Hirngespinstgeschwister –
eine Variation über eine Variation

Der Erfahrungsbericht zur Streaming-Premiere von Schwestern in der Inszenierung von Leonie Böhm


von Jürg Halter
erschienen am 21. April 2021

Im Schauspielhaus Zürich erscheint am 15. April 2021, Sekunden nach 20 Uhr, ein Mensch auf der Bühne. In den Zuschauerreihen sitzt niemand. Niemand ist der Mensch auf der Bühne. Seine drei Schwestern haben ihn zurückgelassen, dabei ist nicht mal klar, ob er ihr Bruder ist. Man weiss nicht, ob er selbst seine Haare schön trägt oder ob es ein aufgesetztes Skalp ist – das Skalp Tschechows? Wo blickt dieser Mensch hin? In den Westen oder in den Osten? Der Mensch da sagt nur: «Ich weiss nicht, wo wir heute wären, wenn es die Notdurft nicht gäbe.»

Von den 750 leeren Plätzen her brandet stiller Applaus auf. Mit einem Mal stellt man fest, dass man vor einem Bildschirm sitzt und sich einem der Sprechmensch (SM) direkt zuwendet: «Wie schön ihr seid!» Man fühlt sich geschmeichelt und schmiegt sich, die kühle Cola-Zero-Dose vor dem Rechner an die kalte Wange. «Früher war’s hier laut und lustig», erinnert sich SM und hinter ihm auf der Bühne erkennt man einen riesigen schwarzen Panther. SM, vermutlich ein männlicher Schauspieler, richtet sich an eine seiner abwesenden Schwestern, die er auch vor einem Bildschirm vermutet: «Ich will mich abarbeiten.» Will er sich an ihr, an sich selbst, an Tschechow oder dessen Drama «Drei Schwestern» abarbeiten? Leider gibt’s keine Chatfunktion, so kann man SM dazu nicht befragen. Schon entdeckt man auf der Bühnenseite einen Souffleur, schwarz gekleidet, mit Maske. «Ich bin hier und ihr seid da», liest der Souffleur im Stillen, während SM es laut ausspricht und seine Augen sagen: «Ich habe Sehnsucht nach echter Begegnung.»

Man fühlt sich überflüssig. Schon spricht es aus dem Bildschirm: «Fühle mich so überflüssig.» Man denkt: Was sich SM dort erspielt, ist das Überflüssigsein an und für sich. Man möchte sich, einsam wie man vor dem Bildschirm hadert, zu diesem Einsamen auf der Bühne gesellen. Eine echte Begegnung. Da entdeckt SM den Panther hinter sich und kanzelt diesen als ein «aus der Zeit gefallener Macho» ab. Wie kann man ein stummes, zu gross geratenes Kätzchen nur so vorverurteilen? «Mir scheint, dass wir uns immer weiter vom Wirklichen entfernen», behauptet SM nun und könnte damit nicht richtiger liegen.

Jetzt unterbricht der Stream für drei Sekunden, um einem mit «Worauf ich noch hoffen darf, ist völlig unklar» wieder willkommen zu heissen. Selbstverständlich spricht nicht der Stream, sondern aus ihm SM, der mittlerweile im seitlich geöffneten Panther Platz genommen hat und sich selbst Mut zuredet: «Ich glaube, ich wüsste mit der Abwesenheit meiner Schwester umzugehen.» Anscheinend hat er überhaupt keine Schwester, nur einen Panther und einen Souffleur. Man versteht: Das hier ist kein Drama, sondern eine Bromance. Aber das ist wohl überflüssig gedacht, denn SM verkündet: «Vielleicht existiere ich auch gar nicht.» In diesem Augenblick zerdrückt man die leere Cola-Zero-Dose und denkt: Durch diese Monologmulde musst du gehen.

Man fühlt sich zunehmend verloren und SM zeigt sich solidarisch mit einem: «Ich kann mich hier an nichts orientieren. Was ist das denn? Wofür?». So merkt man mit einem Mal, dass man möglicherweise selbst der schwarze Panther auf der Bühne ist und der Monolog von SM ein Tanz von Erschöpfung um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Daraufhin zieht sich SM seine schweren Schuhe aus, denn er weiss, «das macht was mit mir». Er wirft sich ein oranges Kleid über. Findet er jetzt, live vor unseren Augen, seine Bestimmung als Sektengründer?

Da erklingt ein Lied, das Panther-Lied, da erwacht der Panther und seine Augen funkeln einem aus der Dunkelheit willenlos entgegen, während SM sein Skalp tanzend von sich wirft und verkündet: «Ohne euch habe ich keine Ahnung, wer ich bin.» In der ersten Reihe vor der Bühne meint man nun Rilke und Beckett aufflackern zu sehen. Unvermittelt fühlt man sich wie ein teures Klavier, das zugeschlossen wurde oder wie eine Hirngespinstgeschwister. SM wirkt verlorener denn je: «Wer ist das jetzt?», «Was soll ich sagen?» «Lebt wohl.» «Man muss weitergehen, sonst bleibt alles, wie es ist.» «Kann ich gehen?» «Klar kann ich gehen.»

Geht’s zu Ende mit ihm? «Die Gegenwart ist widerlich», ruft er da und einem fällt die leere Cola-Zero-Dose aus der Hand. SM tröstet: «Morgen schon vielleicht, fängt für uns ein neues Leben an.»

Jetzt öffnet der Panther seinen Mund und SM steigt hinein, verschwindet darin, das Licht schwindet. Zum Schluss dieses dramatischen Zeugnisses der Haltlosigkeit gibt sich der Panther als Till Lindemann zu erkennen und beginnt zu singen: «Ohne dich kann ich nicht sein, ohne dich, mit dir bin ich auch allein, ohne dich, ohne dich zähl' ich die Stunden, ohne dich, mit dir stehen die Sekunden, lohnen nicht». Man erhebt sich vor dem Bildschirm und geht alleine auf der Suche nach sich selbst im Nichts: «Und das Atmen fällt mir ach so schwer, weh mir, oh weh, und die Vögel singen nicht mehr.»