Lehrer*innen im Theatergespräch:
Annette Aellig

von Elsa Horstkötter
erschienen am 23. Februar 2021

Annette Aellig

10. Klasse, Kantonsschule Wiedikon, Zürich

Fächer: Deutsch, Theater-AG

Unterrichtet seit: 2005

Traumberuf der Kindheit: Lehrerin

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Dezember 2020, mit der 10. Klasse der Kantonsschule Wiedikon bei Frühlings Erwachen im Schauspielhaus Zürich

Keine Chance zu tuscheln, weil zwischen jeder*m Schüler*in mehrere Theaterstühle sind, aber Matthias Neukirch als Vulva verkleidet auf der Bühne. Deutschlehrerin Annette Aellig liebt Theater für seine Unmittelbarkeit und für Emotionen, die unter die Haut gehen. In Frühlings Erwachen wird enttabuisiert, hemmungslos geredet, aufgeklärt. Klappt das mit einem Kichern hinter Masken und über 20 Jugendlichen, die seit Wochen keine Partytermine mehr haben? Und wie direkt und unter die Haut ging Annette Aellig einige Wochen später das Live-Streaming von Frühlings Erwachen?

Q: Welche Momente der Inszenierung sind Ihnen in Erinnerung geblieben?

A: Spontan zwei sehr konträre Sachen: Die Vulva natürlich (lacht), aber daneben auch die verhandelte Selbstmordproblematik. Vielleicht war es auch der Wechsel von den eher scherzhaft inszenierten Themen zu dem ernsten des Selbstmordes. Das war wahrscheinlich beabsichtigt, dieser harte Umschwung und das Thema Suizid konnte kaum ausgelassen werden mit Wedekind als Vorlage.

Q: Wollten Ihre Schüler*innen alle mit ins Theater?

A: Ich hatte ihnen am Anfang des Jahres bereits mitgeteilt, dass wir das Stück lesen und anschauen werden. Nachdem wir uns mit dem Stück beschäftigt und die Klasse sogar einen Interpretationsaufsatz dazu geschrieben hatte, war das Interesse auf jeden Fall gross. Den Schüler*innen hat das Stück sehr gut gefallen. Ich gestehe aber, dass ich ihnen zwei Lektionen am Tag darauf frei gegeben habe. Das ist üblich und nichts Verwerfliches, aber vielleicht für manche ein Zünglein an der Waage. Ich möchte dadurch erreichen, dass wir als Klasse geschlossen ins Theater gehen, nicht nur mit einer Auswahl. Kurz vor der Aufführung hiess es, dass wir wegen der Pandemie vielleicht doch nicht gehen können und das kam dann nicht gut an. Klar, die Schüler*innen sind momentan hungrig nach Veranstaltungen und alle haben gejubelt, als wir dann tatsächlich gehen konnten.

«Theater kann Schüler*innen intensiver bewegen und wirkt nachhaltiger als Netflix und Co.»

Q: Warum wollten Sie das Stück schauen gehen?

A: Für mich gehören das Lesen eines Stücks und das Sehen einer Inszenierung zusammen. Deshalb versuche ich immer mit Klassen ins Theater zu gehen und habe mich sehr über die angebotene Inszenierung gefreut. Ich hatte das Stück auch selber noch nie auf der Bühne gesehen, und habe ich auch bis heute nicht [lacht]. Es ist auch etwas ganz anderes, als einen Film zu schauen, denn wir sind live dabei und erfahren dargestellte Emotionen und Handlungen viel direkter. Diese Erfahrung finde ich sehr wichtig für Jugendliche. Ich war einmal mit meiner Klasse in einem Jugendtheaterstück in der Gessnerallee. Das war zu «Quatemberkinder» von Tim Krohn, eigentlich ein Roman. Da kommen die sogenannten Sennentunschis vor, so etwas wie Sexpuppen aus Stroh. Zu diesen hat sogar der Theaterpädagoge in einem vorangehenden Workshop Erklärungen abgegeben. Dennoch konnten einige kaum hinschauen, weil sie das so peinlich fanden. Und ich dachte mir: Ja, also kommt. In eurer Freizeit schaut ihr alles Mögliche und im Theater schaut ihr dann weg? Theater kann Schüler*innen intensiver bewegen und wirkt nachhaltiger als Netflix und Co.

