ganz gut mit dem Unvorhergesehenen umgehen können. Lass uns hoffen und weiter sehen. Wir tun unser Bestes und hoffentlich sehen wir uns bald wieder. Das würde ich gerne. Tschüss, Yana! Bis bald! [11:46]

1 Die neue Produktion von Yana Ross basiert auf Texten von David Foster Wallace, vor allem auf Kurze Interviews mit fiesen Männern