Wer schreibt hier für wen?

Zum Auftakt der neuen Spielzeit des Schauspielhaus Zürich, und bevor das Onlinejournal sich füllt mit Inhalten zu den neuen Inszenierungen, richtet der Kunsthistoriker Jörg Scheller seinen Blick auf die Institution als Auftraggeberin. Genauer: er versucht zu beleuchten, was eine lebendige Kunstkritik leisten und welche Rolle ein Gefäss wie dieses darin spielen kann – und wo es an seine Grenzen stösst.


von Jörg Scheller
erschienen am 15. September 2020

In der Corporate Culture sollen Compliance-Abteilungen und Aufsichtsräte dafür sorgen, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Ihr Job ist es, einen kritischen Blick auf die Geschäfte zu werfen und unbequeme Fragen zu stellen. Hinzu kommen wachsende Investitionen in Magazine, Blogs, Social-Media-Aktivitäten, welche das gewünschte Bild in der Öffentlichkeit prägen sollen. Auch Kunst- und Kulturinstitutionen bauen vermehrt eigene Kommunikationskanäle auf, vermittels derer sie sich selbst den Spiegel vorhalten – mal nur werbend, mal mit (selbst)kritischem Anspruch in der Nachfolge der Kunstkritik. Da in den Kulturteilen etablierter Medien Kunstkritik nur mehr eine marginale Rolle spielt, ist letzteres verständlich. Aber was kann eine solche Form von Kritik leisten?

Es mag ein wenig martialisch wirken, diesen Essay mit einer Gegenüberstellung zweier Episoden aus der Kriegsberichterstattung zu beginnen. Doch mit dem, was man in der Philosophie einen «externen Vergleich» nennt, werden die Konturen des jeweils diskutierten "internen" Phänomens oft klarer.

Mit dem Vietnamkrieg (1955 – 1975) verbindet man landläufig die disruptive Kraft kritischer journalistischer Berichterstattung. Da sich Journalisten im Kriegsgebiet verhältnismässig frei bewegen konnten, gelangten trotz Zensur ungefilterte Aufnahmen des Krieges in all seiner Grausamkeit an die Öffentlichkeit. Diese trugen dazu bei, dass sich eine Gegenöffentlichkeit bildete, die für eine Beendigung der unter John F. Kennedy eskalierten Kriegshandlungen eintrat. Anders sah das im Irakkrieg (Dritter Golfkrieg) des Jahres 2003 aus.

Seit Vietnam hat das US-Militär umfängliche Kommunikationsstrategien entwickelt und ist zu einer Medienmacht avanciert. So wurde der «Embedded Journalist» zur symbolischen Figur des Irakkrieges. «Embeds» sind Journalisten mit offizieller Akkreditierung, die auch von vorderster Front berichten dürfen – idealerweise von dort, wo Bildmaterial anfällt, das der akkreditierenden Kriegspartei nützt. Zwar ging die damit verbundene Kontrollabsicht der amerikanischen Armeeführung nicht zur Gänze auf, da die «Embeds» via Internet ein Eigenleben entwickelten. Aber die Intention war klar: Bloss kein medialer Wildwuchs wie in Vietnam!

An diesem Punkt stellt sich eine nicht einfach zu beantwortende Frage: Was sind die Potenziale, was sind die Grenzen eines «Embedded Criticism» im Kunst- und Kultursektor? Potenziale, weil das alte Verständnis von Kunstkritik ein durchaus klischeehaftes ist: Hier der unmoralische Kommerz, da die moralische Kritik. Hier die korrupten Kapitalisten, dort die interesselosen Kommentatoren. Hier die Regierung der Institution, dort die Opposition der Presse. So einfach war es schon in Vietnam nicht – viele Journalisten waren Kriegskomplizen. Grenzen, weil wir alle wissen: Wes' Brot ich ess', des' Lied ich sing. Mal lauter, mal leiser. Mal mit mehr, mal mit weniger Zwischentönen. Und mitunter kommt ein Verzerrer dazu.

Die Potenziale eingebetteter Kritik liegen darin, dass das erwähnte klischeehafte Kritikverständnis durchkreuzt werden kann. Wenn Kritiker wie eine Compliance-Abteilung oder Peer-Reviewer vom jeweiligen System beauftragt werden, verkompliziert sich Kritik. In der Rolle des unbequemen Mahners am Spielfeldrand konnte man es sich gemütlich einrichten. Wenn man kein «Skin in the Game» hat, fällt Kritik leicht. Ein Wagnis aber ist es, die eigenen Auftraggeber zu kritisieren – im Gegensatz zu den «Embedded Journalists» im Irak ist man im Kunst- und Kulturbereich nicht auf ihre besondere Gunst angewiesen, was Zugang zu Orten und Ereignissen betrifft. Man sitzt im Publikum wie eh und je, man geht durchs Museum wie eh und je. Wie aber würden Sie, die Leser dieses Textes, folgende Fragen beantworten: Würden Sie gerne in einem Restaurant speisen, das zugleich Lebensmittelkontrolle ist? Würden Sie einem politischen System vertrauen, das nur aus einer Partei besteht? Würden Sie eine Herzoperation von einem Arzt durchführen lassen, der zugleich Risikomanager und Verwaltungsrat des Krankenhauses ist? Schon sind die Grenzen des «Embedded Criticism» in Sicht.