Q: Wie waren die Reaktionen ihrer Schüler*innen auf Frühlings Erwachen?

A: Es haben sich alle sehr gut unterhalten gefühlt, trotz Abstand zueinander und nicht so viel Möglichkeit zu tuscheln. Ich denke, auch das Thema Sex und Aufklärung wurde auf der Bühne so locker und offen angegangen, dass niemand peinlich berührt war oder das Gefühl hatte, etwas lernen zu müssen. Wenn ich zurückdenke an meine Schulzeit, hätte sich doch niemand mit 16 Jahren im Unterricht getraut «Vulva» zu sagen. Heute ist es möglich, so dass ein offener Dialog mit der Klasse stattfinden konnte.

Q: Wie viel Theater vor Ort braucht Ihrer Meinung nach gerade ein Stück wie Frühlings Erwachen, in dem es darum geht, Tabus zu brechen und Nähe aufzubauen?

A: Ich konnte bei Frühlings Erwachen beides erleben: Das Live-Erlebnis und das Live-Stream-Erlebnis. Und ich finde wirklich, der Stream war super gemacht, aber es kommt längst nicht an das Theater vor Ort heran. Die Spieler*innen sprechen im Pfauen direkt mit dem Publikum und über den Laptop ist das so weit weg. Unser Live-Erlebnis war zwar auch nicht ganz repräsentativ für einen gewöhnlichen Theaterbesuch, da man mit maximal 50 Zuschauer*innen natürlich viel exklusiver dran ist. Da wurden wir richtig verwöhnt [lacht]. Es war von daher ein angenehmes Erlebnis im Pfauen: Erfrischend, enttabuisierend, lockernd - ich finde, es müsste wirklich jede*r dieses Stück sehen. Auch wer Wedekind nicht gelesen hat, verbringt mit Frühlings Erwachen einen sehr guten Abend. Ein Streaming würde ich nur schauen, wenn es eben nicht anders geht, obwohl es praktischer zu organisieren wäre. Wenn man um 10 Uhr morgens ein Stück schauen kann, ist das kaum Aufwand, aber eben auch kein Abenteuer.

Q: In der Schule ist Sex oft noch ein Tabu-Thema oder zielt schnell auf sexuelle Gesundheit ab. Warum ist das so?

A: Nun, die Schulbücher und der eigene Sprachgebrauch sind voll von binären Strukturen und veralteten Rollenbildern. Das ist richtig Arbeit, wenn man diese durchbrechen will. Ich denke aber, dass sich da schon einiges getan hat und sexuelle Aufklärung nicht mehr nur in der Biologie stattfindet, sondern auch in Workshops, in denen Sexualpädagog*innen die Schule besuchen und mit Schüler*innen über Liebe, Sex usw. reden – also nicht nur über sexuelle Gesundheit und die Gefahren, sondern auch über Lust und Frust in diesem Zusammenhang. Ich bin zufällig in der Gesundheitskommission der Schule und wir wollen auch im Zusammenhang mit Homosexualität einen speziellen Workshop anbieten – von GLL (Gleichgeschlechtliche Liebe leben), einer Organisation von Lesben, Schwulen und deren Angehörigen, die Schulbesuche machen.

Q: Inwiefern sind klassische Rollenbilder immer noch im Unterricht verankert?

A: Im Deutschunterricht haben wir es gut, denn wir können jedes Werk mit der heutigen Lebensrealität vergleichen und so auch kritisch hinterfragen und Entwicklungen aufzeigen. Manchmal wähle ich aber auch bewusst Werke aus, die z.B. die Rolle der Frau beleuchten wie z.B. letztens «Die Wand» von Marlen Haushofer. Darin wird die Isolation der meistens als Hausfrau und Mutter wirkenden Frau der 50er Jahre thematisiert. Themen wie Homosexualität oder gar Transgender sind in der Schulliteratur aber noch nicht so präsent, obwohl sie es auch sein sollten.

«Frühlings Erwachen klärt auf, ohne moralisch oder belehrend zu sein. Alle Jugendlichen, und deren Eltern und Lehrer*innen, sollten sich das Stück anschauen.»

Q: Unser Alltag ist immer noch geprägt von binärer Geschlechterdefinition. Wie lange dauert es wohl noch bis das dritte Geschlecht eine rechtlich anerkannte Zuordnung in der Schweiz ist?

