Die Utopie zuerst –
dann die Tat!

erschienen am 04. Oktober 2019

«Und auf der Fassade tanzt ein Naegeli» titelte der Tages Anzeiger. Und genauso ist es: Seit Anfang September leuchtet über dem Schiffbaueingang in pinkem Neon eine Naegeli-Skulpur. Die Strichfigur ist ein Willkommensgeschenk des «Sprayers von Zürich» an die neue Intendanz.

Harald Naegeli erinnert sich, wie es dazu kam: «Es hat sich alles aus sich selbst entwickelt. Die Utopie zuerst – dann die Tat! Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann, die ich beide aus Düsseldorf kenne, waren von der Utopie ebenfalls begeistert und entwickelten mit dem Emblem am Schiffbau eine neue Tat, die wiederum zu neuen Taten, oder wenigstens zu neuen Gedanken inspiriert.»

Vielleicht gehört es zur Geschichte von Naegeli und Zürich, dass dem Schauspielhaus deswegen bereits mehrere Reklamationen vorliegen – dieses Zeichen sei aus dem letzten Jahrhundert und passe nicht zu aktueller Theaterkultur.

Wir finden schon. Und unsere beiden Archivaren fühlten sich dadurch bereits inspiriert, die Beziehung des Hauses zu Harald Naegeli zu untersuchen. Eine kurze Recherche in den Stadtarchivbeständen ergab einen Eintrag: «Allgemeine Korrespondenz der künstlerischen Direktion 1982–1984, alphabetisch geordnet, Erklärung der Künstler gegen die Auslieferung des ‘Zürcher Sprayers’ Harald Naegeli».

Zum Hintergrund: In seiner Mission «die Städte menschlicher zu machen» sprayte Naegeli in den 1970er Jahren unermüdlich Strichfiguren auf Zürichs Beton – sehr zur Empörung der Anwohner*innen, die sich in Leser*innenbriefen und mit Anzeigen beschwerten. Naegeli entzog sich einem Verfahren und flüchtete nach Deutschland. Die Situation spitze sich zu, bis er 1983 wegen wiederholter Sachbeschädigung international mit Haftbefehl gesucht und am 27. August in Deutschland verhaftet wurde. Künstler*innen und Persönlichkeiten wie Joseph Beuys, Willi Brandt, Adolf Muschg oder Friedrich Dürrenmatt setzen sich für seine Freilassung ein. Und auch diverse Kultur-Institutionen, darunter das Schauspielhaus Zürich. Der damalige Schauspielhausintendant Gerd Heinz unterschrieb eine solidarische Erklärung, welche die Überzeugung ausdrückte «dass Harald Naegelis Graffittis einen beträchtlichen Kunstwert haben, was von den Behörden bei seiner ausserordentlich strengen Verurteilung nicht verstanden worden sei.» Und weiter: «In der europäischen künstlerischen Öffentlichkeit gilt Harald Naegeli heute als Träger einer ungewöhnlichen und neuartigen Kunst.» Doch auch dieser öffentliche Druck nützte nichts. Naegeli musste seine Haftstrafe absitzen.

Aus heutiger Perspektive zeigt diese Solidaritätsaktion vor allem, wie weit Naegeli seiner Zeit voraus war und wie lange es gedauert hat, dass seine Kunst und «Streetart» allgemein als Kunst akzeptiert wurde.

Die kleine Recherche ist an dieser Stelle nicht zu Ende, denn dank einer Schweizer Streetart-Website hat unser Archivar ausserdem herausgefunden, dass es im Innenhof des Pfauen auch ein Naegeli-Graffitto geben soll. Und tatsächlich: auf der Rückseite des Bühnengebäudes haben wir es gefunden.

Naegeli selbst erinnert sich: «Der Läufer mit dem Stab rennt seit Jahren in diesem Innenhof. Und es scheint, als hätte er jemanden inspiriert, ihn mit schwarzer Farbe zu bespritzen, was wiederum eine neue Bewegung aufzeigt.»