Über «Embedded Criticism» schwebt der Verdacht der Imagepolitur. Durch die aktive Einforderung von Kritik ist es möglich, sich mit geringem finanziellen Aufwand einen progressiven Anstrich zu geben und sich zugleich gegen Kritik von aussen zu immunisieren – vom Claqueur zum Critiqueur, wenn man so will. Sich avanciert gebende Werbung operiert mit dieser Strategie, wenn sie, wie beispielsweise im Fall von Digitec, negative Kundenbewertungen gross auf Plakate druckt. Was wäre, wenn Digitec das Schauspielhaus sponserte? Wäre auch der vorliegende Text eine willkommene Negativbewertung oder ginge er einen Schritt zu weit? Wie dem auch sei: Diese Form der Kritik auf Zuruf ist einer der Grundmechanismen des «progressiven Neoliberalismus» (Nancy Fraser) und überhaupt des Kapitalismus postmodern-liberaldemokratischer Prägung. In ihrem Buch Der neue Geist des Kapitalismus haben Luc Boltanksi und Ève Chiapello Kritik als einen «der wirkungsmächtigsten Motoren des Kapitalismus [beschrieben]… » Indem die Kritik ihn dazu zwingt, sich zu rechtfertigen, zwingt sie ihn zu einer Stärkung seiner Gerechtigkeitsstrukturen und zur Einbeziehung spezifischer Formen des Allgemeinwohls, in dessen Dienst er sich vorgeblich stellt." Überspitzt formuliert: Nur wer sich gegen Kritik wehrt, nimmt Kritik wirklich ernst – aber damit wären wir wieder beim klischeehaften überkommenen Kritikverständnis.

Allein, die Gefahr, dass es nach Greenwashing und Pinkwashing zum Kritikwashing kommen könnte, wiegt schwerer – was nicht heissen soll, dass zuvor ein goldenes Zeitalter der Kritik bestanden habe! Sondern ganz nüchtern: «Embedded Criticism» stellt allem klischeedurchkreuzenden Potenzial zum Trotz keine Alternative zu einer Kritik dar, die dem Prinzip von Gewaltenteilung, Checks & Balances verpflichtet ist. Embedded Criticism ist ein Komplement – ein durchaus wichtiges, da viele Verlage der Kunstkritik Lebewohl sagen, mit reisserischen Überschriften und dumpfen Leads Clickbait-Debatten inszenieren oder sich von Social-Media-Shitstorms Wind in die schlaffen Segel pusten lassen. Aber auf lange Sicht führt kein Weg daran vorbei, dass sich Kritik sowohl aus einem ethischen wie auch kommerziellen Interesse unabhängige Plattformen schafft.

Mit diesen Plattformen ist nicht die kitschige Vorstellung eines edlen «Aussens» gemeint – eines Aussens, von welchem man die Welt wahrnimmt wie vom fernen Planeten Sirius aus, um ein Bild aus Bruno Latours Buch Das Terrestrische Manifest zu bemühen. Ob in den Anfängen der westlichen Kunstkritik im 18. Jahrhundert oder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Kritik in den Feuilletons blühte – immer war Kritik in Interessenskonflikte, ökonomische Sachzwänge, asymmetrische Machtverhältnisse, Ideologien und nicht zuletzt Gewinnerwartungen eingebunden. Wie könnte es auch anders sein. Doch aus dem «So ist es nun mal» darf nicht ein «So soll es nun mal sein» folgen.

Ausgerechnet Latour, der in empathischen Worten die existenziellen Verstricktheiten allen menschlichen Lebens betont, fordert in seinem Manifest «kaltblütige Aufmerksamkeit» im Strudel der Ereignisse. Gerade in Zeiten künstlich emotionalisierter Debatten und spalterischer Kulturkämpfe gilt es, eine solche Aufmerksamkeit zu fördern, genauer: die Bedingungen ihrer Möglichkeit. Eine davon ist die systemische Trennung von Produktion und Rezeption – wie wollte man sich in einem Spiegel betrachten, wenn man selbst im Spiegel ist?

Eine weitere Bedingung ist ein Publikum, das Kritik wertschätzt, sie tatsächlich rezipiert und vor allem auch bereit ist, Geld dafür auszugeben. Während schnell einmal der Ruf nach Förderung von (Kunst)Kritik durch den Staat oder durch Institutionen laut wird, sind Appelle an die Verantwortung des Publikums seltener. Doch ohne ein Publikum, das von sich aus unabhängige Kritik einfordert, droht Kritik zu einem Brief ohne Empfänger zu werden. Auch drohen Institutionalisierung und Musealisierung in Abhängigkeit von Gremien, Stiftungen, Mäzenen, Regierungen. Manche sehen im Feuilleton kontinentaleuropäischer Prägung bereits eine Art UNESCO-Welterbe, das es unter Schutz zu stellen und staatlich zu alimentieren gilt. Im Gegensatz zu einem Maya-Tempel wird lebendige Kritik jedoch nicht durch Konservierung gesichert, sondern durch fortwährende Erneuerung, gespeist durch das Engagement aller Beteiligten der «Read-Write-Society» (Lawrence Lessig). Lebendige Kritik, überhaupt lebendige Kommunikation muss dem zivilgesellschaftlichen Willen nach einer Kritik erwachsen, die so «kaltblütig» wie möglich operiert.

Kritik ist nicht delegierbar, nicht institutionalisierbar, nicht kanonisierbar – siehe die müde «Institutionskritik», die heute an Hochschulen gelehrt wird wie Töpfern. Kunst- und Kulturinstitutionen können der Kunstkritik mit «Embedded Criticism» somit zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen. Doch das ist nur ein Katalysator. Echte Kritik entsteht im widerspenstigen Wildwuchs, in den Einlassungen jener Nicht-Eingeladenen, die genügend Energie mitbringen, um sich selbst ein Publikum zu schaffen – ein Publikum, das sein Interesse auch in Cash zum Ausdruck bringt, weil es weiss, dass ansonsten Andere ihre Interessen in Cash zum Ausdruck bringen.