A: Sie meinen, wie lange es dauert, bis es genderneutrale Toiletten gibt und eine sprachliche Anpassung wie z.B. xier und nin? Lange, mindestens zehn Jahre. Momentan ist erst einmal das generische Maskulin auf dem Rückzug, das hat auch Jahre gedauert. Das finde ich gut und dringend notwendig. Das dritte Geschlecht ist im Alltag noch zu wenig sichtbar. Und auf der anderen Seite gibt es leider ja auch immer noch die Ewig-Konservativen, die denken, Homosexuelle müsse man heilen - der Spagat ist einfach noch immens.

Q: Was ist Ihre bleibende Erinnerung vom Austausch zum Stück?

A: Die meisten fanden es gut, dass gar nicht das Stück «Frühlingserwachen» gezeigt wurde, sondern ein ganz anderes, eben Frühlings Erwachen. Einige waren aber enttäuscht, da es für sie dann eben keine Inszenierung des Stücks war, sondern ein neues Stück. Sie haben etwas anderes erwartet.


Was nehmen Sie aus Frühlings Erwachen für sich und Ihre Schüler*innen mit?

Der Theaterbesuch von Frühlings Erwachen war in mancher Hinsicht einzigartig: Wir machten die Hälfte des Publikums aus und fühlten uns so wie Auserwählte; der ganze Aufwand wurde exklusiv für uns betrieben, die Schauspieler*innen gaben ihr Bestes – nur für uns – Luxus! Die Schüler*innen durften teilweise ganz vorne auf den teuersten Plätzen sitzen, sonst sitzen Klassen hinten. Das Bühnenbild war simpel, aber effektiv. Alle Figuren waren auf der Treppe gleich sichtbar, als wäre die 3. Dimension aufgehoben. Eine Vereinfachung, die diverse Möglichkeiten an Bewegungen und Positionen eröffnete. Frühlings Erwachen hat uns zum Schmunzeln gebracht, aber auch zum Nachdenken angeregt. Es klärt auf, ohne moralisch oder belehrend zu sein. Alle Jugendlichen, deren Eltern und Lehrer*innen sollten sich das Stück anschauen. Es lässt sich auch stundenlang darüber diskutieren, wo Berührungspunkte zum Ausgangsstück von Wedekind sind. Fazit: Früher war definitiv nicht alles besser! Eher schlechter!


Evaluation des Schauspielhaus Zürich

Q: Welche Themen würden Sie gerne auf unseren Bühnen verhandelt sehen?

A: Rassismus ist sicher ein Thema, was die Jugend stark interessiert. Oder multikulturelles Theater. In meiner Wahrnehmung gibt es sehr häufig Stücke, die den Kanon bedienen, nicht? Vielleicht ist es auch schon eine gute Mischung aus sehr aktuellen Inhalten und Klassikern und ich ärger mich nur, dass mir die Frage gestellt wird und mir nach dem Gespräch sicher fünf Wunschthemen einfallen werden [lacht].

Q: Was wünschen Sie sich noch von uns?

A: Noch näher an die Leute kommen, vor allem an die Schüler*innen. Die wissen häufig wenig über Theater: Manche denken immer noch, man müsse sich besonders schick anziehen. Oder man darf nicht zu laut lachen. Oder denken es ist furchtbar teuer. Ich habe das Gefühl, hier könnte noch mehr Aufklärungsarbeit getan werden. Workshops und Einblicke etc. schätze ich persönlich sehr. Konkret wünsche ich mir hier, dass ihr zu uns in die Klasse kommt, denn für jede extra externe Stunde muss ich bei einer*m Kolleg*in nach einer zusätzlichen Stunde fragen. Workshops am Schauspielhaus bleiben aber auch grossartig, gerade weil sie vor Ort sind und man die ganze Aura mitnehmen kann. Toll wäre sicher, wenn einzelne Berufe in der Klasse vorgestellt werden könnten - wir hatten beispielsweise mal jemanden aus der Filmbranche da und das kam super an. [Wir regen an mal an einem Team-Tag vorbeizuschauen] Das wäre toll, ja. Vielleicht wäre da der Deutsch-Fachkreis eine gute Adresse. Wenn das möglich wäre, dass ihr dort mal vorbeikommt und direkt Fragen beantwortet - das wäre super.