Filmtipp von Trajal Harrell:
The Invisible Life of Euridice Gusmao von Karim Ainouz

erschienen am 18. Februar 2021

Noch sind die Theater zu. Aber die Theatermenschen sind da und suchen unterdessen woanders nach Geschichten und Augenblicken der Inspiration. Hausregisseur Trajal Harrell hatte im September 2020 eine Premiere. Genau in den wenigen Wochen, in denen das Schauspielhaus für ein kleines Publikum öffnen konnte, hat Harrell das The Köln Concert von Keith Jarrett auf die Bühne gebracht. Seitdem steht auch Harrell nicht mehr auf der Bühne. Um die Zeit des Wartens sinnvoll und in Schönheit zu gestalten, empfiehlt er heute einen Film, der ihn tief bewegt und beeinflusst hat: The Invisible Life of Euridice Gusmão des brasilianisch-algerischen Filmregisseurs Karim Aïnouz, der 2019 beim Filmfestival in Cannes den Preis in der Sektion Un Certain Regard gewonnen hat und die Geschichte von zwei Schwestern im Rio de Janeiro der 1950er Jahre erzählt, die gegen den Widerstand von Vätern, Ehemännern, Ärzten und anderen Männern ein gemeinsames Leben zu führen versuchen. Trajal Harrell, übersetzt und im Original, über den Film:

«Ich bin nicht sehr gut darin, die Kunst, die mich bewegt, zu analysieren. The Invisible Life of Euridice Gusmão von Karim Ainouz hat mich zerrüttet. Ich könnte über die Relevanz des Filmes für Themen in meiner eigenen Arbeit sprechen, oder über seine Theorien und Interessen, die auch mich beschäftigen: Die antike Tragödie, die Kraft des Soundtracks und oder das, was die Autorin Alice Walker als ‹die Suche nach den Gärten unserer Mütter› beschreibt. Um diese Themen vollständig zu erklären, bräuchte es viele Jahre und Kritiker*innen und Gelehrte, deren Wirken länger und Wissen tiefer als meines ist. Für den Moment bleibt mir nur das Gefühl der Zerrüttung. Ich muss meine eigene Menschlichkeit, meine Erinnerung und meinen Verstand Stück für Stück überdenken und wideraufbauen. Die grösste und aussergewöhnlichste Kunst, wie der Film von Karim Ainouz, stellt unsere Menschlichkeit durch nichts weniger als eine gütige aber gewaltvolle ästhetische Untersuchung in Frage.»

«I'm not very good at analyzing art that moves me. Karim Ainouz's The Invisible Life of Euridice Gusmão destroyed me. I could talk about its relevancies to themes and theories related to my own art and interests: ancient tragedy, the soundtrack as wonderment, and/or what writer Alice Walker refers to as ‹in search of our mother's gardens.› Those themes will require years and years for critics and scholars with space and eras longer than myself to fully explicate. For now, I am plainly left with this feeling of destruction. And I must rethink and rebuild my own humanity, step by step, memory and reason. The greatest and most exceptional of art like Mr. Ainouz's film puts our humanity precisely in question through nothing less than a benevolently violent aesthetic inquiry.»

Hier ist The Invisible Life of Euridice Gusmão von Karim Aïnouz zu sehen. Und da es noch eine Weile dauern wird, bis Sie wieder ins Theater gehen und The Köln Concert sehen können – gucken Sie sich ruhig auch die anderen Filme von Karim Aïnouz an!