Lockdown Theatre (5):
17 Tricks, um sich durch eine Welt zu bewegen, die ein bisschen fehlt

von Maxi Wallenhorst
erschienen am 15. Mai 2020

Die Welt vermissen, so peinlich. Fast alle vermissten hier die Welt. Wie an den meisten Orten im patriarchalen und rassistischen Kapitalismus? Es war wie: Wenn manche etwas über diese eine Stadt sagen, das für viele Städte gilt, aber als etwas, das gesagt wird, gehört es sehr in diese eine Stadt. Die Welt vermissen war so peinlich, besonders hier, wo es scheinbar okay weltförmigen Ersatz gab, wo sich zum Beispiel lange Spaziergänge mit geräumigen Zimmern überlappten. Peinlich besonders, weil ich die Welt auch an Orten vermisst hatte, wo das vermeintlich weniger Motiv war. Unter uns – in dem losen Zusammenhang, der gerade so ein «uns» fasste – gab es viele, deren Signature Move das schon länger gewesen war.

Manchmal sagten wir, wir vermissen die «Welt» und dann sagten wir die «Stadt» und dann «Dyke Night am Dienstag». Vermissen war zu ungenau. Vieles von dem, was unter Welt lief, war ja sogar eher mehr da. Die Auftragslage, wie gut oder schlecht auch immer sie war, hatte hier mehr Dringlichkeit. Es gab mehr mittelmässiges, veganes Schokoladeneis auf Mandelbasis. Wohnsituationen, wie auch immer sie waren, drückten die Menschen mit mehr Druck zusammen. Ich vermisste selbst Freundinnen, die ich jeden Tag sah oder noch nie gesehen hatte, weil ich vermisste, sie in der Welt zu sehen oder nicht zu sehen. Viele von uns vermissten genau die falschen Versprechen der Stadt (1): Dass die Nacht – formwandelnd von Queer Bar zu Angstzustand und zurück – am Ende doch gut ausgeht. Solidarität mit Fremden. Dass ein Snack den Weg von A nach B verkürzt.

Falsche Versprechen waren Voraussetzung für vieles. Wir sagten «Stadt» und meinten, wie wir uns durch Strassen bewegen, in denen Kapitalanlagen gebaut werden. Auch, wie wir in Betten oder Timelines hängen blieben, in schlecht bezahlten und unbezahlten Formen von Arbeit. Hier war die Fantasie, dass «Stadt» etwas sein könnte, in dem ein Viertel einfach so an ein anderes anschliesst, besonders Sci-Fi. Wir gingen zu Fuss durch genau diese Stadt, die nicht da war.

Vieles, das einem hier begegnete, zeigte Zeichen von Genre, aber es war nicht klar von welchem: Manchmal sahen wir die süssesten queeren Cowboys zum Flughafen eilen, völlig durchnässt, eine neue Theorie der Beziehung auf den Lippen. Wenn wir uns stritten, flossen Tränen wie im Anime, in einem stetigen Fluss. Alles war leicht verwischt von einer zarten Vergangenheitsform. Nachdem ich etwas Zeit hier verbracht hatte, hatte ich das Gefühl, ich wüsste, was hier passieren kann, nur ich wusste nicht, was. Ich erwartete dauernd, dass die fehlende Stadt etwas über sich preisgab, aber sie zog sich immer weiter in sich zusammen. Die Schichten von Genre-Konvention, und in den Schichten von Konventionen die Schichten von Erschöpfung und Langeweile, waren fast zu dick, um noch durchzukommen. Wie sich durch eine Welt bewegen, die mindestens ein bisschen fehlt? Selbst die zeitgenössischen Tänzerinnen unter uns verzweifelten daran. Nicht alle von uns waren zeitgenössische Tänzerinnen.

Neben dem Vermissen waren auch die Theorien cringey, mit denen einige versuchten, zu verstehen, was das alles, wie sie sagten, «bedeutete». Einige Freundinnen präsentierten eine Hypothese, die eher gelebt war: Wenn die Umgebung tatsächlich fehlt, kannst du dich durch sie bewegen, indem du eine Szene machst. Indem du zum Beispiel etwas sagst, was dir unter den Nägeln brennt, hast du zum Beispiel plötzlich Nägel an den Fingern, dann Fingernägel an den Händen, dann Hände in der Stadt. Genau zwischen Notwendigkeit und Bonus stellt die Szene eine Verbindung her zwischen verlorengegangen Objekten. (2) Wie eine Verbindung, die sich nicht lösen lässt, weil es keine ist, weil es vielmehr eine Sphäre ist, in der alles Nähe ist. (3)

Wir konnten uns nicht sicher sein, inwiefern das funktionierte? Wie macht man eine Szene, wenn alles drum herum schon zuviel ist? Wie, wenn man die Miete nicht zahlen kann? Wie mache ich eine Liebeserklärung in der Grössenordnung von Cheerleading, wenn ein Teil dieser Erklärung eine Erklärung an die Welt ist, die Welt aber nicht da ist? Wie beweine ich die, die ganz woanders sterben müssen (oder leben), wenn da auch alles zuviel ist? Wir versuchten sehr langsam zu sein. Um immer darauf achten zu können, wo die Szenen in ein Drama vorauseilen, in dem wir selbst nicht mehr vorkamen. Wir versuchten, Dystopie nicht als einen Kompass zu nutzen. Die allermeisten unserer Szenen waren nicht als Szenen erkennbar.

Ich vermisste, andere heiss zu finden. Ich vermisste, heiss zu sein. Obwohl ich besser darin wurde, mich selbst anzustarren wie eine andere, vermisste ich auch, angestarrt zu werden von anderen. In der grünen Linie mit mittelmässig aufgetragenem Lippenstift unterwegs zu einer Show in einer Bar, nur um zu früh wieder zu gehen. Das, was es mehr möglich machte, sich durch die Welt zu bewegen war an einigen Stellen in das gestopft, was es unmöglicher macht. An anderen Stellen war es brutal eindeutig: Selbst hier, wo die Blickachsen sich so verschoben, wurde natürlich weiter angestarrt. Schwestern und Genossinnen wurden angegriffen. In verschiedenen Graden von Deutlichkeit bestimmten Mietspiegel und rassistische Cops und etwas, das «Mobilität» genannt wurde, was das überhaupt für jemanden heissen kann, sich bewegen.

Wir vermissten auch etwas, das wir «Körper» nannten. Denn viele von uns hatten welche – in diesem verzwickten Sinn, der benannt werden muss. Benannte Körper, deren vermeintlich bestimmte Verzwicktheit von bestimmten Szenen abhing. Wir hatten in .pdfs gelesen, dass diese Abhängigkeit sehr weit ging und sie ging noch darüber hinaus: Manchmal – beim Versuch, die einzelne Träne einer extrem traurigen Szene sehr langsam mit dem Ärmel des Overalls abzuwischen – entdeckten wir, dass sich unsere Hände im Stil einer Weltraumoper auflösen. Als würde gerade die Wirkung eines quantenmechanischen Tricks verblassen, der die Hand ein bisschen funktionsfähig gemacht hatte. Deshalb checkten wir oft, ob unsere Hände noch da waren oder zumindest ihr Griff, ihre Möglichkeit, anderen Händen näher zu kommen.

Egal, wie langsam wir uns zu bewegen versuchten. Viele von uns entsprachen nicht der Idee von zeitgenössischen Tänzerinnen. Oder ausreichend guten Müttern. Oder witchy Butches. Auch oder vor allem auch die zeitgenössischen Tänzerinnen, ausreichend guten Müttern und witchy Butches entsprachen der Idee nicht. Wir hatten kein entspanntes Verhältnis zu dem, was sich uns entzog. Unsere Gesten waren nicht auf virtuose Art schludrig. Sie waren schludrig auf schludrige Art. Sie hatten ungefähr das Gegenteil von Hotness, Aura, Repräsentation. Sie waren matt und wurden zur Innenseite hin matter.

Weil die Gesten so schwer erkennbar waren, funktionierte die Verständigung in «den» Szenen, mit denen unsere Körper verschränkt waren, anders als an den meisten Orten, die wir kannten. Bestimmte Symbole in Hookup-Apps ergaben ganz andere Präferenzen. Es gab zwar auch in der fehlenden Welt vereinzelt Aftershowpartys, aber niemand konnte sehen, wer danach nicht miteinander redete oder rum macht. Manchmal fanden wir uns inmitten eines Nebeneffekts wieder, der als Strategie durchgehen konnte: Wir versicherten uns gegenseitig unserer Körper, indem wir uns bei Injektionen halfen, Formulare füreinander ausfüllten, Haferflocken kochten, nebeneinander masturbierten. Dann Verunsicherung, aber nicht als Gegenteil. Wir hofften, dass wir irgendwann wenn es Zeit war Körper zu sagen, wir stattdessen still werden könnten. Das wäre echte Kommunikation: Etwas, das du in deinem _____ begonnen hast, würde aufhören in meinem.

Eine Szene machen? In this economy?? Das sagten auch manche. Und vielleicht würde das woanders als «extra» beschrieben werden. Als etwas, das mit «Sichtbarkeit» zu tun hat. Vor allem war es so, dass die Tricks, mit denen manche hier es schafften, Körper zu haben, sich mit diesen Körpern zu bewegen, mehr als Tricks erkennbar waren. Wir waren im Guten wie im Schlechten normal.

Oder es würde als «Performance im öffentlichen Raum» beschrieben werden an Orten, an denen es öffentlichen Raum für genügend Menschen gibt, um so genannt werden zu können. Aber es ist vor allem umgekehrt: Manche der Dinge, an denen wir vorbeikommen, verbarrikadieren sich in unseren Bewegungen. Plus in der Trägheit, die sie umgibt. Wir empfanden diese Barrikaden als einfach nervig und/oder als einfach Fun und/oder als minimale Vorbereitung für einen Protest. Wir hatten Körper mit Barrikaden.

Manchmal überlegten wir natürlich, einige der Szenen ins Theater zu verlegen. Eine zeitgenössische Tänzerin berichtete uns dies: Das Gebäude gilt als verlassen, aber tatsächlich passiert mehr als in den meisten Theatern. Die Intendanz hat sich mit letzten Meinungen und Verbündeten auf einem Flur im zweiten Stock verbarrikadiert und plant weiter an 17 Premieren von Stücken eines Autoren namens Max Frisch. Die künstlerische Betriebsleitung hat an der Kasse ein Späti-Kollektiv aufgemacht. Bürokratie und Solidarität laufen gut. Mit einer Mischung aus Bestechung, Schmunzeln und Indoktrinierung haben einige andere zeitgenössischen Tänzerinnen die restlichen Förderstrukturen fest in der Hand: Gefördert werden vor allem lesbische Langgedichte, Sketch Comedy und sichere Nachhausewege. Techniches Personal und Werkstätten verdienen sich mit Leihgeschäften etwas dazu. Manchmal leihe ich mir eine Perücke aus, damit sie mir dann vom Kopf fliegen kann. Vor allem aber sitzen wie überall auf den Treppen vor dem Theater vereinzelt Teenager und machen eine Szene.

Ich vermisse meine Freundinnen.


(1) Ich vermisse die Stadt und ihre falschen Versprechen. Aus: Henrike Kohpeiss, Verheissung. Nähe und Bürokratie I

(2) ...die Szene hat kein Objekt oder büsst es jedenfalls sehr rasch ein: sie ist jene Sprache, deren Objekt verlorengegangen ist. Aus: Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe

(3) Seltsam, wie körperlich doch die Traurigkeit ist / Wie eine Verbindung, die sich nicht lösen lässt / weil es vielmehr eine Sphäre ist, die grösste aller Sphären ist, in der alles Nähe ist. Aus: Monika Rinck, schnauf

(4) I hoped to reach a point in speaking where when it was time to say «body» I could go silent instead. I’d pause and everyone in the room would sound the word within themselves. I’d go, «Every time you put a hole in the ______,» and demur. Lower my head like forty-watt bulb, look solemn. Or would say, «We all carry something in our ______» (it could also be plural), and the collective internal silent hum would overwhelm my senses. This would be real communication: something you started in your ______ would finish in mine. Aus: Renee Gladman, Calamities